Die Entscheidung der Muslimbruderschaft – der ältesten islamistischen Bewegung der Welt – einen eigenen Kandidaten für die Präsidentenwahl zu benennen, erschüttert Ägyptens stürmische postrevolutionäre Landschaft. Chairat al-Schater (61), ein Finanzier der Organisation, wird durch das überraschende Manöver ins Rampenlicht katapultiert. Manche sehen darin eine panische Antwort auf das Taktieren der Generäle, die Hosni Mubarak 2011 abgesetzt haben, aber nach wie vor das Land regieren.
Gerüchte, dass Geheimdienstchef Omar Suleiman antreten werde, hatten Spekulationen über eine Konfrontation vor dem ersten Wahlgang am 23. Mai angeheizt. Doch am Wochenende endete die Frist für eine Kandidatur, ohne dass der General etwas von sich hören ließ.
Allein die Größe Ägyptens und sein Einfluss in der arabischen Welt machen das Votum zu einem Schlüsselereignis. Es wird in seiner Tragweite die tunesischen Wahlen vom Oktober 2011, die den einst verbotenen Islamisten einen überwältigenden Sieg bescherten, klar übertreffen. Ägyptens Muslimbrüder hatten noch Ende März beteuert, keinen eigenen Bewerber aufzustellen. Offenbar wollten sie weder ihre Gegner verschrecken noch zu viel Verantwortung übernehmen. Es hieß, wenn schon, dann suche die Bruderschaft nach einer unabhängigen Persönlichkeit. Niemand müsse befürchten, sie wolle die Macht monopolisieren. Die Muslimbrüder dominieren bereits das Parlament und die Verfassungskommission. Fiele ihnen das höchste Staatsamt zu, würden sie bald allein dem Militär gegenüberstehen und mitzuentscheiden haben, was in Ägyptens Politik und Gesellschaft geschieht.
Eine Falle der Militärs
Schon gibt es Stimmen wie aus der Liberalen Partei der Freien Ägypter, die Brüder wollten Mubarak nacheifern und eine Ein-Parteien-Diktatur errichten. Einige Ägypter glauben zu wissen, wenn es nun doch einen eigenen Präsidentschaftskandidaten gäbe, zeuge das von einem massiv verschlechterten Verhältnis zum Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF). Der hatte sich taub gestellt, als die Muslimbrüder verlangten, die Generäle sollten das Zivilkabinett entlassen, weil es nichts zustande bringe.
Andere argwöhnen, al-Schaters Antritt solle verschleiern, was als strategischer Pakt zwischen Armee und Muslimbruderschaft in der Luft liegt. Genauso gut scheint denkbar, dass al-Schater dazu da ist, Hasem Abu Ismail, den populären Kandidaten der ultrakonservativen Salafisten, zu besiegen, dessen Radikalität besonders die koptischen Christen beunruhigt. Nicht zu vergessen: Mit Abu al-Futuh, einem abtrünnigen Mitglied der Bruderschaft, steht ein dritter Islamist zur Wahl. So entsteht eine Phalanx, die dem säkularen Kandidaten Amr Mussa, früher Generalsekretär der Arabischen Liga, kaum Chancen lässt.
Al-Schater – einst Ingenieur, heute millionenschwerer Geschäftsmann – saß unter Mubarak jahrelang im Gefängnis. Als Wahlkämpfer fehlt es ihm an Erfahrung. Auch deshalb lehnen ihn jüngere, reformfreudige Mitglieder der Bruderschaft ab, die allerdings noch mehr stört, dass die Glaubwürdigkeit ihrer Organisation wegen der Kehrtwende in Sachen Kandidatur leidet.
Wenn die Wähler zwischen drei islamistischen Politikern entscheiden müssen, sei das katastrophal, meint der Beobachter Said Shehata. „Die Bruderschaft ist den Militärs in die Falle gegangen.“
Bisher zeigen sich westliche Regierungen, die Hosni Mubarak bis zum bitteren Ende beistanden, wenig beeindruckt von der neuen islamistischen Dominanz in der ägyptischen Politik. Als US-Außenministerin Hillary Clinton zu al-Schaters Nominierung befragt wurde, antwortete sie wohl überlegt: „Wir hoffen, dass das ägyptische Volk bekommt, wofür es auf dem Tahrir-Platz protestiert hat – eine vollständig offene und pluralistische Demokratie, welche die Rechte aller Ägypter respektiert.“
Ian Black ist Kolumnist des Guardian