Die säkulare Hälfte der ägyptischen Bevölkerung wie die beträchtliche christliche Minderheit wappnen sich für das erste islamische Parlament in der Geschichte des Landes. Viele Ägypter setzen ihre Hoffnung paradoxerweise auf jene Institution, die für das Demokratiedefizit in Ägypten weitgehend verantwortlich ist – die Armee. Sie glauben, dass nur die Soldaten die islamistische Dampfwalze aufhalten oder zumindest ihr Vorankommen verlangsamen können. Niemand weiß mit Sicherheit, wie sich eine solche Patt-Situation – wenn es denn überhaupt dazu kommen sollte – entwickelt. Optimisten schließen ein Blutbad (wie 1990 in Algerien, als das Militär die Parlamentswahlen abbrach, weil die Islamische Heilsfront zu
zu gewinnen drohte) aus. Andere prophezeien ein Szenario à la Pakistan, das Auftauchen eines zum Islamismus tendierenden Offiziers wie des späteren Präsidenten Zia-ul-Haq, der sowohl für die Armee als auch die Islamisten akzeptabel ist. Oder eine Wiederholung jüngerer ägyptischer Geschichte, in der das Militär 1954 unter einem Vorwand alle politischen Parteien verbot.Spätestens Mitte Januar, wenn die endgültigen Wahlergebnisse vorliegen, dürften wir mehr wissen. Bislang haben die Islamisten in den ersten Wahlphasen zwei Drittel der Stimmen erhalten und werden dieses Ergebnis voraussichtlich in der dritten Phase konsolidieren. Spekulationen und Ängste einmal ausgeblendet – dieser islamistische Erdrutsch sollte Beobachter der Geschichte Ägyptens eigentlich nicht überraschen. Seit dem Militärcoup, bei dem 1952 die Monarchie fiel, wehte in diesem Land nicht wie zuvor eine mediterrane Brise, sondern ein heißer Schirokko von der Arabischen Halbinsel.Nassers Eintopf Ägyptens Zwangsehe mit dem Westen kam 1956 mit dem Angriff Großbritanniens, Frankreichs und Israels während der Suezkrise zu einem dramatischen und blutigen Ende. Die liberalen Werte, die im politischen System Ägyptens eingeschrieben, und dem Westen entliehen waren, wichen in Oberst Nassers ideologischem Eintopf einem Totalitarismus, der als schriller, mit einem Schuss Sozialismus und Islam versetzter Nationalismus daherkam.Zugespitzt formuliert, war der ehemalige Muslimbruder Nasser kein streng säkularer Offizier wie Kemal Attatürk, der die moderne Türkei gründete. Die Re-Islamisierung Ägyptens fand weitgehend unter diesem Präsidenten statt. Gamal Abdel Nasser überwarf sich schließlich mit den Muslimbrüdern und warf deren Anführer ins Gefängnis. Der Bruch war allerdings eher politischer als ideologischer Natur. Man bedenke nur, wohin Nasser 1956 während des Suez-Krieges ging, um die Massen hinter sich zu bringen. Nicht auf einen öffentlichen Platz, sondern auf die Kanzel der Al-Azhar-Moschee. In einer leidenschaftlichen Rede, in der er reichlich aus dem Koran zitierte, erinnerte er die Gläubigen daran, dass der Kampf islamische – nicht etwa zuerst nationalistische – Pflicht sei. Diese Vermengung von Nationalismus und Islamismus charakterisierte Nasser und machte ihn populär. Auch wenn er später seine Version des „arabischen Sozialismus“ einführte, zogen seine Ideologen die islamische Geschichte heran, um einer Ideologie religiöse Legitimität zu verleihen, die dafür bekannt ist, dass sie auf die Religion als Opium des Volkes betrachtet.Während Nassers Regierungszeit wuchs der Einfluss der Al-Azhar-Universität – und damit der Religion – auf die Gesellschaft erheblich. Die Lehranstalt wurde von einer zunächst rein klerikalen Schule zu einer bedeutenden Universität mit Ablegern im ganzen Land. Sie durfte sich außerdem ins Primar- und Sekundarschulwesen ausdehnen und errichtete ein landesweites Netzwerk von Schulen. Keine davon steht für die ägyptischen Kopten offen, auch wenn diese mit ihren Steuern zur Finanzierung beitragen.Nicht zu unterschätzen Die Al-Ahzar mag gemessen an den puritanischen Standards des saudischen religiösen Establishments gemäßigt sein – sie ist aber gewiss keine liberale Einrichtung, die sich für eine Trennung von Religion und Staat ausspricht. Ein anderes, außerhalb Ägyptens wenig bekanntes Beispiel ist der Koran-Radiosender. Der erste ausschließlich religiöse Radiosender der Region ging 1963 – zu Hochzeiten der Macht und Beliebtheit Nassers – auf Sendung. Mit einer Mischung aus Koran-Rezitation und Predigt ist er vom berühmten Motto der Muslimbrüder nicht zu trennen, wonach der Islam die Lösung darstellt.Warum sollte ein angeblich säkularer Staat einen solchen Kanal finanzieren? Die Antwort ist simpel: Weil er nie säkular war. Hört oder sieht man in Ägypten religiöse Programme im staatlichen Radio oder Fernsehen, lässt sich der Unterschied zwischen Muslimbrüdern und dem Staat bisweilen nur schwer erkennen.Nassers Nachfolger mögen sich auf unterschiedliche Weise von ihrem Vorgänger unterschieden haben – die Rolle der Religion im öffentlichen Leben haben sie nie ernsthaft in Frage gestellt. Sadat bediente sich des Islam, um den Einfluss seiner linken Rivalen zu untergraben, Mubarak hielt die apolitischen Salafisten an, den Aktivismus der Muslim-Brüder zu unterhöhlen. Nun wird der politische Arm der Salafisten – die Nour-Partei – nach den Muslim-Brüdern als zweitstärkste Partei ins Parlament einziehen. Der Hauptunterschied zwischen den ägyptischen Militärherrschern und ihren islamistischen Rivalen besteht darin, dass Letztere beständiger waren und geschickter die Religion benutzten, um ihre politischen Ambitionen zu verfolgen.Vollkommen düster sind die Aussichten für die säkulare Hälfte Ägyptens indes nicht. Immerhin lassen die Zahlen über die Wahlbeteiligung darauf schließen, dass 50 Prozent der Wähler zuhause geblieben sind. Von nicht geringerem Wert ist, dass die Revolution einen neuen und dynamischen Akteur auf die Bühne befördert hat: Die rebellierende Jugend – die immens große jugendliche Bevölkerung Ägyptens – ohne die die Revolution möglicherweise niemals stattgefunden hätte. Sie haben – ermächtigt durch Bildung und moderne Technologie – immer wieder bewiesen, dass sie das Blatt gegen die Gerontokratie wenden können, die in Ägypten so lange geherrscht hat. Und auch die jungen Islamisten befinden sich im Konflikt mit ihrer sklerotischen Führerschaft. Die Jungen waren es, die jüngst den Protest gegen die herrschenden Militärrat angeführt, die Brutalität der Soldaten offenbart und erhebliche Zugeständnisse erzwungen haben. Sie setzen ihren Kampf nun verstärkt fort und verlegen den Protest aus dem Zentrum Kairos in die Vororte. Die Jugend macht über die Hälfte der 80 Millionen Ägypter aus. Ihr Überraschungspotenzial sollte nicht unterschätzt werden.