Ausgabe August 2013

Amerika – Ein Land im Abendlicht

Der niederländische Publizist Geert Mak fuhr am 50. Jahrestag der Reise John Steinbecks auf der dadurch klassisch gewordenen Route quer durch die Vereinigten Staaten – Amerika nicht nur mit der Seele suchend, sondern auch mit dem Verstand. Bereits sein viel gelesenes „In Europa – Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“ war inspiriert von John Steinbecks „Die Reise mit Charley. Auf der Suche nach Amerika“. Der Autor des die Epoche der großen Depression symbolisierenden Meisterwerks „Früchte des Zorns“ fürchtete im Jahre 1960, 58jährig, den Kontakt zu den einfachen Menschen zu verlieren, aus deren komplizierten Problemen er für seine Welterfolge schöpfte. Den Veränderungen in den gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen seines Landes wollte Steinbeck nachspüren.

Auf seiner Reise stilisierte sich John Steinbeck zum modernen Don Quichote, der sich mit einem Wohnmobil, das er nach dem Pferd des Ritters von der traurigen Gestalt Rosinante nannte, und seinem Pudel Charley auf den Weg machte. Zuerst fuhr er von seinem Wohnort bei New York in Richtung Norden nach Maine, dann durchquerte er das weite Land über die Niagarafälle, Detroit, Chicago bis nach Seattle, weiter ging es in den Süden in seine kalifornische Geburtsgegend, schließlich schräg durch die Vereinigten Staaten nach New Mexico, Texas bis in die unamerikanischste Stadt der Großmacht: New Orleans.

Doch während John Steinbeck sich als einsamer harter Kerl, der sich Menschen und Wetter aussetzt, literarisierte – und die Treffen mit seiner Frau Elaine im Laufe der wochenlangen Reise verschwieg –, erwähnt Geert Mak durchaus, dass seine Frau ihn auf der langen Fahrt begleitete. Weniger Poesie, mehr Inhalt – das ist der gravierende Unterschied der von nun an korrespondierenden Bücher. Ein Klassiker und ein Klassiker in spe.

Jeder europäische Amerikareisende – von Alexis de Tocqueville bis eben zu Geert Mak – vergleicht den alten Kontinent mit der neuen Welt, ist doch das Land der gewünschten unbegrenzten Möglichkeiten in Abgrenzung zu den damals dynastisch und ständisch geprägten europäischen Kolonialmächten entstanden. Im Gegensatz zum benachbarten Kanada, das britische Kronkolonie blieb, lösten sich die USA vom alten Kontinent. Dieser habe
zu viel Geschichte und zu wenig Geographie, zitiert Mak den Historiker Boorstin, Amerika dagegen eher wenig Geschichte, aber einen Überfluss an Geographie.

Interessant auch, was John Steinbeck bereits 1960 beobachtete und das wir heute als geschichtsträchtig ansehen: Während seiner Reise tobte der Wahlkampf zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon, der erste, den auch ein Fernsehduell entschied. Beide Kandidaten sind die ersten in einer langen Reihe „vorgefertigter Politiker“ ohne Werte, also auch ohne Geschichts-
bewusstsein. Der scharfsinnige Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. sagt uns durch Geert Mak: „Das Produkt, das Kennedy verkaufen will, ist sein Programm, das Produkt, das Nixon zu verkaufen versucht, ist er selbst.“

Die Schluchten des Alltags

Aber nicht nur auf den Höhen des Geistes und der Macht, sondern auch in den Schluchten des Alltags erblickt Geert Mak ein Land im Abendlicht: In Phoenix erkennt er an den zittrigen, faltigen Händen der Verkäuferin, dass diese auf die 80 zugeht. Bei Gesprächen in Diners hört er besorgte Eltern klagen, dass es ihren Kindern nicht besser gehen werde als ihnen, sondern schlechter: „Der Niedergang der kleinen und mittelständischen Betriebe, dessen Anzeichen schon Steinbeck wahrnahm, hat sich fortgesetzt.“

Bei allem epischen Fluss der Erzählung findet man erhellende Details bis hin in die abstrakte Welt der Statistik. Nicht Ronald Reagan begann mit dem neoliberalen Umsturz, sondern der ach so demokratische Jimmy Carter: Er senkte 1978 den Spitzensatz der Einkommensteuer von 48 auf 28 Prozent. Damit begann eine neue Spaltung der Gesellschaft, eine Umverteilung des Nationaleinkommens. Der Anteil, der bei den Superreichen landete, stieg von 10 auf 25 Prozent. Die Konservativen setzten nur fort, was andere begonnen hatten. Die Zahl der Schulen für ärmere Schichten sank, während die der Gefängnisse drastisch stieg. Man gerät dabei, so Geert Mak, „durchaus in die Nähe einer Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, von der sich die amerikanischen Revolutionäre mühsam befreit hatten.“

In der ehemaligen Boomtown und Autometropole Detroit mehren sich Ruinen, manche sehen in ihnen künftige Besuchermagneten, vergleichbar denen der antiken Stätten von Rom bis Ephesos. In den noch belebten Vierteln ballen sich soziale und ökonomische Probleme: „Massenemigration, eine schrumpfende Wirtschaft, Globalisierung; und dazu gesellt sich der Zerfall der alten sozialen Strukturen wie Familie und Nachbarschaft.“

Nicht mehr die Autoindustrie, sondern die Wall Street symbolisiert das neue Amerika. Treffend kommentiert Geert Mak: „Wie in Russland der Inlandsgeheimdienst FSB das Personal für Spitzenpersonen im Staatsapparat liefert, so liefert in den Vereinigten Staaten immer wieder Goldman Sachs die Schlüsselfiguren, die über die Ausrichtung der Finanzpolitik bestimmen.“

Das geht einher mit einer Medienentwicklung, die polarisiert: So wie es noch immer Eliteuniversitäten wie Berkeley gibt, existieren auch noch Weltblätter wie die „New York Times“, Filme und Serien („The Wire“), die Maßstäbe setzen. Doch allein beherrschend für das weite Land sind nach Geert Mak Hetzsender wie Fox, die das Publikum Tag für Tag mit „Faktoiden“ (Norman Mailer), fabrizierten Wahrheiten, überschütten, „ob das die angebliche Mordlust der Muslime ist, die Geburtsurkunde des Präsidenten, die ‚Massenvernichtungswaffen‘ des Irak oder der in Europa herrschende ‚Sozialismus‘“.

Dass die USA immer noch eines der reichsten Länder der Welt sind, zeigt ihre militärische Präsenz: Weltweit agieren sie von ungefähr 1000 Militärbasen in rund 120 Ländern. Anders als im Römischen Reich oder dem Britischen Empire geht es ihnen aber „nie um Beziehungen, die endlos währen können“. Kühl weist Geert Mak auch das Geschwätz von Robert Kagan und anderen Neokonservativen zurück, die Amerikaner kämen vom Mars, die Europäer von der Venus: „Allein im Ersten Weltkrieg starben auf französischer Seite 1,3 Millionen Soldaten – die Anzahl der amerikanischen Soldaten, die in allen Kriegen des Landes – mit Ausnahme des Sezessionskriegs – von 1776 bis heute gefallen sind, ist nicht halb so hoch.“

Die Weltmacht Amerika ist ohne Europa nicht denkbar, aber auch nicht ohne die allmähliche Loslösung vom alten Kontinent, erst durch die Gründungsrevolution, dann durch den allmählichen Weg vorrangig europäischer Emigranten gen Westen, bis man in Kalifornien an den Ufern des Pazifik stand. Nun nimmt der Anteil von Bürgern mit europäischen Wurzeln drastisch ab und der mit lateinamerikanischer oder asiatischer Abstammung zu.

Aber die gegenwärtige Abwendung der USA infolge der Globalisierung bringt Europa und Amerika auf neue Weise zusammen, denn die Diskussionen ähneln sich, hier wie dort: „Warum müssen wir in Minnesota für die Misswirtschaft in Kalifornien mitbezahlen? Wie lange müssen wir noch den Wasserdiebstahl der Kalifornier dulden, die ihre Fühler jetzt sogar schon nach den Großen Seen ausstrecken?“ Warum müssen wir in Bayern für die Schulden Berlins zahlen, könnte man ergänzen.

Die Veränderung der weltpolitischen Kräfteverhältnisse geht einher mit einem Widerspruch innerhalb der Unterschichten – dem zwischen den „eigenen Interessen und politischer Einstellung“. Verunsichert vom Wandel, vertrauten viele einem reich geborenen, sich gemein machenden George W. Bush, der anscheinend ihre Werte vertrat, aber ihre Möglichkeiten drastisch einschränkte.

Freilich, Amerikaner erfanden mit Google, Apple, Amazon und Facebook bestimmende Produkte des frühen 21. Jahrhunderts. Aber sie verharren„in vielen lebenswichtigen Bereichen, vor allem was den Energiesektor, den Umweltschutz und die Infrastruktur“ betrifft, in vergangenen Zeiten.

Die Fülle von Geert Maks Gedanken und Erinnerungen, Beobachtungen und Lektüren ist so spannungsreich, dass man das Buch in einem Zug lesen möchte. Froh können seine Leser sein, dass er die Reise zu Ende führte, allerdings ärgert sich auch der Publizist Geert Mak manchmal über zu lässige Erfindungen des Nobelpreisträgers von 1962, John Steinbeck. Und in der Tat sollte man auf seinem Feld der Tatsachen mit Vorsicht ernten. Wenn dieser Begegnungen erfindet, stellt er oft das Spektrum von Haltungs- und Handlungsmöglichkeiten dar. Die drei Anhalter, die er angeblich hintereinander in den Südstaaten mitnimmt, scheinen aus verschiedenen Personen zusammengesetzt, aber der unterwürfige Schwarze, der weiße Rassist und der radikale Schwarze geben dennoch treffend die Gemengelage wieder, die wenige Jahre nach Steinbecks Reise zu Unruhen führte und schließlich zur Aufhebung der Rassentrennung.

Kompositorisch verwebt Geert Mak dicht verschiedene Gattungen – Reisebericht, Geschichtsschreibung, Literaturkritik – zu einem eigenen Genre, in dem Erzählen und Analysieren sich spannungsreich und dadurch spannend vereinen. Das Ergebnis: erschreckend in seiner Diagnose, beglückend in seiner Erzählung.

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In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

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