Ausgabe August 2013

Auf dem Weg zum »tiefen Staat«?

Die Bundesrepublik und die Übermacht der Dienste

Dass die repräsentative, die wohlfahrtsstaatlich-parlamentarische Demokratie ihre besten Zeiten hinter sich hat und dank Globalisierung und Neoliberalismus auch in den Staaten des Westens zunehmend durch ein Regime der „Postdemokratie“ ersetzt wird, ist seit den Analysen von Colin Crouch und Wolfgang Streeck kaum noch bestreitbar.[1]

Parallel dazu werden nun aber offenbar seit Jahren währende, bewusst betriebene Strategien bekannt, auch Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit auszuhöhlen. Dabei geht es – ganz altmodisch – um die möglichst geheim gehaltene Institutionalisierung eines „Ausnahmezustandes“, der die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik zum Souverän jedenfalls über die Sicherheit macht – vorbei an Parlament und Regierung. Speziell der rechtskonservative Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich, möchte über den Weg einer neuen Sicherheitsarchitektur – und gegen das Parlament und seinen Aufklärungsanspruch – die Parallelwelt des Bundesamts und seiner Geheimstrukturen stärken. Dabei wird die wesentliche Mitschuld gerade dieser Institutionen am Sicherheitsversagen im Fall des NSU derzeit immer klarer. Offenbar will Friedrich damit einen autoritären Backlash in undemokratische Zeiten proben. Zumindest in Ansätzen existiert auch in diesem Land also das, weswegen – unter anderem – der Türkei die Aufnahme in die EU verweigert wird: ein „tiefer Staat“ der Geheimdienste.

All das haben der Bundestagsausschuss zur Ermittlung des Behördenversagens im Fall der NSU-Morde sowie eine Reihe couragierter und investigativer Journalisten und Medien inzwischen zu Tage gefördert. Seit jüngstem ist – vor allem durch einen Beitrag des ARD-Magazins „Report Mainz“ vom 21. Mai 2013 – einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass die Verfassungsschützer, insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, spätestens seit dem Frühjahr 2000 über die Existenz der Terrorgruppe NSU und ihr Vorhaben, schwerste Straftaten zu begehen, umfangreich informiert waren. Am 28. April 2000 wussten vier Landesämter und das Bundesamt, bei dem zentrale Informationen wie etwa Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen zusammenlaufen, von einem rechtsterroristischen Netzwerk – bestehend aus dem Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe sowie ihren Mittätern und Unterstützern (aus dem Landser- sowie dem Blut-und-Ehre-Netzwerk). „Report Mainz“ zitiert einen Brief des Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz Sachsen, Olaf Vahrenhold (der im Untersuchungsausschuss davon nichts verlauten ließ), in dem die Existenz einer Terrorgruppe von mehr als drei Personen klar und genau beschrieben ist. In ihm beantragt Vahrenhold, für das Trio Beschränkungsmaßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz (G 10) anzuordnen. Das Schreiben richtet sich unter anderem an den Staatsminister des Inneren, Herrn Hardrath, und den Staatssekretär Ulbricht. In dem Antrag heißt es unter Punkt drei: Trotz der seit etwa zwei Jahren andauernden Flucht der Betroffenen 5-7 [dem Trio] bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Zweck der Vereinigung, schwere Straftaten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu begehen, auch in Zukunft unverändert fortbesteht und sich auf die Betroffenen 1-4 [das sind Andreas G., Thomas S., Mandy S. und Jan W.] erstreckt.“ Weiter heißt es: „Das Vorgehen der Gruppe ähnelt der Strategie terroristischer Gruppen, die durch Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck verfolgen.“ Diese Kenntnisse wurden nicht ins Zentrum der Terrorabwehr gestellt, sondern verharmlost und teilweise geleugnet. Doch mehr noch: Der Einsatz von aus der neonazistischen Szene gewonnenen Informanten war bereits vor dem Beginn der Mordserie von zentraler Bedeutung für die Terrorgruppe, nämlich im Prozess ihres Untertauchens. All dies dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Sicherheitsbehörden, und an deren Spitze Bundesinnenminister Friedrich und dessen Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche, dem Untersuchungsausschuss entweder nur zögerlich zugearbeitet haben oder aber weiterführende Auskünfte bis heute verweigern. Nur unter höchstem Druck wird nach wie vor das Allernötigste an Akten und Informationen weitergegeben – und zwar vorselektiert.

Das „Trio“ war den Sicherheitsbehörden also durchaus bekannt. Damit erledigt sich die lange Zeit immer wieder wie ein Mantra vorgetragene Schutzbehauptung der Sicherheitsbehörden, sie hätten sich die Existenz einer solchen rechtsterroristischen Gruppe nicht vorstellen können. Dies war und ist eine strategische Lüge der Verfassungsschützer: Sie wussten von ihr. Das gilt sowohl für Olaf Vahrenhold, Verfasser des oben zitierten Dokuments, als auch für den langjährigen Leiter des Landesamts für Verfassungsschutz in Sachsen, Reinhard Boos. Beide haben bewusst und wiederholt vor Untersuchungsausschüssen gelogen. Obwohl ihnen bekannt war, dass es sich um eine rechtsradikale Terrorgruppe handelt, die sich in der Tradition des weißen Rassismus und des historischen Nationalsozialismus sieht, haben sie und die ihnen unterstehenden Institutionen nichts Angemessenes unternommen, die späteren Morde zu verhindern: Bereits fünf Monate nach dem Wissensaustausch der Verfassungsschützer, nämlich am 9. September 2000, kam es zum ersten Mord, dem an Enver Simsek in Nürnberg.

Schon zwei Jahre zuvor, am 14. Februar 1998, hatte der Rechtsterrorexperte des BKA, Michael Brümmendorf, im Zuge der „Garagenfunde“ in Jena die Adressliste von Uwe Mundlos in den Händen – und damit ein Who‘s Who des Terrornetzwerks und seiner Unterstützer (darunter mindestens fünf V-Leute, unter anderen Kai D.). Doch nach Prüfung der Adressliste erklärte er diese für irrelevant (!). Ebenso verhielt sich ein Teil des LKA in Thüringen, unter anderem der für die Auswertung der Garagenfunde zuständige Kriminalist Jürgen Dressler: Dieser hatte vor dem Untersuchungsausschuss zunächst bestritten, die Adressliste überhaupt zu kennen, und sich erst unter dem Druck einer Gegenüberstellung mit Brümmendorf wieder daran erinnert. Ende 1997/Anfang 1998 wurden die Zielfahnder, eine Unterabteilung des LKA Thüringen, ihren glaubwürdigen Angaben zufolge von Verfassungsschützern offenkundig mutwillig an ihren Versuchen gehindert, die Untergetauchten zu stellen. Und bereits im Herbst 1998 informierte der von dem damaligen Mitarbeiter des brandenburgischen Verfassungsschutzes, Gordian Meyer-Plath, im LfV Brandenburg geführte V-Mann „Piatto“ (Carsten Szczepanski) das Landesamt darüber, dass die Untergetauchten auf der Suche nach Waffen seien, „weitere Überfälle“ planten und hierbei der Kontakt zu Jan W. (ein Mitglied des rechtsextremen Netzwerks Blut und Ehre) von größter Bedeutung sei. Piatto selbst war an der Beschaffung der Waffen für das Terrortrio offenkundig beteiligt.

Diese Belege zeigen: Seit Herbst 1998 und erst recht seit dem Frühjahr 2000 wussten die Verfassungsschützer, insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass es sich bei dem Trio und seinem Umfeld um eine gewaltbereite rechtsterroristische Gruppe handelt. Vor allem im Jahr 2000 wurde dies mehrfach auch auf Bundesebene, zum Teil mit dem Bundeskriminalamt und dem Generalbundesanwalt, erörtert. Doch all das blieb ohne Konsequenzen: Die Informationen über den Charakter einer Terrorgruppe wurden zum Teil ernst genommen, geeignete Maßnahmen zu ihrer Verfolgung wurden aber nicht getroffen.

Relativieren und leugnen

Zu den Ursachen für dieses fatale Verhalten der Sicherheitsbehörden gehören gewiss Schlamperei und Inkompetenz, Konkurrenz und Amtsnarzissmus. Auf dem gegenwärtigen Kenntnisstand lässt sich – als entscheidende Ursache – allerdings vor allem ein immer wiederkehrendes Muster der strategischen Relativierung und Verharmlosung erkennen, bis hin zur völligen Ausblendung der terroristischen Gefahr durch das Trio und seine Unterstützer.

Zwar konnte der NSU-Untersuchungsausschuss allein das Rätsel des multiplen „Versagens“ der Sicherheitsbehörden nicht lösen. Nichtsdestotrotz gab es in seiner letzten Phase zahlreiche Hinweise, die die oben genannte Strategie des Bundesamts belegen. So kannte sich einer der zentralen „Auswerter“ des BfV im Bereich Rechtsextremismus, der nur verdeckt auftrat – ein Anfangvierziger mit dem Tarnnamen „Egerton“ und seit knapp 20 Jahren im Bundesamt –, in allem bestens aus, wie bis dato niemand sonst im Untersuchungsausschuss und unter den vernommenen Zeugen. In den fünf Stunden seiner Aussage brillierte „Egerton“ mit immensem Detailwissen. Freilich hinderte ihn diese „Bilanz“ nicht daran, die terroristische Bedeutung des Trios und seines Umfelds für die Jahre nach 2000 zu relativieren, ja geradezu zu leugnen: Als er nach dem Grund gefragt wurde, warum in einem Endbericht eines gemeinsamen Papiers von BKA und Bundesamt aus dem Jahr 2003 plötzlich das Trio vom Bundesamt gestrichen wurde, fiel ihm dazu ein, das hätten sie „justiert“ – ein erstaunlicher Vorgang angesichts des erheblichen Wissensbestands des Bundesamts.

Deckmantel „Staatswohl“: Schreddern mit System

Ebenfalls erst in der zweitletzten Sitzung der regulären öffentlichen Anhörungen des NSU-Untersuchungsausschusses im Mai 2013 wurde bekannt, dass die Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz am 11. November, unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU, gegen jede Verfahrensregel des Hauses geplant und durchgeführt worden ist. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy, berichtete, bei der Vernehmung der für die Schredderaktion zuständigen Person habe sich herausgestellt, dass der Referatsleiter und sein Vorgesetzter diese nach genauer Prüfung der Akten selbst angeordnet hatten und zur gleichen Zeit auch der Präsident und der stellvertretende Präsident davon in Kenntnis gesetzt wurden. Die geschredderten Akten bezogen sich auf aktive V-Leute der bisher am stärksten geheim gehaltenen „Operation Rennsteig“ des Bundesamts, und damit auf genau jene ominösen V-Leute, die auch als die „T“s bekannt wurden, wie unter anderen „Tristan“, „Tusche“ und „Tinte“. Der Bericht des Ausschussvorsitzenden zeigt, dass diese erste Schredderaktion der Vernichtung strategischer Akten über V-Leute im unmittelbaren Umfeld der Mordgruppe diente. Das Amt hat – wenn die öffentlich zugänglichen Informationen stimmen – selbst noch nach dem Rücktrittsgesuch des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten, Heinz Fromm, vom 2. Juli 2012 nicht etwa die Zerstörung weiterer Akten verhindert. (Fromm schied wegen der Aktenvernichtung am 31.7.2012 aus dem Amt aus.) Stattdessen wurde die Vertuschungsaktion bis zum 18. bzw. 19. Juli 2012 fortgesetzt – offenbar ohne dass das Bundesinnenministerium (BMI) dagegen etwas unternommen hätte. Diese Praxis ist mehr als eine Brüskierung des Parlaments und seiner Aufklärungsfunktion. Sie ist eine offene Kampfansage dieses Teils der Exekutive, also des Verfassungsschutzes und des Innenministeriums, gegenüber Parlament und Regierung. Dabei hat die Bundeskanzlerin persönlich eine lückenlose Aufklärung angemahnt, damit jedoch gegenüber der Sicherheitslobby bisher nicht den geringsten Erfolg.

Um ihre illegalen Aktionen zu rechtfertigen, bedient sich die Sicherheitslobby des beliebig einsetzbaren Begriffs des „Staatswohls“. Allerdings ist dieser schon längst nicht mehr zeitgemäß – er entstammt der späten Kameralistik des frühen 19. Jahrhunderts –, dennoch ist er immer wieder in einzelnen Gerichtsurteilen verwendet worden. Im aktuellen Kontext wird er herangezogen, um offene Gesetzesbrüche und Straftaten im Geiste eines nicht mehr demokratischen Maßnahmestaates zu legitimieren.

Das alles hat System: Führende Sicherheitsbehörden haben wiederholt Daten über Quellen in der rechtsradikalen Szene vernichtet. Diese Vorfälle wurden bis heute nicht unabhängig untersucht. So teilte Hans-Georg Engelke, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des BfV, der inzwischen im Bundesministerium des Inneren arbeitet, in einem internen Bericht über das Bundesamt lediglich mit, dass die Akten von den entsprechenden Abteilungen aus Angst vor Aufklärung der Sache, mithin keineswegs zufällig, geschreddert wurden. Zugleich betonte er, die Akten hätten kaum etwas mit dem NSU-Komplex zu tun, allerdings ohne dies begründen zu können. Insgesamt seien zwischen November 2011 und Juli 2012 94 Personenakten und acht Sachakten aus dem Bereich Auswertung vernichtet worden sowie 137 Akten des Bereichs Beschaffung und schließlich 45 Akten zu V-Personen. Nicht alle diese Akten konnten wieder rekonstruiert werden, die genaue Zahl der nicht zu rekonstruierenden Akten ist allerdings unklar. Fest steht hingegen, dass sie zumindest zum Teil mit der Operation „Rennsteig“ zu tun hatten.

Die regelmäßig von verschiedenen Verantwortlichen vorgebrachte Erklärung, es seien nur Akten vernichtet worden, die nicht „verfahrensrelevant“ gewesen seien, ist insbesondere in den Fällen nicht nachvollziehbar, in denen – wie in Thüringen oder beim BfV – besonders früh, also noch im November 2011, Akten vernichtet wurden. Denn damals war noch gar nicht absehbar, was eines Tages verfahrensrelevant werden könnte.

Dass die Vernichtung von Akten des sogenannten Komplexes Rennsteig überhaupt aufgedeckt wurde, ist nur der Arbeit der Abgeordneten aus verschiedenen Untersuchungsausschüssen zu verdanken. So wurde publik, dass unterschiedliche deutsche Nachrichtendienste die „Operation Rennsteig“ in den 90er Jahren in Thüringen und damit im direkten Umfeld der bekannten Mitglieder des NSU initiierten. In mühsamen Befragungen versuchten die verschiedenen Ausschüsse seitdem, von den Zeugen zu erfahren, was genau es mit der Operation auf sich hatte. Bislang sind sich die verschiedenen Zeugen vom MAD, BfV und LfV Thüringen, die vor dem Bundestagsausschuss ausgesagt haben, nicht einmal einig, wie lange die Operation gedauert hat und wann sie zu Ende ging. Einige behaupten, sie habe bis 2005 gedauert, andere, sie sei nie beendet worden bzw. erst nach dem Auffliegen der Mordgruppe. Genauso wenig konnten die Zeugen plausibel erklären, was genau die Operation bezweckt hat. Mitarbeiter des MAD behaupteten, sie hätte das Ziel verfolgt, Mitglieder des rechtsradikalen „Thüringer Heimatschutzes“, die zur Bundeswehr wollten, im Vorfeld aufzuspüren.

Kurzum: Offenbar wollten große Teile des Bundesamts, aber auch anderer Sicherheitsbehörden die autobahnbreiten Spuren in Richtung der Terrorgruppe über Jahre einfach nicht sehen. Diese „Blindheit“ begründeten sie teilweise mit geradezu absurden Argumenten: Ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg etwa meinte zu wissen, dass es in unserem Kulturkreis ein Tabu des Tötens gäbe, man daher also in anderen Kulturkreisen hätte suchen müssen. Man habe den Täter somit schon aufgrund seines Verhaltens weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet. Dabei handelt es sich, jenseits des schieren Realitätsverlusts, unzweifelhaft um eine Form des in die Institutionen eingewanderten Rassismus. Zur zentralen Ursache des Desasters gehört nach gegenwärtigem Stand jedoch nicht etwa der mangelnde Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden, sondern vor allem die Geheimnisstruktur im Verfassungsschutzsystem selbst. Sie erst führte dazu, dass die Gruppe und ihr Umfeld jahrelang nicht aufgedeckt wurden.

Absoluter Quellenschutz zum „Wohle des Staates“

Fast alle Verfassungsschützer haben – ohne eine Rechtsgrundlage dafür nennen zu können – vor den Ausschüssen ausgesagt, dass der Quellenschutz in ihren Augen wichtiger ist als die Aufklärung der Hintergründe der NSU-Mordserie und die mögliche Strafverfolgung von Helfern. Dieser Schutz gelte auch für Rechtsradikale, die längst als Quelle enttarnt sind. Der Quellenschutz ist mithin absolut – zumindest dann, wenn es dem Verfassungsschutz passt. Es entsteht der Eindruck, dass die Verfassungsschützer mit ihrer Blockadehaltung auch aktuellen Quellen zeigen wollen, dass diese sich auf den Geheimdienst verlassen können und nicht enttarnt werden. Ganz offensichtlich würden Verfassungsschützer auch vor einem Ausschuss lügen, um die Identität einer Quelle zu schützen. (Dies hat im Übrigen zum Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens vor zehn Jahren geführt.)

Der Artikel 3 des Grundgesetzes – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – wird jedoch ausgehebelt, wenn V-Personen des Verfassungsschutzes ohne Rechtsgrundlage vor der Strafverfolgung geschützt werden, sie sich in Zeugenvernehmungen durch das BKA wie ein Polizist oder Geheimnisträger aus dem Sicherheitsapparat auf eine beschränkte „Aussagegenehmigung“ berufen können und bei diesen Verhören durch Anwälte der Verfassungsschutzämter begleitet und geschützt werden. Dieser absolute Schutz der Quellen durch ihre „Dienstherren“, die verschiedenen Verfassungsschutzämter und Nachrichtendienste, befeuert zudem Gerüchte, dass die Dienste in Sachen NSU selbst etwas zu verbergen haben.

Der Blockade und Vertuschung zentraler Informationen liegt ein autoritäres Amtsverständnis zugrunde. Dies hat die Vernehmung der im Zeitraum des Bestehens des NSU Zuständigen im Bundesamt durch den NSU-Ausschuss in aller Deutlichkeit belegt, insbesondere die des jetzigen Staatssekretärs im Bundesinnenministerium und vormaligen langjährigen stellvertretenden Chefs des Bundesamts für Verfassungsschutz, Klaus-Dieter Fritsche, am 18. Oktober 2012. Fritsche tat dort nicht nur seine Verachtung gegenüber der politischen Aufklärungspflicht des Parlaments kund, sondern er verteidigte darüber hinaus den absoluten Quellenschutz – trotz der Vertuschungsaktionen des Bundesamts zuvor. Obwohl das Wissen um Inhalt und Träger der Daten von entscheidender Bedeutung für die Aufklärung des Versagens der Sicherheitsbehörden ist, hat der zuständige Staatssekretär selbst zur Blockadestrategie gegenüber dem Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit und der Politik beigetragen. Und, schlimmer noch, das Bundesinnenministerium und die Regierung haben ihn dafür nicht einmal kritisiert. Stattdessen wurden seine Einlassungen auf der Website des BMI prominent als Position der Regierung abgebildet.

Die Begründung für diese Blockade jeglicher Aufklärung ist selbst skandalös: Der absolute Schutz der vom Verfassungsschutz angeworbenen Neonazis erfolge – auch hier – aus einem übergeordneten Staatswohlinteresse.

Im Ergebnis heißt das nichts anderes, als dass zum Teil schwer kriminelle Nationalsozialisten für sakrosankt erklärt werden – obwohl ihre Daten zur Aufklärung einer von Neonazis durchgeführten Mordserie von vermutlich zentraler Bedeutung sind. Aber mehr noch: Wer sich nicht an die Vorgabe des Quellenschutzes hält und, etwa als Mitglied des Parlaments, Hinweise auf die Täterschaft von Neonazis gibt, den droht das Bundesinnenministerium wegen Geheimnisverrats zu belangen. „Herr“ des Verfahrens ist mithin eine noch immer nicht kontrollierte Sicherheitslobby, die ihre Existenz zu verteidigen bemüht ist – hier in Gestalt des Staatssekretärs im Bundesinnenministerium und Ex-„Verfassungsschützers“, Klaus-Dieter Fritsche.

Das Bundesamt hat über V-Leute jahrelang eine Strategie der informationellen Unterwanderung nicht etwa nur der NPD, sondern mehr noch der militantesten Gruppierungen betrieben. Es ist daher ein großer Irrtum – und zuweilen wohl auch eine entsprechende Irreführung – zu behaupten, dass das Bundesamt den Rechtsterrorismus nicht „auf dem Schirm“ gehabt habe. Es hat ihn vielmehr zum Teil sehr präzise zur Kenntnis genommen, ja sogar teilweise mitgestaltet, aber bis heute darüber nicht angemessen informiert – und angesichts seines Versagens will es das jetzt erst recht nicht mehr tun.

Der Ausnahmezustand als Normalität

Inzwischen ist klar, dass die Blockade von Informationen System hat. Die Verfassungsschutzämter folgten hierbei offenkundig einer Doppelstrategie: erstens wenig Kenntnis vorzutäuschen und zweitens trotzdem und zugleich die Strukturen zu beschatten, die als besonders terrorverdächtig interpretiert wurden. Die Ämter informierten darüber, wenn auch begrenzt, andere Bundesinstitutionen im Sicherheitsbereich und tauschten sich entsprechend aus. Offenbar war diese Strategie Teil des Versagens der Sicherheitsbehörden. Dennoch soll sie, wenn es nach Klaus-Dieter Fritsche geht, sogar noch ausgeweitet werden – gegen allen öffentlichen Widerstand. Tatsächlich sollen die von niemandem zu kontrollierenden Vertrauensleute und die Informationssammlungen des Bundesamts noch besser abgesichert werden.

Ende Mai 2013 einigten sich die Innenminister der Länder auf ihrer Konferenz in Hannover, den von ihnen bestellten Abschlussbericht der Bund-Länder-Kommission (BLK) (die unter anderem von Bundesinnenminister Friedrich zur „Aufarbeitung des Rechtsterrorismus“ eingerichtet wurde) als geeignete Grundlage für eine derartige „Reform“ zu nehmen. Damit steht fest: Die bisher bereits höchst ineffiziente Kontrolle durch Ministerien und parlamentarische Gremien soll nach den Vorstellungen der Bund-Länder-Kommission im Wesentlichen ineffizient bleiben. Selbst (vom Verfassungsschutz als V-Leute geführte) äußerst aggressive und kriminelle Neonazis sollen de facto Straffreiheit genießen.

In dem von zwei Juristen und zwei ehemaligen Landesinnenministern verfassten Bericht der Bund-Länder-Kommission heißt es, es gebe „gesetzgeberischen Bedarf, bundesweit einheitliche Rahmenbedingungen beim Einsatz menschlicher Quellen zur verdeckten Informationsgewinnung zu schaffen“. Konkret sollen Staatsanwaltschaften die Möglichkeit haben, von der Verfolgung von Vergehen und Verbrechen abzusehen, die V-Leute „in Erfüllung eines nachrichtendienstlichen Auftrags“ begehen. Selbst schwere Straftaten wie der Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz oder die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung können dann vor Verfolgung geschützt bleiben. Damit würde der Quellenschutz auch rechtlich absolut.[2]

Die vielleicht bekannteste Definition des faschistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt lautet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Genau dies wird damit im Bereich der Sicherheitsbehörden faktisch erreicht. Indem die von den Ämtern Geführten keinerlei Strafverfolgung ausgesetzt sind, erhalten sie die völlige, von außen unkontrollierte Macht über einen auf Dauer gestellten rechtsfreien Ausnahmezustand.

Ohne jede wirkliche Analyse der Mordserie und des staatlichen „Versagens“ sollen vollendete Tatsachen geschaffen werden, nämlich eine „Sicherheitsarchitektur“, die den Verfassungsschutz mit seinem „heiligen“ Kern sakrosankt macht: der zentralen Stellung des Bundesamts und der De-facto-Unantastbarkeit der V-Leute. Damit wird ein Abgrund an geheimen und nicht kontrollierbaren Parallelstrukturen im Staat rechtlich etabliert.

Kaum zu fassen ist allerdings, dass die Innenminister selbst der SPD-geführten Länder diese zutiefst autoritären Bestrebungen ohne weitere Kritik hinnehmen und sie sogar als gute Grundlage für eine Reform des Verfassungsschutzes feiern. Was wir dagegen tatsächlich beobachten müssen, ist der Versuch eines autoritären Rückfalls in vordemokratische Zeiten. Faktisch zielen die Vorschläge der BLK-Kommission wie auch der vom Bundesinnenministerium vorgeschlagene Umbau der Sicherheitsarchitektur darauf ab, das Schattenreich der Sicherheitsbehörden nicht nur zu erhalten, sondern zusätzlich auszubauen – ohne jede wirksame Transparenz und Kontrolle.

Durch eine derartige Gestaltung und Absicherung eines rechtsfreien Raums werden die Grundlagen und das Selbstverständnis des bundesrepublikanischen Rechtsstaats im Kern angegriffen. Die „Architekten“ der neuen Sicherheitsarchitektur träumen von einer Parallelwelt der Grauzonen und Schattenreiche. Dagegen sollte es für alle Demokraten selbstverständlich sein, diese verheerende Entwicklung mit allen rechtlich zulässigen Mitteln zu bekämpfen.

 

[1] Colin Crouch, Das lange Leben des Neoliberalismus, in: „Blätter“, 11/2011, S. 49-62; Wolfgang Streeck, Auf den Ruinen der Alten Welt. Von der Demokratie zur Marktgesellschaft, in: „Blätter“, 12/2012, S. 61-72.

[2] Der Bericht der Bund-Länder-Kommission ist faktisch ein dem BMI gefälliges Gutachten des der CSU nahestehenden Münchner Rechtsanwalts Eckhart Müller, des früheren Bundesanwalts beim Bundesgerichtshof, Bruno Jost, des ehemaligen Innensenators Heino Vahldieck – der sich für Interviews in der „Jungen Freiheit“ bereithält –, und eines weiteren ehemaligen Innenministers, Peter Bruch, der vorzeitig hat zurücktreten müssen. (Sie hatten sich sicherheitshalber geweigert, vor dem Untersuchungsausschuss in Berlin aufzutreten.)

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