Sebastian Hartmann lässt Parolen werfen

Bühne Hanns Martin Schleyer, Josef Ackermann, Hamlet, Bakunin und Prometheus treten auf und ab. "Der große Marsch" am Centraltheater Leipzig ist vor allem Spektakel

Hanns Martin Schleyer geht es an die Hose. Auf seinen nackten Hintern haben sie ein Gesicht gemalt. Das muss so sein, denn „die meisten Theaterleute sind Arschgesichter“. Eigentlich hätte Herr Hundt auf der Bühne stehen müssen, und zwar der echte. Aber Arbeitgeberpräsident bleibt Arbeitgeberpräsident, ein bisschen RAF macht sich immer gut, und die Regieanweisungen des 31-jährigen Dramatikers Wolfram Lotz lassen sich sowieso nicht umsetzen. Sie sind eher Anleitung zum Widersinn, mehrfach ausgezeichnet.

Was Lotz „Das unmögliche Theater“ nennt, ist für Sebastian Hartmann eine Herausforderung, der scheidende Leipziger Intendant ist weniger für Textarbeit bekannt als für bild- und soundgewaltige Selbstbefragungen. Seine Inszenierung von Der große Marsch war nun die letzte Premiere am kleinen Haus, während drüben im Centraltheater der Saal zur Arena umgebaut wird für die Leipziger Festspiele.

„Wir beginnen jetzt erst richtig mit dem Weitermachen“, heißt es bei Lotz. Die Ironie des Dramatikers gilt einem zeitgenössischen Theater, das sich dokumentarisch gibt, politisch und sowieso widerständig. Sein Spott zielt auf Proklamationen und Effekte, auf das viel bemühte „Authentische“.

Hartmann greift das in seiner Inszenierung zunächst auf. Seine Bühne ist ein Käfig mit Lichtdeckel, in dem die zehn Studierenden der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ ein- und ausgehen und immer öfter drumherum. Auf vier Seiten sind die Zuschauer mal nah dran, mal auf Distanz gehalten von Video-Übertragungen aus clubbigem Hinterzimmer. Vor der Kamera gesteht ein Josef Ackermann, von Blondinen bedrängt, warum er nur als Figur im Theater auftaucht, nicht aber als Mensch, warum er unter der Dusche Opern singt, nicht aber an zeitgenössisches Theater denkt: „Weil man das ja auch gar nicht singen kann!“

Klingt albern? Ist es auch. Ausgelebt im wilden Rollenwechsel, in dramaturgischem Remix und sportlichem Umgang mit Text und Gesten. Die Idee geht zunehmend verloren im Gewühl. Lustig ist das oft und laut, und es wird viel gerufen: Ich sage jetzt, wie es ist! Die da oben sind die Oberschicht! Armut ist Krieg! Lügen sind nicht die Wahrheit! Schreien Sie mich nicht so an! Ironische Imperative parodieren Arroganz und Zynismus – wirken hier allerdings mehr auf- als vorgeführt.

Hamlet tritt auf, der Attentäter Lewis Paine, ein Autor Namens Lotz. Bakunin, der Anarchist, leugnet Vergänglichkeit, und Prometheus weiß: „Die Seegurke ist unsterblich“. Er will mal nicht über seine nachwachsende Leber reden, sondern über den Zelltod. Über Krebs. Das Sterben. Dann ist es auch schon wieder vorbei. Patrick S., der mit seiner Schwester Kinder gezeugt hat, wird verbal an die Wand gestellt. Dazu gibt es das, was Rudelbumsen genannt wurde, als die Fummel modern waren, die Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki in viel Rosa und Gold zitiert – mit Fußnoten aus dem Erotik-Shop-Fundus. Ein Mann trägt Anzug, ein anderer Tutu.

In diesem Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit wird mit Parolen nach Schlagworten geworfen wie mit dem Schinken nach der Wurst. Was nicht spielbar ist, wird halt erzählt. Lotz’ Szene mit den „21 mongoloiden Kindern“ etwa, die das Publikum in die Flucht schlagen. Aus dem inzwischen verhüllten Käfig dringen verwackelte Negativ-Effekt-Aufnahmen. „Pull me out from inside, I am ready“, singen die Eingeschlossenen. Botschaften aus dem Herzen der Desillusion in einem rundum grellen Spektakel.

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