Inmitten wachsender Empörung über das Ausmaß chinesischer Cyberattacken auf westliche Regierungen und Unternehmen, haben Washington und Peking heimlich „Kriegsszenarien“ durchgespielt. Beamte des US-Außen- und Verteidigungsministeriums beteiligten sich mit ihren chinesischen Kollegen im Vorjahr an zwei Simulationen, die zur Vermeidung einer Eskalation beitragen sollen, wenn eine Seite die andere eines Angriffes verdächtigt. Eine weitere Runde ist für Mai geplant.
Auch wenn die Übungen den USA die Möglichkeit verschafft haben, ihrem Verdruss über die ihrer Meinung nach staatlich finanzierte Spionage und den mutmaßlichen Diebstahl Ausdruck zu geben, bleibt China weiter angriffslustig. „Die Chinesen denken, das Kräfteverh
28;fteverhältnis habe sich zu ihren Gunsten verändert“, sagt Jim Lewis, Senior Fellow und Direktor der Denkfabrik Centre for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. „Die Volksbefreiungsarmee steht uns sehr feindselig gegenüber. Sie betrachtet die USA als ein legitimes Ziel und glaubt, Amerika sei im Niedergang begriffen.“Computer-Virus Stuxnet Die Kriegsspiele wurden vom CSIS und der Pekinger Denkfabrik China Institute of Contemporary International Relations organisiert. Dies ermöglichte den Regierungsvertretern beider Seiten, sich in einer weniger formellen Umgebung zu begegnen. Auf der unter dem Namen Track 1.5 bekannten diplomatischen Ebene kommen sich Regierungen bei der Konfliktbewältigung so nahe wie möglich, ohne direkt von Angesicht zu Angesicht miteinander zu sprechen.„Wir koordinieren die Simulationen mit State Department und Pentagon“, sagt Lewis, der die Treffen vom Juni 2011 in Peking und vom Dezember 2011 in Washington organisiert hat. „Die Regierungsvertreter beginnen als Beobachter und werden dann zu Teilnehmern. Da die Sache von zwei Think Tanks organisiert wird, können sie freier sprechen.“Während der ersten Übung mussten Amerikaner und Chinesen beschreiben, was sie tun würden, falls sie mit einem hoch entwickelten Computer-Virus wie Stuxnet angegriffen würden, der die Zentrifugen des iranischen Atomprogramms lahm gelegt hat. Bei der zweiten müssen sie beschreiben, wie sie reagieren würden, wenn sie wüssten, dass die Gegenseite hinter dem Angriff steckt. „Die beiden Spiele waren recht erstaunlich“, sagt Lewis. „Das erste ging gut, das zweite weniger. Die Chinesen sind sehr klug. Sie schicken äußerst sachkundige Leute. Wir wollen herausfinden, wie wir ihr Verhalten ändern können, aber sie können rechtfertigen, was sie tun: Sie haben die Erfahrung des Imperialismus und ein Jahrhundert voller Demütigungen hinter sich. Sie haben das Gefühl, dass man sie unfair behandelt hat. Sie misstrauen den Amerikanern, fürchten deren Militärpotenzial und neigen zu dem Gedanken, wir verfügten über eine ausgefeilte Strategie zur Sicherung unserer Hegemonie.“Härtere Gangart Die Notwendigkeit zu diesen Treffen wurde in den vergangenen Monaten durch die Versuche der USA und Großbritanniens unterstrichen, den Druck auf China zu erhöhen, das für den Diebstahl von geistigem Eigentum im Wert von Millionen Dollar verantwortlich gemacht wird. Ziel der Spionageattacken sind vor allem Rüstungsfirmen, Ministerien und Unternehmen, die für die US-Infrastruktur von gravierender Bedeutung sind.Vor einigen Monaten haben die USA erklärt, sie würden den Schwerpunkt ihres militärischen Engagements von Europa auf den pazifischen Raum verlagern, um die amerikanischen Interessen in der Region zu schützen. „Von all den Ländern, die Netzspionage betreiben, ist China das einzige, das den USA militärisch Konkurrenz machen könnte“, meint Lewis. „Die Streitkräfte beider Länder befinden sich in nächster Nachbarschaft und wenn es zu feindseligen Zwischenfällen kommt, ist die Wahrscheinlichkeit von Fehlurteilen hoch. Deshalb bemühen wir uns um ein klares Verständnis der Position der Gegenseite.“Lewis glaubt, dass die USA sich auf ein aggressiveres Verhalten gegenüber China vorbereiten. Präsident Obama habe im Weißen Haus bereits interne Arbeitsgruppen eingesetzt hat, um über härtere Sanktionen nachzudenken. China hingegen hat die Vorwürfe von Cyber-Angriffen gegen die USA und andere westliche Länder stets zurückgewiesen. In Peking heißt es, man sei selbst das Opfer von Spionage. Verteidigungsminister Liang Guanglie erklärt, Pekings Haltung gegen all Formen von Cyber-Crimes sei unverrückbar. „Es ist schwer, den wahren Urheber eines Angriffes ausfindig zu machen. Wir müssen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass dies nicht zum Problem wird“, so der Minister. „In China haben wir es derzeit mit vielen verschiedenen Arten von Angriffen im Netz zu tun. Die Regierung legt großen Wert auf Sicherheit im Netz, ihre Haltung gegenüber allen Formen der Cyber-Kriminalität ist unverrückbar.“