Ausgabe Juni 2012

Das Elend der Konsumwirtschaft

Von Rio+20 zur Postwachstumsgesellschaft

Bild: iStockPhoto

Fast genau vor 20 Jahren fand in Rio de Janeiro die erste UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung statt. Der Gipfel und das dort verabschiedete Leitpapier „Agenda 21“, das eine nachhaltige ökologische, ökonomische und soziale Entwicklung im 21. Jahrhundert sicherstellen sollte, gelten heute noch als Meilensteine internationaler Umweltpolitik. Ende dieses Monats findet nun erneut eine UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro statt: Rio+20. Doch anders als damals sind die Erwartungen an die Nachfolgekonferenz überaus verhalten.[1] Denn inzwischen sind die politischen Herausforderungen noch gewachsen: Die Folgen des durch Treibhausgase erzeugten Klimawandels sind bereits spürbar, die Artenvielfalt nimmt rapide ab und die globalen ökonomischen Ungleichgewichte bestehen unvermindert fort.

Dennoch bietet der Rio+20-Gipfel eine der seltenen Gelegenheiten, verbindliche Lösungen gegen den drohenden Klimakollaps zu finden und gemeinsam die globalen Herausforderungen einer wachsenden Weltbevölkerung fair und ressourcenschonend zu bewältigen. Dies wird jedoch nur gelingen, wenn endlich die Hauptursache der multiplen Gegenwartskrisen radikal in Angriff genommen wird: das Wachstums- und Fortschrittsparadigma.

Mythos „qualitatives Wachstum“

Seit der Frühphase der Moderne ist das wirtschafts- und naturwissenschaftliche Denken von einer Steigerungslogik beseelt, die der Menschheit Wohlstand, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden verspricht. Angesichts der größten ökologischen Krise der Neuzeit scheint sich dieser Glaube nur noch zu verfestigen: Allein Wachstum und technischer Fortschritt könnten, so die weitverbreitete Überzeugung, dem Ressourcenmangel umweltschonend beikommen und gleichzeitig individuelle Selbstverwirklichung garantieren.

Das beharrliche Festhalten an diesem Paradigma erstaunt umso mehr, als sich bereits seit Jahrzehnten deutliche Risse im modernen Wachstumsmodell zeigen. Bereits 1972 untersuchte der erste Bericht des Club of Rome die dramatischen Folgen der Weltwirtschaft auf die Ausbeutung der Rohstoffreserven und die Zerstörung von Lebensraum. Damals bildete sich die Idee des „qualitativen“ Wachstums heraus. Dieses Konzept einer auf technischen Innovationen beruhenden Vereinbarkeit von Umweltschutz und permanenter ökonomischer Expansion, wie sie etwa auch in der Vorstellung eines Green New Deal zum Ausdruck kommt, erfreut sich seither großer Beliebtheit.[2]

Was auch kein Wunder ist, verspricht die Idee des qualitativen Wachstums doch, dass im Kern alles beim Alten bleibt: Statt die maßlos gewordenen Konsum- und Mobilitätsansprüche zu reflektieren, soll die stoffliche Entkopplung des Wachstums die wirtschaftlichen Grundlagen schützen – mittels erhöhter Ressourcenproduktivität, geschlossener Stoffkreisläufe und regenerativer Energien. Die nach oben offene Spirale materieller Selbstverwirklichung und nachholender Entwicklung dreht sich somit unvermindert weiter.

Das qualitative Wachstum verspricht letztlich grenzenlosen Genuss ohne Reue. Doch so verheißungsvoll dieser Ansatz auch klingt: Dieser lediglich abgewandelte Fortschritts- und Wachstumsmythos wird den drohenden Klimakollaps nicht aufhalten können und ebenfalls Schiffbruch erleiden. Denn er geht dem eigentlichen Übel nicht wirklich an die Wurzel.

Von Peak Oil zu Peak Everything: Die Krise der Konsumwirtschaft

Die Stabilität moderner Industriestaaten basiert auf permanenter Konsum- und Mobilitätssteigerung. Sie stützt sich grob vereinfacht auf eine Ausgaben- und eine Einnahmenseite. Auf der Ausgabenseite stehen die notwendigen Aufwendungen, bei denen es sich vor allem um fossile Energieträger handelt – in erster Linie um Rohöl. Diese Ressourcen werden zunehmend knapp.

Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist jene „Konsumrevolution“[3], die sich derzeit in etlichen ehemaligen Entwicklungsländern vollzieht. Die Entstehung einer globalen Mittelschicht, zu denen auch mehr als 1,1 Milliarden „neue Konsumenten“ zählen, treibt durch eine zusätzliche Güternachfrage die Rohstoffpreise nach oben. Während vor kurzem noch von Peak Oil die Rede war, hat sich das damit bezeichnete Phänomen zum Peak Everything[4] ausgeweitet. Entscheidend sind dabei nicht die verringerten Fördermengen, sondern die Preiserhöhungen infolge des Nachfragewachstums, welche die ökonomischen Voraussetzungen für weiteres Wachstum untergraben.

Auch die Einnahmenseite des nördlichen Wohlstandsmodells steht auf wackligen Füßen. Denn die Einnahmen beruhten bislang vor allem auf einer für uneinholbar erachteten internationalen Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere im Bereich wissens- und technologieintensiver Exportgüter. Dieser Innovationsvorsprung schmilzt jedoch merklich dahin. Die Aufsteigernationen – allen voran China und Indien – sind durch Investitionen in Bildung, moderne Infrastrukturen und nicht zuletzt durch die globale Mobilität ihrer wachsenden Mittelschicht zusehends in der Lage, jene Märkte zu erobern, die zuvor als Domäne der technologisch überlegenen Industrieländer galten. In absehbarer Zeit werden die Transferökonomien den bisherigen Wohlstandsgewinnern sogar sämtliche komparativen Kostenvorteile streitig machen können.

Das Scheitern der Entkopplung von Ökologie und Ökonomie

Wirtschaftswachstum ist in den OECD-Staaten somit längst keine sichere Sache mehr. Erst recht aber erweist sich das Vorhaben als Fiktion, ökonomisches Wachstum ohne gravierende ökologische Folgen zu erzielen. Tatsächlich entbehrt diese Idee jeder empirischen wie theoretischen Grundlage.

Besonders anschaulich wird dies mit Blick auf den Klimawandel. Trotz enormer technischer Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz und der Nutzung regenerativer Energiequellen nimmt die globale CO2-Belastung rasant zu. Dies belegt unter anderem eine Studie des Global Carbon Projects.[5] Sie weist nach, dass sowohl die geringere Emissionsintensität einer Primärenergieeinheit (ökologische Konsistenz), als auch der geringere Primärenergiebedarf pro Wertschöpfungseinheit (ökologische Effizienz) ins Stocken geraten sind. Anstelle einer Entkopplung ist vielmehr eine „Re-Materialisierung“ zu beobachten. Selbst in Phasen, in denen ein relativer Entkopplungseffekt erfolgte, hat dieser nicht annähernd den dramatischen Anstieg der CO2-Emissionen ausgleichen können.

Da sowohl Effizienz- als auch Konsistenzsteigerungen weiteren Output und zusätzliches Einkommen erzeugen, kommt es zu sogenannten Rebound-Effekten.[6] Innerhalb eines Systems, dessen einzige Entwicklungsrichtung in der Vermehrung von Möglichkeiten liegt, wird selbst der Umstieg auf regenerative Energien der Steigerungslogik unterworfen und produziert auf diese Weise neues Wirtschaftswachstum. Die Energiewende etwa führt so zu einem Wachstum an Biogasanlagen, Photovoltaikelementen, Windkraftanlagen, Passivhäusern, Energiesparbirnen und Hybridautos.

Solange aber diese Maßnahmen erstens additiv sind und zweitens ihrerseits nie gänzlich ohne Energieaufwand auskommen, droht ein doppeltes Dilemma: Wenn die zur Entkopplung notwendigen neuen Gebrauchsgegenstände und Infrastrukturen die bisherigen, weniger nachhaltigen nicht ersetzen, resultiert daraus materielles Wachstum. Werden die Artefakte hingegen ersetzt, folgt ein Wachstum an zu entsorgendem Material.[7] Außerdem wäre in diesem Fall ein steigendes Bruttoinlandsprodukt mehr als ungewiss, denn der zusätzlichen Wertschöpfung durch erneuerbare Energieträger stünde dann möglicherweise eine weitaus größere Wertschöpfungsreduktion im fossilen und atomaren Sektor gegenüber.

Wachstum und materielle Armut

Nichtsdestotrotz halten die Verfechter qualitativen Wachstums an ihrem Modell fest, ja mehr noch: Auch der Glaube, Wachstum führe zu gesellschaftlichem Wohlstand, hält sich ungebrochen.

Die Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum Armut beseitigen kann, setzt industrielle Arbeitsteilung und die Teilnahme am globalen Handel voraus. Die reale Außenwirtschaftstheorie geht davon aus, dass Freihandel einer Autarkielösung überlegen sei. Zwar räumt sie gemäß des Stolper-Samuelson-Theorems[8] explizit ein, dass durch grenzübergreifenden Handel für bestimmte Branchen Verluste entstehen können. Solange diese jedoch durch Zuwächse der prosperierenden Wirtschaftszweige übertroffen werden, können die Gewinne die Verluste kompensieren, so dass dennoch ein Einkommenszuwachs erzielt wird. Die Folge wäre daher gesamtwirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlicher Wohlstand.

Die entscheidende Frage lautet jedoch, ob dieser Transfer tatsächlich stattfindet, so dass die Handelsgewinne nicht vollständig einer Elite vorbehalten bleiben, womit sich die Situation der ärmsten Bevölkerungsteile im Vergleich zur Autarkielösung sogar verschlechtern würde. Es spricht für sich, dass ausgerechnet Samuelson die von ihm selbst mitbegründete „reine“ Lehre später in Frage stellte. Zum einen legte er dar, dass in einem globalisierten Markt schon die Erzielung von Nettogewinnen durch Freihandel scheitern kann. Zum zweiten bezweifelte er, dass die ärmeren Schichten von solchen Zugewinnen profitieren könnten.

Hinzu kommt ein struktureller Effekt, denn die verlockende Chance auf materiellen Wohlstand, den ein konsumtiver und zugleich auf spezialisierter Erwerbsarbeit beruhender Lebensstil verheißt, wird mit einem beträchtlichen sozialen Preis erkauft. Amartya Sen hat anhand des Verlaufs vergangener Hungersnöte dargelegt, dass Individuen, die ihre Fähigkeit zur (wenigstens partiellen) Selbstversorgung zugunsten einer spezialisierten Erwerbsarbeit aufgeben, selbst dann in Not geraten können, wenn ausreichend Güter vorhanden sind, um alle Bewohner zu versorgen.[9]

Die Gründe dafür finden sich in den sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Geldbasierte Fremdversorgung impliziert, dass der Anspruch auf Güter allein vom monetären Einkommen abhängt. Sowohl Preiserhöhungen als auch Lohnsenkungen können die Kaufkraft jedoch unter eine kritische Grenze drücken, so dass das Maximum an Gütern, das sich ein Konsument dann noch leisten kann, nicht reicht, um die eigene Existenz zu sichern.

Derartige Szenarien gewinnen schon eingedenk der unausweichlichen Verwendungskonkurrenz um knappe Ressourcen an Bedeutung, die entweder zur Herstellung von (Bio-)Energie oder Nahrungsmitteln verwendet werden. Demgegenüber gewährleisten Versorgungsmuster, die auf Eigenarbeit und lokalen Austauschbeziehungen beruhen, zwar nur einen bescheideneren Güterwohlstand. Allerdings sind sie von globalisierten und deshalb „ferngesteuerten“ Wertschöpfungsketten unabhängig, mit anderen Worten: Sie verringern die soziale Fallhöhe und gewährleisten mehr Stabilität.

Zeit versus Geld: Das Streben nach Glück

Oft wird zudem übersehen, dass selbst jene, die vom Wirtschaftswachstum profitieren, nicht per se zufriedenere Menschen sind. Die gegenwärtig viel beachtete „Glücksforschung“ kommt vielmehr zu dem Schluss, dass ein höheres Pro-Kopf-Einkommen ab einem bestimmten Niveau nicht zusätzliches Glück stiftet. Eine theoretische Begründung dieses Befundes, der sich für alle modernen Konsumgesellschaften empirisch verifizieren lässt,[10] lieferte Fred Hirsch.[11] Er vertrat bereits 1980 in seinem Buch „Die sozialen Grenzen des Wachstums“ die These, dass der Konsumnutzen vieler Güter rein symbolischer Art ist und auf sozialem Prestige, Distinktion oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe beruht. Derartige „positionale Güter“ sind von einem Wettbewerb um die Stellung innerhalb einer sozialen Hierarchie geprägt. Wer hinter die demonstrativen Konsumaktivitäten anderer Zeitgenossen zurückfällt, verliert seine Position in der gesellschaftlichen Rangfolge.

Demzufolge muss immer mehr konsumiert werden, um ein bestimmtes, keineswegs stetig wachsendes Glücksempfinden zu erzielen. Zudem können mit jedem Wachstumsschub nur bestimmte Konsumenten ihren Status verbessern. Dies geschieht jedoch zwangsläufig zulasten derer, die ihre bisherige Ausstattung nicht aufwerten konnten. Daher ist weiteres Wachstum nötig, das den Zurückgefallenen ermöglicht, ihre Konsumnachfrage nachzuholen.

Will man diesen Teufelskreis des Konsums unterbrechen und stattdessen die Potentiale ausschöpfen, die tatsächlich Glück stiften, erfordert dies kein Geld, sondern Zeit. Denn die Rückkoppelung – materielles Wachstum erzeugt notwendigerweise weiteres Wachstum – hat dramatische soziale Auswirkungen. Wenn materielle Not beseitigt ist, gründet Lebenszufriedenheit in erster Linie auf zwischenmenschlichen Beziehungen: der Integrität des sozialen Umfeldes, Erfolg und Anerkennung auf Basis eigener Fähigkeiten, Gesundheit, Sicherheit und einer als intakt empfundenen Umwelt. Das Streben nach einem immer höheren materiellen Lebensstandard führt allerdings dazu, dass der Einzelne seine Erwerbsarbeitszeit ausweiten muss. Folglich verbleibt weniger Raum für die Kindererziehung, die Pflege des Haushalts oder eines Gartens. Soziale und kreative Tätigkeiten müssen daher ebenfalls in Konsumakte bzw. Dienstleistungen umgewandelt werden – was den Bedarf an monetär entgoltener Arbeit zusätzlich erhöht.

Da die Auswahl an Konsumoptionen gegenwärtig geradezu explodiert, der Tag aber nach wie vor nur 24 Stunden hat, verschärft sich dieser Konflikt. Damit Konsumaktivitäten aber überhaupt Sinn und Nutzen stiften können, müssen wir ihnen ein Minimum an Aufmerksamkeit widmen. Die wachsende Konkurrenz um die knappe Ressource Zeit führt indes dazu, dass wir jeder einzelnen Aktivität ein zusehend geringeres Quantum an Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Mit anderen Worten: Wir verfügen nicht über genügend Zeit, die hinzugewonnenen Konsumoptionen ausreichend zu nutzen. Diesen Konflikt erfahren wir als zusätzliche psychische Belastung, als Stress.

Aufgrund struktureller Zwänge ist es nicht ohne weiteres möglich, dem ökonomischen Wachstumszwang zu entkommen. Denn in den vergangenen Jahren haben sowohl die gestiegene Arbeitsproduktivität als auch die industrielle Arbeitsteilung weiteres wirtschaftliches Wachstum nötig gemacht.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Produktion einer bestimmten Leistung an einen festen Standort gebunden. Längst ist ein Großteil der Produktionsprozesse in viele isolierte Fertigungsstufen zerlegt worden, was eine flexible und ortsungebundene Verlagerung je nach Kosten- oder Qualitätsvorteilen erlaubt. Zugleich erfordert jede Spezialisierungsstufe vor Produktionsbeginn Investitionen. Das dazu benötigte Fremdkapital kostet Zinsen, und Eigenkapital verlangt nach einer hinreichenden Rendite. Folglich muss in jeder Periode ein entsprechender Überschuss erwirtschaftet werden. Außerdem nimmt mit der räumlichen Entgrenzung der Bedarf an physischen Infrastrukturen und Anlagen zu, die fortwährend verschleißen.

Das Wachstum, das erforderlich ist, um den wirtschaftlichen Gesamtprozess zu tragen, steigt also mit zunehmender Spezialisierung, das heißt mit der Anzahl eigenständiger Produktionsstufen. Hinzu kommt, dass mit der industriellen Spezialisierung die Arbeitsproduktivität zunimmt – ein weiterer struktureller Wachstumstreiber. Anstelle von Arbeit kommt vermehrt Energie und Kapital zum Einsatz. Je weniger Arbeit zur Güterproduktion benötigt wird, desto größer muss folglich die produzierte Menge an Gütern sein, damit weiterhin die gleiche Zahl an Arbeitnehmern beschäftigt werden kann. Kurzum: Wir sind notwendigerweise auf eine wachsende Produktion angewiesen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Der Weg in die Postwachstumsökonomie – mittels Suffizienz und Subsistenz

Das Festhalten am Wachstums- und Fortschrittsparadigma kann weder die multiplen Gegenwartskrisen lösen noch garantiert es gesellschaftlichen Wohlstand für alle. Obendrein verwehrt uns das dauernde Streben nach Wachstum die freie Verfügung über unsere Zeit und damit eine notwendige Voraussetzung für ein glückliches Leben. Die entscheidende Frage lautet daher, wie wir dem Zwang zum Wachstum entkommen und in eine Phase der Postwachstumsökonomie eintreten können.

Die Antithese zu einer auf Wachstum, Geld- und Fremdversorgung basierenden Existenzform entspräche einer tendenziellen Wiedererlangung dessen, was Marianne Gronemeyer[12] als „Daseinsmächtigkeit“ bezeichnet. Gemeint ist ein Zusammenspiel zweier Eigenschaften: Die genügsame Anpassung von Ansprüchen (Suffizienz) entsprechend den eigenen Fähigkeiten bzw. verfügbaren Optionen und Ressourcen (Subsistenz).

Der Übergang in die Postwachstumsökonomie setzt somit voraus, das „Zuhandene zum Hinreichenden“ (Marianne Gronemeyer) zu machen. An erster Stelle steht dabei die Suffizienz, also das Bestreben, mit weniger Gütern auszukommen. Hilfreich ist dabei folgende Logik: Wer an der Vielfalt materieller Optionen zu ersticken droht, verzichtet nicht auf Konsumgüter, sondern befreit sich von Überflüssigem. Sich klug jenes Ballastes zu entledigen, der viel Zeit, Geld, Raum und ökologische Ressourcen kostet, aber nur minimalen Nutzen stiftet, bedeutet zugleich, sich dem volatilen Marktgeschehen und dem Zwang zum Gelderwerb zu entziehen. Im Gegenzug reduziert ein solcher Schritt den Stress, unter dem mehr und mehr Menschen leiden. Im Zeitalter der Reizüberflutung wird Suffizienz auf diese Weise auch zum Selbstschutz.

Des Weiteren sind neue Formen der Subsistenzerforderlich. Sie dienen der Selbstversorgung und als nicht monetarisierter Beitrag zur Versorgung des nahegelegenen Umfeldes. Infolgedessen wächst die ökonomische Souveränität kleiner Versorgungssysteme; zugleich werden strukturelle Wachstumstreiber gemildert. Auch die Rückbesinnung auf kreative Selbstversorgung bedeutet nicht Verzicht, sondern verfolgt in erster Linie das Ziel, sich von der Notwendigkeit der Fremdversorgung allmählich und so weit wie möglich abzukoppeln.

Kurze Wertschöpfungsketten: Die Regionalisierung der Ökonomie

Möglich wird dies durch eine verringerte Distanz zwischen Verbrauch und Produktion. Dabei gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich der Fremdversorgung zu entziehen – und sie beschränken sich keineswegs darauf, Gemüse im Garten anzubauen. Auch Formen einer urbanen Subsistenz befähigen den Einzelnen, sich der schicksalhaften Abhängigkeit von Geld- und Fremdversorgung zu entledigen: Wer beispielsweise lediglich 20 Stunden in der Woche dem Gelderwerb nachgeht, kann seine Kreativität auch nichtkommerziellen Aktivitäten widmen, etwa einem Handwerk, dem Zeitvertreib mit Kindern, der Nachbarschaftshilfe, der Mitwirkung im Gemeinschaftsgarten, der Pflege und Reparatur von Konsumgütern, dem Gemeinwesen und so weiter und so fort.[13]

Kurze Wertschöpfungsketten, etwa im Sinne einer Lokal- oder Regionalwirtschaft, erzeugen außerdem jene Nähe und damit das Vertrauen, welches eine weniger zinsträchtige Kapitalbeschaffung ermöglicht. Das Prinzip der Genossenschaftsbanken beruht beispielsweise auf hoher Transparenz und einer unmittelbaren Beziehung zwischen Kapitalgebern und -nehmern. Dies senkt das durch hohe Zinsen abzudeckende Anlagerisiko. Im Gegensatz dazu sind globale Wertschöpfungsketten von Anonymität, Intransparenz und entsprechendem Kontrollverlust geprägt.

Ein weiterer Effekt kleinräumiger Ökonomien besteht darin, dass Anleger stärkeren Einfluss auf die Verwendung ihres Kapitals nehmen können. Wer sein Geld einem Unternehmen überlässt, dessen Zweck er vertritt – etwa Klimaschutz, ökologischer Landbau oder besonderes soziales Engagement –, wird tendenziell geringere Zinsen fordern. Dies entspricht keinem Zinsverzicht, sondern dem Preis für eine höhere ethische Qualität der Anlage. Fair-trade-Kaffee hat schließlich auch seinen Preis.

Lokale Netzwerke können durch regionale Wirtschaftsstrukturen ergänzt werden. Letztere lassen sich zwischen den beiden Extremen – der lokalen Subsistenz und dem Konsum auf Basis globaler Arbeitsteilung – verorten. Ihre Stärke ließe sich durch Regionalwährungssysteme, welche die Kaufkraft an die Region binden und damit von globalen Abhängigkeiten befreien, ausschöpfen.[14] Auf diese Weise würden zwar weiterhin moderate Spezialisierungsvorteile genutzt, jedoch im Sinne einer „De-Globalisierung“.[15]

Das Ende der Wegwerfgesellschaft

Die nach dem Rückbau verbleibenden Industriestrukturen wären überdies so umzugestalten, dass die Neuproduktion von Gütern eine eher untergeordnete Rolle spielt. Im Vordergrund stünde stattdessen, vorhandene Güterbestände und Infrastrukturen aufzuwerten – durch Renovierung, Konversion, Optimierung, Verlängerung oder Intensivierung der Nutzungsdauer.

Reparaturdienstleistungen würden dazu beitragen, defekte Güter seltener auszurangieren. Vorhandene Güter könnten länger genutzt werden, indem sie funktional und ästhetisch angepasst würden und somit möglichst lange im Kreislauf einer sinnvollen Verwendung verblieben. Märkte für aufgearbeitete und überholte Güter würden ebenfalls zu einer verringerten Neuproduktion beitragen.

Wenn es gelänge, die durchschnittliche Nutzungsdauer mancher Konsumgüter auf diese Weise zu verdoppeln, könnte das Ausmaß der industriellen Produktion erheblich verringert werden, ohne bestehende Konsumfunktionen einzuschränken. Vielmehr müsste die „Wegwerfgesellschaft“ durch eine Reduktion des Überflusses umgewandelt werden. Da weniger Neuanschaffungen erforderlich wären, würde zudem weniger Einkommen, also auch weniger Arbeitszeit benötigt. Mit der gewonnenen Zeit ließen sich in Eigenarbeit Leistungen erbringen, die vormals bezahlt werden mussten, was zu weiteren finanziellen Entlastungen führen würde.

Damit schließt sich der Kreis zur Subsistenz, die damit nicht nur zu mehr Autonomie verhilft, sondern auch den Bedarf an monetärer Versorgung verringert. Obendrein kann sie in produktiven, insbesondere handwerklichen Leistungen bestehen, durch die Industrieprodukte im obigen Sinne selbsttätig instandgehalten werden. Das Argument, dass eine Halbierung der Erwerbsarbeit und folglich der Produktion auch den materiellen Wohlstand reduzieren würde, ist daher nicht haltbar. Vielmehr treten an die Stelle materieller Ressourcen, die bislang zur Neuproduktion eingesetzt wurden, drei andere, dekommodifizierte Ressourcen: erstens eigene handwerkliche Fähigkeiten zur Eigenproduktion und Verlängerung der Nutzungsdauer; zweitens Zeit, die für die Ausübung der neuerlernten Fähigkeiten notwendig ist; und drittens soziale Beziehungen zwecks Gemeinschaftsnutzung und geldlosem Leistungsaustausch.

Nachhaltigkeit ohne Rebound-Effekte

Der Übergang zur Postwachstumsökonomie erfolgt somit durch den schrittweisen Rückbau industriell-arbeitsteiliger Versorgungssysteme und Infrastrukturen. Dieser Wandel könnte durch diverse institutionelle Innovationenunterstützt werden: Boden-, Geld- und Finanzmarktreformen würden systemimmanente Wachstumszwänge mildern, veränderte Unternehmensformen könnten die Gewinndynamik dämpfen und schließlich müsste auch der Subventionsdschungel durchforstet werden, um gleichermaßen ökologische Schäden und die öffentliche Verschuldung zu reduzieren.

Zudem wären ein Bodenversiegelungsmoratorium und Rückbauprogramme für überholte Infrastrukturen erforderlich. Insbesondere Flughäfen, Autobahnen, Industrieparkanlagen und Parkplätze etc. müssten teilweise geschlossen und renaturiert werden. Alternativ können die Flächen für Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien genutzt werden.

Schließlich ließen sich Rebound-Effekte eindämmen, wenn der heute übliche, dehnbare Nachhaltigkeitsbegriff durch individuelle CO2-Bilanzen konkretisiert würde. Jeder Person stünde dann ein übertragbares Anrecht auf ein jährliches Emissionskontingent zu. Unternehmen wären verpflichtet, alle Produkte mit dem CO2-Footprint entlang des gesamten Lebenszyklus zu kennzeichnen.

Gewiss, all diese Vorschläge muten ziemlich radikal an und sowohl die Industrie als auch die Verbraucher im globalen Norden werden sich mehrheitlich gegen die vermeintlichen Einschnitte in ihre Lebensqualität und -gewohnheiten wehren. Angesichts der großen ökologischen und sozialen Herausforderungen, vor denen die Welt heute steht, käme jedoch das weitere Festhalten an der Vorstellung immerwährenden Wachstums einer Katastrophe gleich. Den Weg in Richtung Postwachstumsökonomie einzuschlagen, lohnt sich schon deshalb, um sich vor den sozialen und ökonomischen Folgen der kommenden Krisen zu schützen.

[1] Vgl. Achim Brunnengräber und Tobias Haas, Rio+20: Die grüne Beliebigkeit, in „Blätter“, 2/2012, S. 15-18.

[2] Dennis L. Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Frankfurt a.M. 1972. 

[3] Norman Myers und Jennifer Kent, Die neuen Konsumenten in Entwicklungs- und Transformationsländern und der Einfluss ihres Wohlstands auf die Um­welt, in: „Natur und Kultur“, 1/2005, S. 3-22. 

[4] Richard Heinberg, Peak Everything: Waking Up to the Century of Declines, Gabriola Island 2007. 

[5] Vgl. Michael. R. Raupach u.a., Global and Regional Drivers of Accelerating CO2 Emissions, in: „Proceedings of The National Academy of Sciences of the USA“, 24/2007, S. 10288-10293. 

[6] Vgl. Niko Paech, Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum. Eine unternehmensbezogene Transformationstheorie, Marburg 2005. 

[7] Vgl. Niko Paech, Wachstum light? Qualitatives Wachstum ist eine Utopie, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär“, 13/2009, S. 84-93. 

[8] Vgl. Wolfgang F. Stolper und Paul A. Samuelson, Protection and Real Wages, in: „Review of Economic Studies“, 9/1941, S. 58-73. 

[9] Vgl. Amartya Sen, Poverty and Famines. An Assay on Entitlement and Depriva­tion, Oxford 1982. 

[10] Vgl. Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft, Frankfurt 2005. 

[11] Vgl. Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek 1980. 

[12] Vgl. Marianne Gronemeyer, Die Macht der Bedürfnisse, Reinbek 1988. 

[13] Vgl. Björn Paech und Niko Paech, Suffizienz plus Subsistenz ergibt ökonomische Souveränität – Stadt und Postwachstumsökonomie, in: „Politische Ökologie“, 29/2011, S. 54-60. 

[14] Vgl. Niko Paech, Regionalwährungen als Bausteine einer Postwachstumsökonomie, in: „Zeitschrift für Sozialökonomie“, 158-159/2008, S. 10-19. 

[15] Walden Bello, De-Globalisierung. Widerstand gegen die neue Weltordnung, Hamburg 2005.

 

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