Ausgabe März 2013

Das neue Elend: Zehn Jahre Hartz-Reformen

Bild: gschart / photocase.com

Hartz war die größte Arbeitsmarkt- und Sozialreform der Nachkriegszeit und überaus erfolgreich. Dabei geht es nicht um einzelne Bausteine der vier Gesetze, sondern darum, dass Peter Hartz und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Ersten waren, die offen gesagt haben, dass es mit dem ausufernden Sozialstaat so nicht weitergehen kann. Die Hartz-Gesetze bedeuteten das Ende der alten Bundesrepublik.“

Zehn Jahre nachdem Gerhard Schröder seine Agenda 2010 in Gang setzte, lautet so die Bilanz von Peter Straubhaar, dem Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts.[1] Diese Einschätzung ist für den Elitendiskurs in Deutschland und Europa symptomatisch: Die Arbeitsmarktreformen mögen für die Betroffenen hart und schmerzlich gewesen sein, der Gesellschaft haben sie gut getan und ökonomisch waren sie ohnehin alternativlos.

Und tatsächlich – im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist die Bundesrepublik zur unangefochtenen Führungsmacht im krisengeschüttelten Europa aufgestiegen. Während andere Staaten sich mit Wachstumsblockaden und hohen Arbeitslosenzahlen plagen, steht Deutschland mit seinen Wirtschaftsdaten auf den ersten Blick so gut da, wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Besonders die Arbeitsmarktbilanz beeindruckt. In der internationalen Presse ist von einem „deutschen Beschäftigungswunder“ oder gar von einem „deutschen Jahrzehnt“ die Rede. Auf den ersten Blick sind auch die Fakten eindeutig. Deutschland hat die „große Wirtschaftskontraktion“ von 2008/09 vergleichsweise gut verkraftet. Die Exportwirtschaft boomt, die Arbeitslosenzahlen bewegen sich erstmals seit vielen Jahren unter der Drei-Millionengrenze, die Erwerbsbeteiligung hat Rekordniveau erreicht, auf einigen Teilarbeitsmärkten macht sich Fachkräftemangel bemerkbar und selbst ein erneuter Konjunktureinbruch scheint den robusten Arbeitsmarkt nicht ernsthaft zu bedrohen.

Was hat nun diese Erfolge ermöglicht? Die Antwort des Ökonomen Straubhaar ist ebenso klar wie provokant. Die Hartz-Gesetze haben der „alten Bundesrepublik“, sprich: dem rheinischen, koordinierten oder sozialen Kapitalismus, wie er zu Zeiten des Nachkriegs-Wirtschaftswunders entstanden war, den Garaus gemacht: „Kein anderes Land hat sich in den vergangenen zehn Jahren derart stark verändert wie Deutschland. Bis zum Fall der Mauer war die Bundesrepublik ein abgeschottetes Paradies mit einem Lebensstandard, wie es ihn für lange Zeit nicht mehr geben wird. Wir hatten die 35-Stunden-Woche, nahezu Vollbeschäftigung und enorm hohe Sozialleistungen. Als die Mauer fiel, haben andere Staaten schnell aufgeholt und Millionen gut qualifizierter und dennoch billiger Arbeitskräfte haben den Wettbewerbsdruck enorm erhöht. Plötzlich bekam Deutschland Probleme, und die Arbeitslosigkeit stieg. Die heute 50 bis 70jährigen haben aber immer noch dieses Paradies in den Köpfen, und sie merken, dass es ihnen schlechter geht, als sie es sich damals vorgestellt haben: die Rente fällt geringer aus, man muss länger arbeiten, Sozialleistungen sind gekürzt worden.“

All dies war und ist jedoch nötig, so der Subtext, um die „deutsche Krankheit“ überregulierter Arbeitsmärkte und ausufernder Sozialstaatlichkeit zu besiegen. Deshalb forderte Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Bundestag: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Denn, so der applaudierende Ökonom: Wir haben schlicht über unsere Verhältnisse gelebt und wissen nun, dass „zusätzliche Sozialleistungen und Wohltaten nicht mehr selbstverständlich“ zu realisieren sind, „weil irgendjemand auch immer dafür bezahlen muss“.

Die „Anspruchsinflation der Unterschicht“

Wer aber ist dieser Irgendjemand, der permanent über seine Verhältnisse lebt? Auch kühl kalkulierende Ökonomen wissen, dass nicht alle gleichermaßen „überziehen“. Wer also ist gemeint, wenn von „Anspruchsinflation“ die Rede ist?

Auch hier steht für Mainstream-Ökonomen die Antwort bereits seit langem felsenfest. Für sie haben vor allem die „unproduktiven“ Gesellschaftsmitglieder in den unteren Schichten über ihre Verhältnisse gelebt und zudem mit ihrer Laxheit auch die eigentlich Leistungswilligen angesteckt.

Stützen konnten sie sich dabei schon vor zehn Jahren auf die sogenannte Unterschichtendebatte, die just zu dieser Zeit einsetzte. Als der damalige Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Kurt Beck, im Herbst 2006 in einem Interview von einer Unterschicht sprach, der das Aufstiegsstreben abhanden gekommen sei,[2] spitzte er nur zu, was intellektuell längst vorbereitet war. Stichwortgeber wie der Zeithistoriker Paul Nolte hatten da bereits längst eine „neue Klassengesellschaft“[3] entdeckt. Deren Spannungen, so Nolte, entsprächen jedoch nicht mehr denen des industriellen Kapitalismus, weil es sich primär um kulturelle Differenzierungen handele. Gescheiterte Integration von Migranten, Erosion der traditionellen Familienordnung und Zielgruppen-TV hätten eine Unterschichtenmentalität hervorgebracht, die sich längst gegenüber ihren sozioökonomischen Entstehungsbedingungen verselbstständigt habe. Üppige wohlfahrtsstaatliche Sicherungen trügen nur zur Konservierung solcher Mentalitäten bei. Deshalb sei es für die Mittelschichten an der Zeit, ein eigenes Klassenbewusstsein auszubilden: „Die Gesellschaft gewinnt nicht, wenn nur den Schwachen geholfen wird, die relativ Starken vernachlässigt werden.“[4] Eine Politik der Mitte müsse vielmehr darauf zielen, Steuern wie Pflicht-Sozialbeiträge niedrig zu halten und Transferleistungen abzubauen.

Nach dieser Ansicht waren die Hartz-Reformen genau die richtige Therapie, um den Virus der Leistungsunwilligkeit auch in der gesellschaftlichen Mitte zu bekämpfen: „Die kürzeren Bezugszeiten (von Arbeitslosengeld I,d.A.) haben dazu geführt, dass heute mehr Ältere noch im Berufsleben stehen. Andere Maßnahmen haben die nötige Flexibilität geschaffen, um Arbeitslose und gering Qualifizierte in Beschäftigung zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass wir in Deutschland heute so viele Erwerbstätige haben wie nie zuvor.“[5] Entscheidend sei ein „Mentalitätswechsel“, der „durch die kürzeren Bezugszeiten von Arbeitslosengeld befördert“ werde: „Dadurch stieg für viele Menschen der Druck, sich rasch nach einer neuen Arbeit umzuschauen, weil sonst sehr schnell Hartz-IV-Verhältnisse drohen.“

Den Faulen Beine machen: Die neue „Zone der Fürsorge“

Mit anderen Worten: Die Arbeitsmarktreformen haben den zu Passivität neigenden Unterschichtlern tatsächlich Beine gemacht. Und nicht nur das, ihr Beispiel ist Ansporn für alle, sich am besten schon vor oder unmittelbar nach einem Arbeitsplatzverlust rasch um einen neuen Job zu bemühen, ohne lange nach dessen Qualität und Bezahlung zu fragen. Genau für diesen „Mentalitätswechsel“ sollen die Hartz-Reformen verantwortlich sein.

Letztendlich ging es von Anfang an darum, den Status speziell von Langzeitarbeitslosen möglichst ungemütlich zu gestalten, um so den Anreiz für eine rasche Arbeitsaufnahme zu erhöhen. Was dies bedeutet, lässt sich mit einem Rückgriff auf Robert Castels bekannte Arbeitshypothese zur Prekarisierung moderner Arbeitsgesellschaften verdeutlichen.

Laut Castel spalten sich die Arbeitsgesellschaften der fortgeschrittenen Kapitalismen, vielleicht mit Ausnahme der skandinavischen Länder, in drei Zonen. Zwar befindet sich die Mehrzahl der Beschäftigten zumindest in Deutschland noch immer in einer „Zone der Integration“ mit unbefristeten Arbeitsverhältnissen und halbwegs intakten sozialen Netzen. Darunter expandiert jedoch eine „Zone der Prekarität“, die sich sowohl durch unsichere Beschäftigung, als auch durch erodierende soziale Netze auszeichnet. Am unteren Ende der Hierarchie entsteht eine „Zone der Entkoppelung“, in der sich Gruppen ohne reale Chance auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt befinden. Bei diesen von kollektiven Sicherungssystemen weitgehend „entkoppelten“ Gruppen kann der Ausschluss von regulärer Erwerbsarbeit mit außergewöhnlich porösen sozialen Netzen einhergehen.[6]

Eher beiläufig, für den hier interessierenden Problemkontext aber entscheidend, erwähnt Castel jedoch eine vierte Zone, die in der Rezeption seiner Studien bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Gemeint ist die „Zone der Fürsorge“[7], ein Bereich öffentlich geförderter Integrationsmaßnahmen, der zwischen der „Zone der Verwundbarkeit“ und der „Zone der Entkoppelung“ angesiedelt ist.

Diese „Zone“ erfüllt in der Arbeitsgesellschaft offenbar eine besondere Funktion. In und mit ihr wird öffentlich sichtbar geregelt, wie Rechte und Pflichten, Arbeitsanreize und Arbeitszwang zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese „vierte Zone“ öffentlicher Fürsorge stellt, neben sozial geförderten Tätigkeiten, auch jene Disziplinierungsmittel bereit, mit deren Hilfe Müßiggang und Faulenzerei bekämpft und der gesellschaftliche Zwang, seinen Lebensunterhalt durch eine legale Erwerbsarbeit verdienen zu müssen, exemplarisch durchgesetzt werden sollen.

Insofern steht diese „vierte Zone“ in einer Tradition von Institutionen, die bereits im Europa des 17. Jahrhunderts mit der Internierung von Arbeitslosen und Müßiggängern begann. Die frühen Arbeitshäuser und Internierungslager waren Einrichtungen, die ein von der Bedarfsorientierung abgelöster „Zwang zur Arbeit“, der sich nicht ausschließlich auf den Druck wirtschaftlicher Verhältnisse gründen konnte, funktional notwendig machte. Während ökonomischer Krisen dienten diese Einrichtungen dazu, die vermeintlich „Arbeitsscheuen einzusperren“; außerhalb der Krisen zielten sie darauf, „den Eingesperrten Arbeit zu geben und sie so in den Dienst der allgemeinen Prosperität zu stellen“.[8]

Auf einem völlig anderen Niveau sozialer Rechte und Pflichten erfüllt die zeitgenössische „Zone der Fürsorge“ eine ähnliche Funktion. Die Hartz-Gesetze haben ein spezifisches Set an Instrumenten bereitgestellt, um einen Umbau dieser „vierten Zone“ und eine Neujustierung ihrer gesellschaftlichen Funktionen zu ermöglichen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien im Folgenden die wichtigsten Disziplinierungsinstrumente bilanziert.

Die erste wesentliche Neuerung ist die Zusammenlegung der Hilfesysteme, von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, zum ALG II, besser bekannt als Hartz IV. Hatte die Hartz-Kommission ursprünglich eine Angleichung der Eckregelsätze auf dem Niveau der früheren Arbeitslosenhilfe empfohlen, so wurden diese in der Realität auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe zusammengeführt. Die Eckregelsätze liegen seit Januar 2013 bei 345 Euro (Partner in einer Bedarfsgemeinschaft, 382 Euro Alleinstehende), pro Kind gibt es einen altersabhängigen Zuschlag zwischen 224 und 289 Euro. Gemeinsam mit der Begrenzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I auf 12 bzw. 18 Monate hat die in der Öffentlichkeit noch immer hoch gelobte institutionelle „Innovation“ gravierende Folgen für die Betroffenen.

Die Veränderungen sind auch deshalb so einschneidend, weil sie mit erweiterten Befugnissen der Arbeitsverwaltungen verbunden sind, das Privatleben der Leistungsbezieherinnen und -bezieher zu kontrollieren und in deren Wohn- und Vermögensverhältnisse einzugreifen. So wird Wohnraum nur noch bis zu einer festgesetzten Wohngröße und Miethöhe finanziert. Werden diese Größenverhältnisse überschritten, stehen die Leistungsbezieher und -bezieherinnen vor der Wahl, innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten in eine angemessene Wohnung umzuziehen oder die Differenz zum Mietkostenzuschuss, den die Arbeitsverwaltung gewährt, privat auszugleichen.

Bei der zweiten zentralen Veränderung, der Prüfung der Hilfebedürftigkeit, wird seit 2005 ein besonderes Augenmerk auf private bzw. familiäre Finanzierungsmöglichkeiten gelegt. Eigenes Vermögen sowie Ersparnisse und Einkommen innerhalb der gesamten Bedarfsgemeinschaft werden mit dem möglichen Leistungsanspruch abgeglichen. Als Bedarfsgemeinschaft gelten nach den neuen rechtlichen Bestimmungen des SGB II alle Personen, die in einem Haushalt zusammenleben.

Wegen der Abkehr von einer individuellen Anspruchsberechtigung ist es seit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe deutlich schwieriger geworden, einen Leistungsanspruch anerkannt zu bekommen. Galt in der Arbeitslosenhilfe nur der Ehepartner oder die Ehepartnerin als versorgungspflichtig, ist nun die frühere Regelung zu Bedarfsgemeinschaften aus der Sozialhilfe gesetzliche Norm. Im Falle von Erwerbslosigkeit werden daher nicht nur das Einkommen bzw. Vermögen des Partners oder der Partnerin, sondern auch das der im Haushalt lebenden Kinder oder Eltern mit eingerechnet. Ehemals anrechnungsfreie Beträge wie das Kindergeld werden der Anspruchshöhe und -berechtigung des ALG II zugerechnet. Damit kann vor allem in Familien die tatsächliche Leistungshöhe deutlich nach unten korrigiert werden.

Des Weiteren wurde drittens dieErwerbsfähigkeit völlig neu definiert. Arbeitslosengeld II erhält, wer erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. In Deutschland wird, anders als in vergleichbaren europäischen Ländern, Erwerbsfähigkeit heute sehr weit definiert. Als erwerbsfähig gilt, wer mehr als drei Stunden täglich einer Arbeit nachgehen kann. Durch diese sehr weite Fassung von Erwerbsfähigkeit hat sich der Kreis der Sozialhilfebeziehenden spürbar reduziert. Nur ein sehr kleiner Teil von Kindern sowie von Erwachsenen unter 65 Jahren, die nicht erwerbsfähig, aber hilfebedürftig sind, kann weiterhin Sozialgeld beanspruchen. Der weitaus größere Teil der Personen, der früher Sozialhilfe erhalten hatte, wechselt in den ALG-II-Bezug. Die Arbeitsverwaltungen sehen sich daher nun auch mit der Aufgabe konfrontiert, mitunter gesundheitlich stark eingeschränkte „Kunden“ betreuen und vermitteln zu müssen.

Und schließlich viertens wurden strenge Zumutbarkeitsregeln und Sanktionen eingeführt. Von Leistungsbeziehern wird erwartet, dass sie bereit sind, ihren Wohnort für die Aufnahme einer Arbeit zu wechseln und dass sie unterhalb ihres Lohnniveaus und ihrer Qualifikation arbeiten. Als zumutbar gilt jede Arbeit, zu der Erwerbslose körperlich, geistig und seelisch in der Lage sind. Da die Ablehnung von Beschäftigungsangeboten Sanktionen zur Folge haben kann, sind die Betroffenen gezwungen, allenfalls minimale Ansprüche an die Entlohnung und die Qualität ihrer Arbeit zu stellen.

Viele Neuregelungen setzen bei der Kontrolle der Aktivitäten von Erwerbslosen an. Letztere müssen üblicherweise mit ihren Fallmanagern eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. In dieser Vereinbarung zwischen Arbeitssuchendem und Behörde wird schriftlich festgehalten, was der oder die Einzelne tun muss, um in Arbeit zu kommen. Die Vereinbarungen reichen von der Zahl der Bewerbungen bis zu den Meldeterminen bei der Arbeitsagentur. Halten sich Erwerbslose nicht an die Vereinbarungen, kann die Behörde Sanktionen verhängen, etwa die Kürzung des Leistungsbezugs. Sanktioniert werden unter anderem Meldeversäumnisse, die Weigerung, eine zumutbare Arbeit anzunehmen oder fortzuführen, die Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen oder die darin festgeschriebenen Pflichten zu erfüllen, aber auch unwirtschaftliches Verhalten und mangelnde Eigenbemühungen.

Dies sind nur einige der wichtigsten Reformmaßnahmen. Zum großen Instrumentenkasten der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik gehören auch der Umbau der Arbeitsverwaltungen sowie die arbeitsmarktpolitische Aufwertung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere der Leiharbeit. In ihrer Gesamtheit zielen die Arbeitsmarktreformen darauf, die „Zone der Fürsorge“ völlig neu zu definieren.

Die Wende vom Status erhaltenden zum bloß Existenz sichernden Wohlfahrtsstaat

Tatsächlich besitzen diese Maßnahmen, wie Thomas Straubhaar zu Recht feststellt, ein „systemveränderndes“ Potential – allerdings gerade nicht in der von ihm bejubelten positiven Weise. Ihr erklärtes Ziel war und ist es, den Übergang von einem Status erhaltenden zu einem lediglich Existenz sichernden Wohlfahrtsstaat einzuleiten. Der Staat soll nur noch im Sinne einer „delegativen Gewährleistungsverantwortung“[9] handeln. Den Bürgerinnen und Bürgern werden auf diese Weise Chancen eröffnet, die zu nutzen ihre individuelle, eigenverantwortliche Aufgabe ist. Staatliche Sicherheitsgarantien können nur noch in Anspruch genommen werden, sofern die Betroffenen Vor- und Eigenleistungen erbringen. Mit diesem „Systemwandel“ ist zugleich intendiert, dass Erwerbslose in gewissem Sinne als Unternehmer ihrer eigenen Beschäftigungsfähigkeit agieren sollen und müssen. Und in der Tat: Das Regime strenger Zumutbarkeit wirkt. Es wirkt jedoch anders, als von den Reformern intendiert. Es ist zum Katalysator gravierender sozialstruktureller Veränderungen geworden, die eine in ihrer sozialen Zusammensetzung neuartige soziale Großgruppe hervorgebracht haben. Diese neue Unterschicht ist jedoch keineswegs, wie von frühen Propagandisten wie Paul Nolte behauptet, das Produkt ausufernder Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern im Gegenteil: Sie entsteht gerade aufgrund des neuen Regimes strenger Zumutbarkeit. Das neue Arbeitsmarktregime inszeniert die Erwerbslosigkeit als Wettbewerb. Speziell die Vielzahl an Auswahlprüfungen, in welchen der Anspruch auf Hilfsbedürftigkeit immer wieder neu legitimiert werden muss, konstituiert einen Minderheitenstatus neuen Typs. Hier entscheidet sich, an der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität angesiedelt, in immer neuen Bewährungsproben, wer Zugang zur Gesellschaft der „guten“, weil anerkannten Bürger findet und wer von ihr ausgeschlossen ist.

Das neue Arbeitsmarktregime ist deshalb so durchschlagskräftig, weil es die Erwerbslosigkeit auf neue und veränderte Weise zur Bewährungsprobe macht. Leistungsbezieher wie Fallbearbeiter befinden sich in einem ständigen Wettkampf, bei dem die Starken den Schwachen diktieren, welches Leben sie zu führen haben. Im gesamten Prozess der Durchsetzung von Instrumenten und Verfahrensregeln einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik geht es im Grunde um die Etablierung von Prüfungsformaten, in denen sich entscheidet, ob eine Person weiterhin respektiertes Mitglied der Gesellschaft ist, oder ob sie sich dauerhaft mit einem Status arrangieren muss, der unterhalb einer „Schwelle der Sicherheit“ und der Respektabilität angesiedelt ist.

Entscheidend ist, dass von Wettkampfsystemen eine besondere Wirkung ausgeht. In jedem Wettbewerb gibt es notwendig Gewinner und Verlierer. Wer sich „in seiner Lebensführung den Bedingungen des kapitalistischen Erfolgs nicht anpasst, der geht unter oder kommt nicht hoch“.[10] Oder, wie Friedrich A. Hayek es ausdrückt: Die relativ rationaleren Individuen können alle übrigen „durch den Wettbewerb dazu zwingen, sie nachzuahmen, um bestehen zu können.“[11]

Auf die Wettkämpfe der Erwerbslosen übertragen bedeutet dies, dass diejenigen, die die Bewährungsproben des aktivierenden Arbeitsmarktregimes erfolgreich bewältigen, die Norm für jene produzieren, die den Sprung in bessere Verhältnisse nicht schaffen. In einer Arbeitsmarktkonstellation, bei der das Arbeitsangebot die Nachfrage nicht befriedigen kann, bedeutet dies, dass systematisch Verlierer erzeugt werden, deren Los es ist, die im Wettbewerb gesetzte Norm trotz aller Anstrengungen niemals erreichen zu können.

Da aber die Definitionsmacht über die Prüfungsformate völlig asymmetrisch verteilt ist, sehen die Prekarisierten und Ausgegrenzten kaum Möglichkeiten, ihre Lage kollektiv zu verbessern. Sie wähnen sich in einer stigmatisierten Minderheitenposition, die durch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik verstärkt, ja geradezu zementiert wird. Und je länger diese Situation andauert, desto größer wird der Zwang, sich individuell anzupassen und einen Überlebenshabitus ausbilden zu müssen, der sich für Stigmatisierungen durch die „Mehrheitsgesellschaft“ eignet. Das ist der Grund, weshalb äußerst heterogene soziale Gruppen gewissermaßen von außen und durch die sogenannte Mehrheitsgesellschaft politisch als neue Unterschicht konstruiert werden.

Zirkuläre Mobilität: Das neue Treten auf der Stelle

Ja, die Hartz-Gesetzgebung hat die Republik tatsächlich und vor allem sichtbar verändert – auch politisch: Sie hat Massenproteste und Montagsdemos ausgelöst, Wandlungen des Parteiensystems beeinflusst, der Sozialdemokratie eine Existenzkrise beschert und einer Partei links von ihr zum gesamtdeutschen Durchbruch verholfen.

Offen ist hingegen bis heute, ob der Rückgang der Arbeitslosenzahlen tatsächlich ein Resultat der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ist oder ob es sich, wofür in der Tat einiges spricht, nicht in erheblichem Maße um demographische und konjunkturelle Effekte handelt. Fest steht allerdings, dass das aktivierende Arbeitsmarktregime vor allem deshalb die Arbeitslosigkeit reduziert, weil es atypische und prekäre Beschäftigung fördert. Diese Problemverschiebung ermöglicht den Übergang von einer fordistischen Vollbeschäftigungs- zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft: Die offene Arbeitslosigkeit geht zurück und die Erwerbsbeteiligung nimmt zu. Im Unterschied zur Ära des fordistischen Kapitalismus kommt es jedoch nicht zu einer Vollbeschäftigung in dem Sinne, dass die Integration in den regulären Arbeitsmarkt über sozial gesicherte Normalarbeitsverhältnisse erfolgen würde. Im Gegenteil: Der Beschäftigungserfolg verdankt sich, auch und gerade in Deutschland, einer Expansion niedrig entlohnter, unsicherer Beschäftigungsverhältnisse.

Als gesichert kann inzwischen auch gelten, dass der Aktivierungsanspruch der Reformen bei den Leistungsbeziehern ohnehin offene Türen einrennt. Die große Mehrzahl der Erwerbslosen sucht von sich aus und unabhängig von strenger Zumutbarkeit nach einer auskömmlichen Erwerbsarbeit. Wo das nicht der Fall ist, sieht sich der Aktivierungsanspruch entweder mit individuellen Lagen konfrontiert, die eine Arbeitsaufnahme nicht zulassen (Krankheit, Pflege anderer Personen, Kindererziehung etc.), oder er trifft auf kleine Minderheiten, die durchaus fähig sind, Sanktionen zu umgehen oder zu unterlaufen. Es sind also keineswegs in erster Linie passgenaue Fördermaßnahmen oder strenge Zumutbarkeitsregeln, die ein marktgerechtes Verhalten der Erwerbslosen motivieren oder erzwingen. Das aktivierende Arbeitsmarktregime verhält sich im Grunde genommen parasitär: Es beutet Dispositionen und Orientierungen aus, die überwiegend bereits lebensgeschichtlich angeeignet sind und die nur deshalb Probleme bereiten, weil es ihnen an Realisierungschancen, sprich: an halbwegs akzeptabler Erwerbsarbeit mangelt.

Und ein Weiteres blendet das neoklassische Modell mit seiner TINA-Rhetorik – „Zu den Arbeitsmarktreformen gibt es keine Alternative!“ – völlig aus, nämlich die sozialen und politischen Folgekosten der Aktivierungspolitik. Wenig spricht für eine funktionierende Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt, viel hingegen für eine Verstetigung von Lebenslagen, in denen sich soziale Mobilität auf Bewegung zwischen prekärem Job, sozial geförderter Tätigkeit und Erwerbslosigkeit beschränkt. Es kommt durchaus, aufgrund der Eigenaktivitäten der Leistungsbeziehenden, zu Bewegung in Permanenz; doch die soziale Mobilität bleibt eine zirkulare, die nicht aus dem Sektor prekärer Lebenslagen hinausführt. Man bemüht sich, strampelt sich ab und tritt letztendlich dennoch auf der Stelle.

Für die Mehrzahl der Leistungsbeziehenden ist es enorm schwer, aus dem ALG-II-Bezug heraus den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Wie die Arbeitsmarktstatistik belegt, sinkt die Zahl der sogenannten Langzeitbezieher von ALG II trotz Rekorderwerbsbeteiligung denn auch nur sehr langsam. Im Januar 2013 lag die Zahl der Bezieher von ALG II bei 4 375 000 (davon 2 017 000 Erwerbslose); das waren 8,1 Prozent der in Deutschland lebenden Personen und nur 94 000 weniger als im Vorjahr. Auch die Unterbeschäftigung ist nur um 78 000 Personen auf 4 026 000 Personen zurückgegangen.[12]

Sagen diese Zahlen für sich genommen noch wenig aus, so wird das Phänomen einer zirkularen Mobilität noch plastischer, wenn man sich folgendes verdeutlicht. Zwischen September 2011 und August 2012 ist es 1,97 Mio. Personen gelungen, ihre Hilfebedürftigkeit zumindest vorübergehend zu beenden; zugleich sind aber auch 1,76 Mio. erwerbsfähige Personen neu in der Grundsicherung gelandet. Die Abgangsrate aus der Hilfebedürftigkeit lag mit 3,7 Prozent um 0,3 Prozent niedriger als im Vorjahreszeitraum. Entscheidend ist jedoch, dass mehr als 50 Prozent der Neuzugänge während der zurückliegenden 12 Monate bereits Leistungen aus der Grundsicherung empfangen hatten, ein Drittel gar innerhalb der zurückliegenden drei Monate. Von den Erwerbsfähigen, die im Jahreszeitraum den Leistungsbezug beenden konnten, war ein Viertel innerhalb von drei Monaten erneut auf Transfers aus der Grundsicherung angewiesen (minus 0,3 Prozent gegenüber dem Vergleichsjahr).[13] Auch dies spricht für eine dramatische Verfestigung von Erwerbslagen, die einen sozial sehr heterogenen Personenkreis dauerhaft an oder unter die Schwelle der Fürsorgeabhängigkeit drängt.

Die eigentlichen sozialen Kosten der Reform werden auch deshalb nur sichtbar werden, wenn man die neue Mikrophysik der Machtbeziehungen genau durchleuchtet, die das Reformpaket am Arbeitsmarkt etabliert hat. Erst dann wird deutlich, was das ökonomische Rationalitätskalkül völlig unbeachtet lässt – nämlich die dramatische Verletzung des legitimen Anspruchs auf Unversehrtheit, auf Gleichbehandlung und Gleichwertigkeit aller Betroffenen, der Erwerbslosen, prekär Beschäftigten und Leistungsbeziehenden.

 

*Der Text basiert auf dem einleitenden Kapitel der Studie von Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth u.a., Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Wirkungen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, die im Frühjahr 2013 im Campus Verlag erscheint.

[1] Hier und im Folgenden: Thomas Straubhaar im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (FAZ), 28.8.2012.

[2] Interview mit Kurt Beck in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, 8.10.2006.

[3] Paul Nolte, Riskante Moderne. Die Deutschen und der Neue Kapitalismus, München 2006, S. 96.

[4] Paul Nolte und Dagmar Hilpert, Wandel und Selbstbehauptung. Die gesellschaftliche Mitte in historischer Perspektive, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt 2007, S. 11-103, hier S. 98.

[5] Straubhaar, a.a.O.

[6] Vgl. Robert Castel, Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000, S. 360 f.

[7] Ebd., S. 361.

[8] Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M. 1996, S. 80 f., 85.

[9] Berthold Vogel, Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand. Für ein verändertes Vokabular sozialer Ungleichheit, in: Heinz Bude und Andreas Willisch (Hg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006, S. 342-355, hier S. 352.

[10] Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988, S. 56.

[11] Friedrich August von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Landsberg am Lech 1981, S. 109.

[12] Bundesagentur für Arbeit, Presseinfo 008, 31.1.2013.

[13] Bundesagentur für Arbeit. Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland. Monatsbericht Dezember und Jahr 2012, Nürnberg 2013, S. 28 f.

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