Der Blues des weißen Mannes

Neue LP von »Eels«

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer keinen Halt im Leben findet, schlägt Pflöcke zur Vergewisserung ein: Auf der neuen Platte der Eels bestehen diese aus drei über die LP verteilten Songs: »Where I’m at«, »Where I’m from« und »Where I’m going«. Wenn sich aber ein Künstler fragt, wo er ist, herkommt oder hingeht und der der Albumtitel dann noch »The Cautionary Tales of Mark Oliver Everett« lautet (»Die warnenden Geschichten von ...«) - dann ist die Sorge vor einer peinlichen (und uninteressanten) öffentlichen Selbstbespiegelung berechtigt.

Doch die US-Amerikaner um den zerknitterten und von zahlreichen Schicksalsschlägen gebeutelten Multiinstrumentalisten, Sänger und Songwriter Mark Oliver Everett nehmen die Hürde der inhaltlichen Selbstoffenbarung mühelos. Und auch der (musikalische) Kitsch, der sich in die eine oder andere Songperle einschleicht, wird spätestens durch Everetts nach schwarzem Tabak, Einsamkeit und Großstadt klingende Reibeisenstimme wieder in die Balance gebracht.

Die Kritiker- und Publikumslieblinge gefallen sich im Wechselbad: Auf eine wütende Indie-Rock-Platte folgt verlässlich die zarte Spielart. Und so schwankt »The Cautionary Tales« musikalisch zwischen reduziertem Schrammel-Folk, bei dem sich die Stimme einzig auf dünne und verlorene E-Gitarren-Akkorde stützen kann, und orchestralem Pop mit geschmackvollen Streicher-Arrangements und sparsamem Schlagzeug.

Man hat das Gefühl, diese Melodien schon gehört zu haben - in einer längst vergessenen Vergangenheit vielleicht, auf alten Eels-Alben oder in einem früheren Leben. Auf der neuen Platte sind zudem nicht nur aktuelle Songs wie »Lockdown Hurricane« in verschiedenen Instrumentierungen zu hören, später werden auch Live-Versionen von eigenen Klassikern kredenzt. Diese Mischung aus Vertrautheit bei neuen Songs und der Überraschung bei älteren Stücken versetzt den Hörer in einen Zustand der Zeitlosigkeit: Zufrieden kreist der Hörer als Mond um den Eels-Planeten - und immer knackt oder rauscht es irgendwo.

Eels spielen nicht nur den Soundtrack zu Vollbart, Brille und Röhrenhose. Die Traurigkeit der neuen Platte ist auch wirksames Gegengift gegen Frühlings-Bussi-Bussi, sie wappnet gut gegen den ästhetischen Terror vollbesetzter Latte-Macchiato-Terrassen. Wem also Tom Waits zu zerstört klingt, der hat hier die bekömmliche, zeitgemäße Variante des zerknautschten Großstadt-Poeten.

Die Platte ist ein »My Way« mit umgekehrten Vorzeichen: Kein prahlender Stolz, sich treu geblieben zu sein - sondern die niederschmetternde Erkenntnis, die im Leben möglichen Fehler allesamt begangen zu haben.

Die Platte, das sind 23 Songs und nur fünf Ausreißer. Hier trifft sich berührende musikalische Schlichtheit mit betont nachlässigem Lo-Fi-Sound. Das ist der Blues des weißen Mannes.

Eels: »The Cautionary Tales of Mark Oliver Everett« (E Works / PIAS)

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