Ausgabe April 2012

Der Prediger des guten Kapitalismus

Auch wenn das „Buch des Monats“ normalerweise einer Empfehlung vorbehalten ist, Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Um eine Ausnahme handelt es sich bei der „Ökonomie von Gut und Böse“ von Tomáš Sedláček. Von dem Buch des jungen Ökonomen aus Tschechien, der zeitweilig Wirtschaftsberater von Václav Havel war, sind einen Monat nach seinem Erscheinen auf Deutsch bereits über 30 000 Exemplare verkauft, es rangiert unter den Top 20 der „Spiegel“-Bestseller-Liste und wurde von den Feuilletons überwiegend wohlwollend aufgenommen. „Die Zeit“ hatte schon vor dem Erscheinen den Tenor vorgegeben. Bei zarter Kritik im Detail wird Sedláček zum kommenden Mann der Ökonomie stilisiert: „Dieses Buch lässt sich als Ausdruck neuen ökonomischen Denkens verstehen.“[1]

Was aber ist dieses Neue? Sedláčeks zentrale These ist, dass die Wirtschaft keine wertfreie Wissenschaft sei, es gehe in der Ökonomie letztlich immer um die Frage nach Gut und Böse. Das will er historisch nachweisen, indem er erstens beschreibt, wie in den alten Mythen, Religionen und Philosophien über die Ökonomie gedacht wurde, um dann zweitens zu zeigen, was von diesen Mythen, Religionen und anderen alten Traditionen noch in der heutigen Ökonomie steckt. Dafür tritt Sedláček eine Tour d’horizon durch die Geschichte des ökonomischen Denkens an, angefangen beim Gilgamesch-Epos bis zur jüngsten Finanzkrise. Dass dies ein mehr als ehrgeiziges Unterfangen ist, muss nicht schlecht sein. Im Gegenteil: Dem Vorhaben kann man nur viel Erfolg wünschen, denn die Ökonomie über ihre kulturellen Wurzeln aufzuklären und dabei zu zeigen, was alles an Glaubensgehalten und Werturteilen in der vermeintlich wertfreien Wissenschaft der Ökonomie steckt, ist in der Tat ein notwendiges und lohnendes Ziel. Allein: Wenn man so ein Unterfangen angeht, müsste man schon ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Seriosität mitbringen, die Sedláček leider völlig abgeht. Er projiziert in die alten Texte des Gilgamesch-Epos, der Bibel und der griechischen Klassiker allerlei Vorstellungen hinein, die eindeutig späteren Ursprungs sind: Die Ideen von Fortschritt, Effizienz, Nutzenmaximierung und Konjunkturzyklen waren den Menschen der Antike fremd. Sedláček aber nähert sich den alten Texten wie ein schlechter Prediger, der nach der Verlesung der Predigt von der Kanzel fragt: „Was will uns der Apostel Paulus damit sagen?“, so als spreche Paulus unmittelbar zu einer Kirchengemeinde im Jahr 2012. Genauso unmittelbar sieht sich Sedláček den alten Texten gegenüber. Ihren sozialgeschichtlichen Kontext lässt er vollkommen außer Acht. So kommt er etwa zu dem Ergebnis, „dass das Rätsel des Konsums uns schon immer begleitet hat, dass wir Menschen von Natur aus [...] immer nach mehr streben, selbst wenn um uns herum große Fülle herrscht. Diese abscheuliche Gier, die seit Pandora und Eva von uns Besitz ergriffen hat, ist mit der Plackerei der Arbeit verbunden.“ (S. 398)

Eva und das Problem des Apfelkonsums – man könnte darüber lachen. Aber das Ziel von Sedláček, und da hört der Humor auf, ist ein ideologisches: Die Ideen der modernen Ökonomie werden zu Archetypen des Menschlichen und Natürlichen, zu anthropologischen Konstanten erklärt. Was Sedláček für einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ bzw. mit Michael Novak für einen „demokratischen Kapitalismus“ hält, wird von ihm kulturgeschichtlich und auch religiös legitimiert: „Das Christentum ist die in unserer europäisch-amerikanischen Zivilisation führende Religion. Die meisten unserer gesellschaftlichen und ökonomischen Ideale stammen aus ihm oder wurden aus ihm abgeleitet.“ (S. 212)

Dabei knirscht es besonders, wenn er ausgerechnet der jüdisch-christlichen Tradition jene Vorstellung vom Privateigentum unterjubeln will, wie John Locke sie ausformuliert hat, wenn er die antisemitischen Stereotype von Werner Sombart und anderen über die Juden als Urheber des Kapitalismus unhinterfragt wiedergibt oder wenn er Thomas von Aquin zum Vorläufer der unsichtbaren Hand des Marktes macht: Aquin musste das theologische Problem der Allmacht Gottes lösen, wenn er sagte, dass Gottes Vorsehung auch das Schlechte zum Guten wandeln könne. Damit vertrat er keineswegs die Vorstellung, dass aus der Verfolgung eigennütziger Interessen das Gemeinwohl entstehe. Das Gemeinwohl konnte für Thomas von Aquin wie für das Gros der mittelalterlichen Tradition immer nur durch die weise Beschränkung privater Interessen durchgesetzt werden. Weil Sedláček aber immer nur seine eigenen Vorstellungen in die alten Texte projiziert, kann er weder Verbindungslinien noch Brüche in der geistesgeschichtlichen Entwicklung korrekt erfassen; vor allem nicht den fundamentalen Bruch zwischen dem christlich geprägten Mittelalter und der europäischen Moderne.

Selbst auf dem Kerngebiet der ökonomischen Tradition findet er nicht das, was zu seinem Programm passt. Zwar zitiert Sedláček die Beschreibungen der stoischen Philosophie durch Adam Smith in seinem Kapitel über die antiken Traditionen. Als er dann aber Adam Smith charakterisiert, hält er es offensichtlich nicht für erwähnenswert, dass dieser nicht nur ein Kenner, sondern auch ein Bekenner einer stoisch inspirierten Kosmo-Theologie war. Hier hätte er ein reiches Feld vorgefunden, um den Einfluss von philosophisch-theologischen Ideen auf die moderne Wirtschaftstheorie zu analysieren. Das Feld lässt er aber unbestellt. Was kommt bei Sedláčeks Beschreibungen für heute heraus? Schlechte Allerweltsweisheiten wie die, dass man in guten Zeiten mehr sparen solle, damit man in schlechten etwas habe, wie uns die Josephs-Geschichte von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren in der Bibel erkläre – die Sedláček fälschlich als ersten dokumentierten Konjunkturzyklus deutet, obwohl es ein Vegetationszyklus war – und dass man gleichzeitig, auch wenn es ungerecht sei, den Banken in der Finanzkrise sinnvollerweise ihre Schulden vergeben müsse; ein Thema, das ja auch schon in der Bibel vorkomme.

Man könnte zum Kulturpessimisten werden angesichts der Tatsache, dass es dem gehobenen Feuilleton offensichtlich nicht auffällt, wenn jemand derart fortgesetzten Unfug schreibt. Dabei waren alle gewarnt: Schon „Die Zeit“ hatte darauf hingewiesen, dass Sedláček eine frühe Fassung des Buches an der Karls-Universität in Prag als Dissertation eingereicht habe; diese aber abgelehnt worden sei aufgrund ihres fragwürdigen wissenschaftlichen Wertes. Das alles ist umso bedauerlicher, da Sedláčeks Thema und Aufgabenstellung sinnvoll und notwendig sind. Eine philosophisch und sozialgeschichtlich informierte Geschichte des ökonomischen Denkens, die nicht erst bei den Merkantilisten einsetzt, könnte zeigen, dass es Kategorien jenseits des Kapitalismus gibt, wie man sich Wirtschaft vorstellen kann. Das würde den Möglichkeitsraum unserer verengten Debatten über die Wirtschaft entscheidend erweitern. Es könnte auch dabei helfen, die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft zu fundieren und aus ihrer einseitigen und problematischen Anlehnung an die Mathematik zu befreien.

Wenn dies Projekt freilich sozialgeschichtlich grundiert ist, dann zeitigt solch eine Geschichte des ökonomischen Denkens den paradoxen Effekt, dass sie nicht nur neue Denkmöglichkeiten präsentiert, sondern diese zugleich auch desillusioniert: Es gibt Gründe dafür, warum in kapitalistischen Verhältnissen so und nicht mehr anders über die Wirtschaft gedacht wird. Es gibt daher kein einfaches Zurück zu alten Antworten, und ein Zurück zu vorkapitalistischen Zeiten wäre überdies auch keineswegs wünschenswert. Es geht also um die anspruchsvolle Aufgabe, das, was im Prozess der Moderne liegen geblieben ist, unter gegenwärtigen Voraussetzungen neu zu bedenken und daraus
Orientierung für den dringend erforderlichen Umbau der Wirtschaft zu gewinnen. Wie müsste eine Ökonomie aussehen, die den alten europäischen Traditionen von Gerechtigkeit, Gemeinwohl und menschlichem Maß gerecht wird, um die anhaltende Schizophrenie zwischen Bourgeois und Citoyen wenigstens zu verringern? Unbescheiden sei darauf hingewiesen, dass der Rezensent mit seinem Buch „Gewinn in alle Ewigkeit. Kapitalismus als Religion“ in diesem Sinne einen Versuch über einige Wendepunkte im Wirtschaftsdenken zu Beginn der Neuzeit vorgelegt hat. Und zum Glück gibt es in jüngerer Zeit auch andere, die Ähnliches tun. Sedláček aber gehört leider nicht dazu. Er will lediglich seine Vorstellungen von Kapitalismus kulturell legitimieren.

Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse. Aus dem Amerikanischen von Ingrid Proß-Gill, München 2012, 448 S., 24,90 Euro.

[1]    Elisabeth von Thadden und Camillo von Müller, „Wir haben so viel“, in: „Die Zeit“, 26.1.2012.

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