Ausgabe April 2012

Der Rating-Komplex

Wie Kapital- und Staatsmacht den Markt manipulieren

Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise stehen die Ratingagenturen im Schlaglicht der medialen und politischen Aufmerksamkeit. Genauer gesagt: Die Aufmerksamkeit gilt drei Ratingagenturen, den „Big Three“ Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Sie sind seit einem Jahrhundert Akteure der Finanzindustrie, zunächst vor allem in den USA und im Finanzzentrum des Kapitalismus, in der New Yorker Wall Street, doch schon seit über drei Jahrzehnten als integrierte Akteure der globalisierten Wirtschaft, in den sogenannten Entwicklungsländern ebenso wie in den sogenannten entwickelten Staaten. Heute erscheinen sie nahezu allmächtig, können (scheinbar) über Staaten und ganze Staatengruppen entscheiden. Und was hinzu kommt: Ratingagenturen wurden für ihre zahl- und folgenreichen falschen, oftmals fast willkürlichen Ratings auf der ganzen Welt noch nie zur Rechenschaft gezogen. Wie aber kann es sein, dass sie die längste Zeit ihrer Zeit im Verborgenen wirkten?

Beleuchtet man die bisher allzu oft ausgeblendete Frage „Wem gehören die drei großen Ratingagenturen überhaupt?“ stellt sich heraus: Hinter ihnen verbergen sich dieselben Eigentümer, die auch Miteigentümer der großen Banken und multinationalen Konzerne sind. Damit eröffnet sich eine ganz andere Sicht auf die Kriterien und Praktiken der Ratingagenturen: Sie handeln nicht selbstständig, wie die veröffentlichte Meinung unterstellt, sondern sie sind der verlängerte Arm ihrer Eigentümer.

Ratingagenturen bewerten die Wahrscheinlichkeit von Kreditausfällen bei Unternehmen und Staaten, doch sie sind keineswegs daran interessiert, dass die Kreditnehmer ihre Kredite vollständig zurückzahlen. So werden gerade die größten Schuldenmacher am besten bewertet, allerdings unter der Bedingung, dass sie neue Kredite bekommen und die Zinsen zahlen können. Nicht Schuldenabbau, sondern systemische Überschuldung vorteilhaft zu bewerten, ist der Auftrag der Agenturen. Und dabei sind die Schulden, beziehungsweise die Kredite, nur die Basis für weitergehende Finanzoperationen, für Derivate, mithilfe derer die Eigentümer der Ratingagenturen erst ihre großen Gewinne machen.

So wird auch der Verlauf von Unternehmens- und Staatskrisen verständlich, die aus der Sicht der Agenturen und ihrer Eigentümer zu den besonders lukrativen Situationen gehören. Und so wird auch verständlich, dass die Ratings keine „objektiven“ Bewertungen sind, sondern einseitige, strategiebedingte Instrumente mächtiger Finanzakteure.

Ratingagenturen und das Mandat der Regierungen

Ihre Macht beziehen die Agenturen aber nicht nur aus ihren Eigentümern, sondern auch aus einer zweiten Quelle: Die Regierungen und gesetzgebenden Parlamente des westlichen Kapitalismus überließen ihnen die hoheitliche Aufgabe, das Kreditwesen zu regulieren. Dieses in den USA entwickelte privat-staatliche System wurde dann seit Mitte der 70er Jahre globalisiert, also in nationale Regularien, in das internationale Zentralbankensystem, in den Internationalen Währungsfonds IWF, in die Europäische Zentralbank wie auch in die Alltagspraxis der Finanzindustrie aufgenommen. Die Propagandisten der „Deregulierung“ haben also gar nicht, wie sie sagen, das Finanzsystem dereguliert, sondern sie haben auch mithilfe der Ratingagenturen ein neues, nun eben privat dominiertes Regulierungssystem geschaffen, das staatlich gestützt wird.

Die bis heute immer weiter ausgebaute, führende Rolle der Ratingagenturen begann 1975. Damals wurden ihre Bewertungen zum allgemeinen Maßstab der Wirtschaft. Die Börsenaufsicht beschloss, dass Börsenmakler ihre Kapitalrückstellungen danach richten müssen, ob die von ihnen gehandelten Wertpapiere investment grade oder non investment grade sind. Anleihen und verbriefte Hypothekenkredite können seitdem im vereinfachten Verfahren auf den Markt gebracht werden, wenn zwei Agenturen ihnen investment grade zuerkennen. Das Arbeitsministerium legte fest, dass Pensionsfonds nur Wertpapiere kaufen dürfen, die mindestens mit A bewertet sind. Investment- und andere Fonds dürfen nur begrenzt in spekulative Anleihen investieren. Unternehmen müssen mehr Zinsen zahlen, je schlechter ihr Rating ausfällt. So gingen die Ratings in immer mehr Finanzgesetze und Finanzpraktiken ein.

Ebenfalls 1975 lizenzierte die US-Börsenaufsicht SEC (Securities and Exchange Commission) in einem nichtöffentlichen Verfahren die sieben damals an der Wall Street bekanntesten Ratingagenturen. Sie erhielten das Gütesiegel Nationally Recognised Statistical Rating Organisation (NRSRO, staatlich anerkannte statistische Ratingagentur). Aus ihnen entstanden durch Fusionen innerhalb kurzer Zeit die drei führenden Agenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Danach ließ die SEC keine weiteren Agenturen mehr zu. Erst wieder 2003 bekam die kanadische Agentur Dominion Bonds Rating Service (DBRS) als vierte eine Lizenz, was aber an der Marktbeherrschung durch die Großen Drei nichts änderte. Allerdings bleibt Fitch bis heute in dieser exklusiven Runde die Agentur mit dem geringsten Einfluss; die Marktverteilung änderte sich nur wenig: Standard & Poor’s bleibt bei etwa 44 Prozent, Moody’s bei etwa 38 Prozent, Fitch bei etwa 15 Prozent.

Die Kriterien für die Lizenzierung dieser Agenturen waren: finanzielle Ressourcen, um unabhängig von den bewerteten Unternehmen zu sein, Zahl und Qualifikation der Mitarbeiter und interne Kontrollprozeduren für die Vermeidung von Insidergeschäften.[1] Doch diese Kriterien waren schon damals höchst zweifelhaft; insbesondere die Forderung nach finanzieller Unabhängigkeit der Agenturen enthält einen simplen Widerspruch, da die SEC ja gleichzeitig der auf die auftraggebenden Unternehmen umgestellten Finanzierung der Ratings zustimmte. Und die SEC fragte schon damals nicht, wem die Agenturen gehören und ob nicht vor allem dadurch die Interessenkonflikte systemisch sind und bleiben.

Die SEC legte damals des Weiteren fest: US-Unternehmen müssen sich einem Rating von mindestens zwei der Agenturen unterziehen, bevor sie im US-Kapitalmarkt Kredite aufnehmen können.[2] Zugleich befreite sie aber die Agenturen von jeglicher Haftung, auch im Falle des Betrugs.[3] Außerdem übernahmen die Agenturen zentrale Aufgaben in der und für die Wall Street. So führt etwa S&P seit 1969 das Registrierungs- und Identifizierungssystem CUSIP (Committee for Uniform Security Identification Procedures), ohne das die vielen Millionen der täglich getätigten Finanztransaktionen nicht zu bewältigen wären.[4] Die Konsequenz: Die Agenturen rückten zu Dauerberatern der US-Regierungen auf. So war der Präsident der S&P-Muttergesellschaft, Harold McGraw, Berater von George W. Bush.[5] Als ehemaliger Vorsitzender des US-Business-Round-Table[6] organisierte McGraw sofort und diskret nach Amtsantritt von Präsident Barack Obama ein entsprechendes Treffen. Dabei diskutierte eine ausgewählte Gruppe von US-Unternehmenschefs mit Obama, wie sie der neuen Regierung „helfen“ können, um die „Grundlage für die globale Ökonomie zu stärken“.[7]

Auf diese Weise erhielten die Agenturen vom Staat eine exklusive Wächter- und Gestaltungsstellung im US-Finanz-, Wirtschafts- und Regierungssystem und wuchsen in das System der Kapitalmacht hinein. Und damit nicht genug: Schon ab 1971 bis 1976 verschafften sich die Finanzakteure auch ihrerseits einen erhöhten Einfluss auf die Politik. Mehrere Gesetze erlaubten den Privatunternehmen Parteien und Politikern unbegrenzt hohe Spenden zukommen zu lassen. 1976 urteilte der Supreme Court, dass Unternehmen den Schutz des First Amendment, also des ersten Zusatzes zur US-Verfassung, genießen: Ihre Spenden sind durch das Recht auf freie Ausübung der Religion und auf die freie Meinungsäußerung geschützt.[8] Unternehmen sind in dieser Hinsicht vor dem Gesetz wie Bürger zu behandeln. Das gilt bis heute.

Staatlicher Standortschutz

Die Agenturen haben ihre Hauptsitze in New York und London, also in den beiden wichtigsten operativen Zentren der gegenwärtigen Finanzindustrie. Dort genießen sie zunächst den Schutz der beiden Staaten USA und Großbritannien. Dieser Schutz wird zudem noch verstärkt durch weitere Privilegien direkt vor Ort. So hat der Staat New York eine besonders finanzfreundliche Gesetzeslage, die sich von anderen US-Staaten unterscheidet; an der Wall Street gelten Wirtschafts- und Finanzverträge auch dann, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, dass sie ganz oder teilweise US-Bundesrecht widersprechen. Die Regierung oder eine Zentralbehörde in Washington kann in geschlossene Verträge nicht eingreifen, Ausnahmen gelten nur für den Kriegsfall.[9] Zudem hält die von der Wall Street beherrschte Federal Reserve Bank of New York ihre schützende Hand über das Finanzzentrum.[10]

Ähnlich ist es in London: Neben der generellen staatlichen Förderung des Finanzplatzes durch die englischen Regierungen stellt das Bankenzentrum im Herzen Londons, die City of London, ein besonderes Territorium dar. Die mit Sonderprivilegien ausgestattete Finanzenklave war durch die Tory-Regierung unter der „konservativen“ Ministerpräsidentin Margaret Thatcher nach dem Vorbild von Milton Friedman und seinen „Chicago Boys“ radikal dereguliert worden. Das brachte den Bankern, Wirtschaftsprüfern, Wirtschaftskanzleien und Ratingagenturen so viele Privilegien und Freiheiten (das Territorium verfügt beispielsweise über eine eigene Polizei und einen eigenen Bürgermeister), dass sie von New York aus Niederlassungen in der City of London gründeten. Sie konnten dort Möglichkeiten nutzen, die sie damals in New York (noch) nicht (ganz) hatten.[11]

Doch das war nur der Anfang. Im Zuge der „Globalisierung“ setzten die USA für ihre drei Agenturen auch immer mehr globale Funktionen durch.

Staaten-Rating

Mit der Globalisierung der deregulierten US-Finanzindustrie wurden neben den Banken und Privatunternehmen auch Staaten, Kommunen, Städte und öffentliche Unternehmen dem Ratingsystem unterworfen (sovereign rating). Die kapitalistischen Staaten, auch außerhalb der USA, verloren durch die neoliberalen Praktiken immer mehr Einnahmen: durch die schrittweise abgesenkten Gewinn- und Einkommenssteuern, durch die abgesenkten Löhne und Gehälter, durch wachsende Arbeitslosigkeit und durch die gestiegenen direkten und indirekten Subventionen an die Privatwirtschaft.

So wuchs die Staatsverschuldung an, auch die „entwickelten“ Staaten wurden Objekt der Investoren-Begierde: Hier ließ sich ein lukratives, in irdischen Dimensionen sozusagen „ewiges“ Geschäftsfeld erschließen. Je mehr und je länger die Staaten unrettbar verschuldet sind und bleiben, desto lukrativer.

Im Jahre 1975 wurden zunächst fünf Staaten und im Jahre 1980 dann acht Staaten durch die drei Agenturen bewertet. Aber schon 1990 wurden 68 Staaten benotet, 2000 waren es bereits 191, und seit 2002 sind es praktisch alle Staaten.[12]

Hinzu kamen weitere Ratings für Wirtschaftseinheiten innerhalb der Staaten, je nach Größe und wirtschaftlich-finanzieller Bedeutung. Wenn wir etwa von Deutschland ausgehen, dann wurden später auch die einzelnen Bundesländer, Stadtwerke und große Städte sowie staatliche beziehungsweise staatlich beherrschte Unternehmen wie die Deutsche Bahn dem Ratingverfahren unterworfen – wie in den USA schon lange üblich. Inzwischen greift das Rating auch auf kleinere Kommunen über.

Die Expansion der Agenturen

Aus den ursprünglichen Familienbetrieben der Gründerzeit entwickelten sich die Agenturen nach 1975 schrittweise zu Weltkonzernen mit der für die Finanzbranche typischen Organisationsstruktur. Und sie erweiterten auch ihr Geschäftsfeld wesentlich: Die Ratingagenturen verkauften ihren Kunden nicht nur Ratings, sondern viele weitere Dienstleistungen (Risikomanagement für Banken und Unternehmen, Schulungen, Finanzsoftware, Marktanalysen). Das geschah durch verschiedene Tochterunternehmen. So entwickelten sie weitere Geschäftsbeziehungen zu den Kunden, womit sich das Insiderverhältnis noch enger gestaltet.

Von London aus wandten die Agenturen sich zunächst an europäische Unternehmen und boten ihnen Ratings an: Das würde ihre Geschäfte vor allem in den USA begünstigen. Die Agenturen schickten oftmals vorsorglich gleich eine Rechnung mit. Falls die Unternehmen den Ratingauftrag nicht erteilten, könne man auch ohne Auftrag ein Rating veröffentlichen; das falle dann allerdings – so sollte das wohl verstanden werden – nicht unbedingt besser aus.[13] Internationale Unternehmen, die von Europa, Asien oder anderswo in den USA tätig werden wollten und dort günstige Großkredite suchten, nahmen ein solches Angebot, „das man nicht ablehnen kann“, zumeist an.

Nach dem Zusammenbruch der DDR eröffneten die Agenturen Niederlassungen auch in Deutschland: Moody’s kam 1991, Standard & Poor’s folgte 1992, Fitch schließlich 1999. Ihren Sitz wählten alle in der Bankenstadt Frankfurt am Main. Gleichzeitig etablierten sie sich in den wichtigen europäischen Hauptstädten wie Brüssel, Paris, Rom, Moskau. Soweit hier schon ähnliche Agenturen bestanden, kauften sie diese auf, so erwarb S&P die Agence d’Évaluation Financière (ADEF) in Frankreich. Besonders in Asien kauften sie viele Agenturen auf, benannten sie um oder erwarben Anteile.

Die Niederlassungen in Peking sitzen etwas auf dem Trockenen, da die chinesische Finanzaufsicht eine eigene Strategie verfolgt und chinesische Unternehmen und staatliche Stellen kaum Informationen herausrücken; deshalb erwarben die Großen Drei auch Anteile an chinesischen Agenturen, um wenigstens auf diese Weise mitmischen zu können.

Die „Big Three“ bilden – mit staatlicher Hilfe – ein Oligopol, sie beherrschen zu etwa 95 Prozent den Rating-Weltmarkt: Standard & Poor’s etwa 43 Prozent, Moody’s etwa 37 Prozent, Fitch etwa 15 Prozent. Diese Marktaufteilung hatte sich schon in den USA herausgebildet und blieb auch in der globalen Expansion gleich. Fitch Ratings betreibt heute 51 ausländische Niederlassungen und beschäftigt insgesamt 2100 Mitarbeiter. Moody’s hat 80 Niederlassungen in 64 Ländern und 4000 Beschäftigte. Standard & Poor’s hat Standorte in 23 Staaten außerhalb der USA und 8000 Beschäftigte. Die meisten Niederlassungen bestehen in Europa, dann – in dieser Reihenfolge – in Asien, im Mittleren Osten, in Lateinamerika und einige in Afrika. Vorsichtigen Schätzungen zufolge ist davon auszugehen, dass „Moody’s und Standard & Poor’s über die von ihnen erteilten Ratings den Fluss von rund 80 Prozent des gesamten Weltkapitals kontrollieren“.[14] 2004 stellte der damalige S&P-Vizepräsident Vic Tillmann stolz und gewiss zutreffend fest: „Wir haben eine unschätzbare Rolle für das Wachstum der Finanzmärkte gespielt.“[15]

Organisierte Geheimhaltung

Zur Globalisierung gehört auch die organisierte, professionalisierte, staatlich geschützte Intransparenz. Das gilt auch für die Ratingagenturen. Sie sind Meister der Geheimhaltung, sie nutzen extensiv Finanzoasen, sie verschachteln ihr Unternehmen in hunderte „selbstständige“ Einheiten in dutzenden von Staaten, sie pflegen diskreten Lobbyismus bei dutzenden Regierungen. Sie scheuen die öffentliche Diskussion.

Neben ihren operativen Sitzen in New York und London haben die meisten Gesellschaften der „Big Three“ ihren juristischen Sitz in der größten Finanzoase der Welt, im winzigen US-Bundesstaat Delaware,[16] zum kleineren Teil auf den Britischen Jungferninseln und in anderen Finanzoasen.

Die Tochterfirmen in den zahlreichen Staaten haben zunächst eine juristische Verfassung, wie sie in den jeweiligen Staaten vorgeschrieben ist, in Deutschland etwa eine GmbH. Dies gilt jedoch nur für den operativen Sitz, während der übergeordnete juristische Sitz in einer internationalen Holding und/oder ebenfalls in Delaware oder einer anderen Finanzoase angesiedelt ist. So unterhielt im Jahre 2009 zum Beispiel Moody’s 12 juristisch voneinander „unabhängige“ Unternehmenseinheiten in den USA – 10 davon juristisch mit Sitz in Delaware. Ähnliches trifft für die 72 Moody’s-Einheiten in anderen Staaten zu; europäische Einheiten mit jeweils „unabhängiger“ juristischer Verfassung nach Landesart waren gleichzeitig in einer Holding mit juristischem Sitz auf den Britischen Jungferninseln zusammengefasst. Die Niederlassungen in Dubai, Israel, Südafrika und Indonesien beispielsweise sind in einer anderen Holding auf den Britischen Jungferninseln zusammengefasst.[17]

Die Niederlassungen im Ausland werden verharmlosend als „Büros“ (offices) bezeichnet. Ihre Internetpräsenz ist besonders informationsarm. Die Websites etwa der deutschen Niederlassungen sagen kaum etwas über die Tätigkeit der Agenturen in Deutschland aus, sondern verweisen auf die zentrale Website und auf Öffentlichkeitsagenturen, die ihren Sitz in London haben.

Die Verfechter der Deregulierung haben zwar viele Gesetze und Vorschriften abgeschafft und die Freiheit der Finanzakteure erweitert. Aber sie haben mit den Ratingagenturen selbst ein neues, weit verzweigtes Regulierungsnetz etabliert. Sie treten keineswegs allgemein für Deregulierung ein. Vielmehr treten sie für eine mächtige, staatlich-privat verfilzte, intransparente Regulierung ein, die von ihnen selbst beherrscht wird.

Aufgrund von Kritik, die seit einem Jahrzehnt immer stärker wird, haben die Agenturen inzwischen jeweils einen Verhaltenskodex entwickelt. Er wird in umfangreichem Wortlaut auf den Internetauftritten veröffentlicht. Die Offenlegung der Bewertungsverfahren, die Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns sowie die Achtung der Demokratie und der Menschenrechte finden sich allerdings nicht unter den zahlreichen „ethischen Selbstverpflichtungen“.

Von wirklich ethischem Handeln kann schon deshalb nicht die Rede sein. Im Gegenteil.

Krisen-Inszenierungen

Die Agenturen beurteilen nicht gutes Wirtschaften oder gutes Haushalten. Sie achten nicht darauf, ob es den Beschäftigten oder Kunden eines Unternehmens oder den Bürgern eines Staates gut geht. Sie achten nicht auf den Wohlstand und die Sicherheit der Bevölkerung. Sie achten nicht darauf, ob mit den Krediten sinnvolle Dinge bezahlt werden und wie hoch die Schulden sind. Sie achten nicht darauf, ob Gesetze und Schuldenregeln, beispielsweise die Maastricht-Kriterien der Europäischen Union, eingehalten werden. Sie achten nicht darauf, ob Kredite wie im Falle Griechenlands erschwindelt wurden.

Sie achten nur darauf, wie sicher oder unsicher ein Unternehmen oder ein Staat dem Kreditgeber seine Schulden abzahlen und zu welchen Bedingungen dieser weitere Kredite bekommen kann. Dabei beobachten die Agenturen nicht nur, sie greifen illegalerweise ein.

Ein Insider hat das gut beschrieben: „Dabei sieht das Drehbuch folgenden Ablauf vor: Bevor auf dem weiten Parkett der Weltbörsen eine große Aufführung geboten wird, treffen sich hinter der Bühne still und heimlich ein Bonitätswächter und ein Spekulant. Der Bonitätswächter kündigt an, ein Land in der Kreditwürdigkeit herabzustufen. Daraufhin verkauft der Spekulant blitzartig große Pakete der betroffenen Staatsanleihen ›leer‹. Das heißt, er verkauft heute zu hohen Kursen Staatsanleihen, die er noch gar nicht besitzt, die er später, wenn die Kurse gefallen sein werden, zu günstigen Preisen kaufen wird. Dann öffnet sich der Vorhang, es folgt der erste Akt. Nun gibt der Bonitätswächter einem gebannt zuhörenden Weltpublikum die Herabstufung der Kreditwürdigkeit eines Landes öffentlich bekannt. Der zweite Akt ist durch allgemeine Hektik und Panik geprägt. Er beginnt mit der Erwartung fallender Kurse und endet mit einer Selbsterfüllung genau dieser Prognose. Im dritten Akt kauft der Spekulant zu günstigen Kursen jene Staatspapiere, die er vor Vorstellungsbeginn bereits weiterverkauft hatte. Im Epilog treffen sich – wiederum außerhalb des Scheinwerferlichts – Bonitätswächter und Spekulant und freuen sich diebisch über den Gewinn, der durch die erfolgreiche Wette auf Kursverluste, die sie selber angeheizt hatten, möglich wurde.“

Soweit der „konservative“ oder auch zynische Ökonom Thomas Straubhaar, Chef des Instituts der Weltwirtschaft und prinzipielle Verteidiger eines neoliberalen Kapitalismus.[18] An diesem Text müssen wir nur eine kleine, aber entscheidende Korrektur vornehmen: „Spekulant“ ist zu ersetzen durch „Eigentümer und Kunde der Ratingagentur“.

Die „Schweinestaaten“

Die seit Ende 2009 von Agenturen und Kreditgebern angegriffenen europäischen Staaten erhielten lange Jahre ein gutes Rating, deshalb konnten sie ohne Probleme und zu niedrigen Zinsen immer wieder Anleihen verkaufen und sich verschulden, obwohl sie gar nicht in der Lage waren, ihre Altschulden zu tilgen. Es änderte sich nichts Wesentliches an der Höhe der Überschuldung, an den Ausgaben, an den geringen Einnahmen aus Gewinn-, Vermögens- und Erbschaftssteuern. Aber etwas änderte sich ziemlich plötzlich: Die Ratings, und zwar die unbeauftragten.

So hatte Italien vor der Herabstufung im Jahre 2011 seit neun Jahren das Triple A. Griechenland, Portugal und Spanien hatten bis weit nach der letzten Finanzkrise – bis Mitte 2010 – eine A- oder AA-Note, Irland sogar ein Triple A, bevor diese Staaten innerhalb weniger Monate mehrere Stufen und teilweise auf Schrott-Niveau herabgestuft wurden.[19] Ein Team des Internationalen Währungsfonds (IWF) dokumentierte: Chirurgisch präzise senkten die drei Agenturen im Geleitzug die Ratings gerade immer dann, wenn die Regierungen das nächste Sparpaket ankündigten oder beschlossen hatten. So verkündeten S&P und Moody’s ihre „downgrades“ im Dezember 2009 und April 2010 jeweils innerhalb einer Woche.[20] Fitch zog nach.

„Reicht nicht!“, tönte es sogleich von den Agenturen, die wie die großen Ölkonzerne mit knapper Verzögerung von einigen Tagen ihre in der Tendenz gleichlautenden Noten vergaben. Hinzu kommt die Gruppenbildung. Sie wurde schon bei der „Asienkrise“ geübt. Schnell wurde 2010 die Formel „PIGS-Staaten“ gefunden: Pigs = Schweine. Dabei handelt es sich um eine psychologisch-mediale Herabstufung schon vor der realen Herabstufung. Es betraf die schwächsten, am leichtesten angreifbaren Staaten: Portugal, Irland, Griechenland und Spanien – eben die PIGS. Entsprechend der zeitlichen Abfolge der absinkenden Ratings hätte man eigentlich die Buchstabenfolge IGPS wählen müssen. Das klang aber nicht so gut. Schweine-Staaten klingt, jedenfalls in bestimmten Ohren, besser.

Eine Forschergruppe der Schweizer Universität St. Gallen hat die Wirtschafts- und Schuldendaten von 26 Mitgliedstaaten der OECD aus den Jahren 1999 bis 2010 verglichen. „Es gibt andere Länder [als die PIGS-Staaten, d. Verf.], die ähnliche Fundamentaldaten aufweisen, aber ein deutlich besseres Rating erfahren haben.“[21] Die Agenturen hätten mit gleicher Begründung auch Belgien, Österreich oder Großbritannien herabstufen können, was aber psychologisch nicht so leicht gewesen wäre. So kann man, folgern die Schweizer Ökonomen, „unschuldige Lämmer in Schweine verwandeln“.[22]

Der oberste Bankenaufseher in Deutschland, Raimund Röseler im Bundesamt für Finanzaufsicht (BaFin), der die Agenturen nicht grundsätzlich kritisiert, stellt fest: „Das Timing der Ratingentscheidungen wirkt trendverstärkend“,[23] andere Aufseher sprechen gar von „Brandbeschleunigern“. Doch diese Kritik greift zu kurz: Die Agenturen verstärken nicht nur einen Trend, sie können ihn auch inszenieren.

Der „starke Staat“ der Kapitalmacht

Die Agenturen erstellen nicht nur Bewertungen. Sie greifen damit auch in die bewerteten Unternehmen und Staaten ein und führen zu deren Umgestaltung im Interesse der Kreditgeber.

Ein Unternehmen und seine Aktien werden umso besser bewertet, je höher der aktuell erwirtschaftete Gewinn ist und für die Zukunft prognostiziert wird. Damit wird beispielsweise nicht in erster Linie die Güte der Produkte und Dienstleistungen bewertet, auch nicht der Eingriff in die Umwelt oder der Beitrag zur Festigung der Gemeinschaft. Und der Gewinn ist umso höher, je niedriger die Löhne sind. All dies ist im westlichen Kapitalismus der Gegenwart ebenso systemisch wie normal und letztlich fatal banal.

Bei den Staaten wirkt sich die Einseitigkeit der Kriterien allerdings noch heftiger aus. Wenn Staaten gut bewertet werden, dann spielen Höhe und Grad der Verschuldung keine Rolle. Ebenso fällt den Ratinganalysten nicht negativ auf, wenn in einem Staat wie etwa in den USA hohe Dauerarmut herrscht, wenn ein Staat Kriege führt, wenn er bei Banken, Konzernen und Vermögenden wenig oder gar keine Steuern einzieht. Ebenso hat noch nie eine Agentur von einem Staat verlangt, er solle Kapitalgewinne und Vermögen höher besteuern. Auch die systematische Umgehung nationaler Gesetze durch die Nutzung von Finanzoasen ist den Agenturen keine Beachtung wert, haben sie doch selbst und ihre Eigentümer dort ihren Sitz.

Und noch nie hat eine Ratingagentur wesentliche Einschnitte im Rüstungs-, Geheimdienst- und Überwachungsetat eines „Entwicklungsstaates“ oder eines „entwickelten“ Staates verlangt. Bei Griechenland etwa läge es nahe, die Kürzung des auch für kapitalistische Verhältnisse ungewöhnlich hohen Rüstungsetats zu verlangen – doch natürlich werden die U-Boote, Panzer und Kampfjets auf Kredit gekauft, vor allem in Deutschland und Frankreich.[24]

Wenn ein Staat stark heruntergestuft wird, wenn dann die Zinsen steigen und der Staat die Kredite nicht mehr aus seinen laufenden Einnahmen bedienen kann, dann lauten dagegen die Forderungen der Agenturen: Einschnitte bei den Sozialtransfers! Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst! Senkung von Löhnen und Renten! Verkauf öffentlichen Eigentums! Man müsste auch fragen, was die Höhe der Löhne mit der Sanierung des Staatshaushalt zu tun hat. Es ist nämlich eher andersherum: Hohe Löhne bringen dem Staat hohe Steuern.

Diese Forderungen stimmen mit denen der Finanzindustrie, der Konzerne, des IWF und der neoliberalen Lehre nahtlos überein. Die Kriterien der Ratingagenturen unterscheiden sich also in keiner Hinsicht von denen der kapitalistischen Hauptakteure. All das läuft auf den „starken Staat“ hinaus, der die „Starken“ in ihrer globalen Expansion und ihrem aggressiven Machtstreben fördert und vor den „Schwachen“ schützt.

Im Ergebnis sind Ratingagenturen keine selbstständigen und „objektiven“ Bewerter, sondern ausführendes Organ ihrer Eigentümer im Besonderen und der westlichen Kapitalmacht im Allgemeinen. Zudem sind sie tief verankert in staatlichen Regularien. Deshalb darf sich die Alternative nicht nur auf die Agenturen beziehen, sondern muss letztlich das gesamte Finanzsystem, Wirtschaftssystem und das politische System umfassen.

Entfernt die Agenturen aus den staatlichen Regelwerken

Die Ratingagenturen sind dabei zunächst als das zu behandeln, was sie sind: Privatunternehmen, die sich als Lobbyisten und Agenten ihrer privaten Eigentümer betätigen. Es hat keinen Zweck, sie durch neue – etwa europäische – Agenturen nach dem gleichen Strickmuster zu ersetzen, zu ergänzen oder zwischen ihnen „mehr Wettbewerb“ zu ermöglichen. Eine Zivilisation, die ihren Zusammenhalt und ihre Würde behalten will, fördert auch nicht „mehr Wettbewerb“ zwischen Dieben und Hehlern oder ersetzt sie durch kleinere, nettere Diebe und Hehler, sondern beendet ihr Handwerk.

Deshalb müssen wir die Ratingagenturen, die nach dem hier untersuchten Schema arbeiten, aus allen staatlichen und finanzaufsichtlichen Regularien ersatzlos entfernen: aus den nationalen und internationalen Regelwerken und Gesetzen, aus dem IWF und der Bank for International Settlements, aus der Security and Exchange Commission (SEC), aus der Deutschen Bundesbank und der Finanzaufsicht (BaFin), aus der Europäischen Zentralbank usw.

Dabei wird es sich um einen harten Kampf handeln. Denn die Finanzakteure werden alles versuchen, ihre bisherige Praxis trotzdem fortzusetzen, auch ohne den staatlichen Schutz. Die schwierigste Arbeit liegt daher noch vor uns: Die Praxis der gegenwärtigen Kreditvergabe, in der die Kriterien der Agenturen tief verwurzelt sind, muss selbst verändert werden. Das aber erfordert einen tiefen Eingriff in die Eingeweide der Finanzakteure – allen Widerständen zum Trotz.

 

[1] Vgl. Gautam Setty und Randall Dodd, Credit Rating Agencies. Special Report 6, Washington April 2003, S. 3.

[2] Zur Geschichte der Ratingagenturen vgl. U.S. Securities and Exchange Commission, Office of Inspector General (Hg.), The SEC’s Role Regarding and Oversight of Nationally Recognized Statistical Rating Organizations (NRSRO), Public Version, Report Nr. 458, Washington August 27, 2009. 

[3] Vgl. U.S. Securities and Exchange Commission, Hearing „Roundtable to Examine Oversight Credit Rating Agencies“, 15.4.2009, Statement Frank Partnoy, S. 103.

[4] The McGraw Hill Companies, Annual Report 2009, S. 18.

[5] Vgl. „Die Welt“, 9.5.2010.

[6] „Business Round Table“ (Runder Tisch für Unternehmen) ist eine in den USA entwickelte Organisationsform, um Politiker und Regierungen mit den Absichten der Privatwirtschaft „vertraut“ zu machen. Solche „Runden Tische“ wurden als Einflussorganisationen auch in der EU-Hauptstadt Brüssel gegründet (European Business Round Table und ähnliche).

[7] The McGraw Hill Companies, Annual Report 2009, S. 4.

[8] David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, New York 2005, S. 48 f. und 181.

[9] Werner Rügemer, Cross Border Leasing. Lehrstück zur globalen Enteignung der Städte, Münster 2005, S. 35; ders., Public Private Partnership. Die Plünderung des Staates, in: „Blätter“, 2/2010, S. 75-84.

[10] Jo Becker und Gretchen Morgenson, Geithner, Member and Overseer of Finance Club, in: „The New York Times“, 27.4.2009.

[11] Werner Rügemer, Das Finanzparadies – City of London, in: „Junge Welt“, 3.7.2008.

[12] Alec Klein, Credit Raters Exert International Influence, in: „Washington Post“, 23.11.2004.

[13] Alec Klein, Credit Rater’s Power Leads to Abuses, Some Borrowers Say, in: „Washington Post“, 24.11.2004.

[14] Vgl. „Financial Times Deutschland“, 19.4.2000.

[15] Vgl. Alec Klein, Credit Raters Exert International Influence, in: „Washington Post“, 23.11.2004.

[16] Vgl. Werner Rügemer, Wilmington, Delaware – Konzernmacht im Untergrund, in: „Junge Welt“, 11.5.2005.

[17] Vgl. U.S. Securities and Exchange Commission: Moody’s Corporation Form 10-K, 2009.

[18] Vgl. Thomas Straubhaar, Wie man einen Crash inszeniert, in: „Der Stern“, 11.8.2011.

[19] Vgl. Moody’s Investors Service, Moody’s Downgrades Portugal to Ba2 with a Negativ Outlook from Ba1, 5.7.2011; vgl. auch: Irland und EU über Herabstufung verärgert, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 14.7.2011.

[20] Vgl. Rabah Arezki u.a., Sovereign Rating News and Financial Markets Spillovers: Evidence from the European Debt Crisis, Internationaler Währungsfond, Working Paper 11/68, Washington 2011, S. 7.

[21] Universität St. Gallen, Ratingagenturen als Krisenbeschleuniger? Pressemitteilung, 29.6.2011.

[22] Manfred Gärtner u.a., PIGS or Lambs? The European Sovereign Debt Crisis and the Role of Rating Agencies, in: „International Advances in Economic Research“, 3/2011, S. 289.

[23] BaFin warnt vor Flächenbrand in Europa, in: „Handelsblatt“, 2.8.2011.

[24] Griechenland gibt drei- bis viermal so viel für Rüstung aus wie der Durchschnitt der anderen EU-Staaten. Vergleiche: Kalter Krieg am Rande Europas, in: „Süddeutsche Zeitung“, 15.3.2010.

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