Ausgabe Mai 2014

Der Ukraine-Konflikt und die Paradoxien der Linken

Ukraine: Die schwelende Krise

Eine persönliche Vorbemerkung: Der Autor dieses Textes, Mitglied im Kreisvorstand der Linkspartei in Potsdam und Promovend in politischer Theorie, ist seit vielen Jahren gemeinsam mit einem Deutsch-Ukrainer selbstständig tätig und befreundet. Er hat dadurch die Ukraine und ihre Kultur kennengelernt und ist nicht nur betroffen von der dramatischen Situation, sondern auch angesichts der Antworten von Teilen der politischen Linken, welche in deutlichem Kontrast zu ihren sonstigen Prinzipien stehen.

Die Hauptgründe für die Krimkrise sind das Scheitern des postsowjetischen Entwicklungsmodells in der Ukraine, aber auch eine neo-imperialistische Machtpolitik Russlands – als Kompensation für dessen postsowjetisch-postimperiale Depression. Dennoch führt gerade die Krimkrise zu wahrhaft paradoxen linken Positionen, welche die Widersprüchlichkeit der eigenen außenpolitischen Vorstellungen offenlegen.

Bei chronologischem Vorgehen sind zunächst die Proteste auf dem Maidan zu betrachten. Natürlich waren hier heterogene politische Kräfte am Werk, und nicht alle diese Kräfte sind kompatibel mit linken Prinzipien, insbesondere nicht die Swoboda-Partei und ihre militante Speerspitze, der Rechte Sektor. Der größere Teil des Protests speiste sich jedoch aus zwei Antrieben: nämlich erstens einer prodemokratischen, proeuropäischen Prägung und zweitens einer klar sozial motivierten Kritik an der herrschenden korrupten Oligarchie, welche in der Ukraine leider eine besondere Qualität, teils sogar mafiaartige Strukturen aufweist. Beide Motive, der Kampf um Demokratisierung wie der Kampf gegen eine fortgesetzte Oligarchisierung, sind Ausdruck linker Prinzipien.

Hinzu kommt: Bei allen Fehlern der Europäischen Union ist ein demokratisches, europäisches Modell besser für die Ukraine, vor allem aber auch für das ukrainische Volk, als eine Autokratie bisheriger ukrainischer oder gar russischer Prägung. So waren die ukrainischen Oligarchen besonders schamlos, was sich in unfassbarer sozialer Ungleichheit und für europäische Verhältnisse extremer Armut der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung zeigt. Hauptgründe hierfür sind die grassierende Korruption, aber auch die Ineffizienz und die teils überbordende Bürokratie als ein sowjetisches Erbe.

All dies legitimiert, gerade aus linker Sicht, die Proteste auf dem Maidan. Diese auf ukrainische Nationalisten zu reduzieren, welche empirisch zudem eine Minorität darstellen, ist verkürzt und unterkomplex.

Die Legitimität der Maidan-Proteste und die Illegitimität des Putinismus

Die implizite Prämisse des Putinismus besteht darin, dass der GUS-Bereich ein russischer Einflussbereich ist, in dem verschiedene Formen der Intervention als legitim zu betrachten sind. Putin selbst erklärte einst, dass der Kollaps der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei. In diesem Sinne besteht seine Politik auch auf der Restauration des russischen Einflusses. Dafür stehen der Georgien-Krieg 2008 mit der Eingliederung von Abchasien (wenngleich hier natürlich auch das Hasardeurspiel des georgischen Expräsidenten Michail Saakaschwili stark zu kritisieren ist) wie der Versuch der Etablierung einer Eurasischen Union, aber auch frühere Ränkespiele um die Ukraine mit Hilfe des politisch motivierten Gaspreises.

Moskau erlebte nach dem Fall der Mauer 1989 und endgültig mit dem Zerfall der Sowjetunion einen massiven geopolitischen Abstieg, welcher durch das Verhalten im Syrien-Konflikt und das Schaffen von Fakten auf der Krim kompensiert werden soll. Allerdings haben auch Madrid, Wien (Habsburgerreich) und Berlin Erfahrungen mit dem Verlust von Imperien. Als Deutschland versuchte, diesen Verlust zu kompensieren, war ungeheures Leid die Folge. Zu Recht lehnen wir dieses Verhalten daher ab. Die Frage ist also: Warum sollte es sich im Falle Moskau anders verhalten? Das Narrativ des Putinismus besteht darin, dass die Nato und der Westen zu nah an Russland herangekommen sind und nun erneut ein befreundetes Regime gestürzt wurde und daher interveniert werden müsse. Aber das Völkerrecht kennt keine Legitimation für eine derartige Intervention in einer ehemaligen Einflusssphäre.

Begründet wird die russische Militärintervention auf der Krim zudem damit, dass nationalistische bzw. faschistische Kräfte in der Ukraine an die Macht gelangt seien (was partiell stimmt, aber eben nicht generalisierbar ist) sowie mit dem Schutz ethnischer Russinnen und Russen.

Natürlich war die Abschaffung des Russischen als Zweitsprache durch die Interimsregierung ein Affront, aber keine Gefährdung der russischen Minderheit. Viel paradoxer ist jedoch das russische Verhalten: Eine militärische Intervention mit der Existenz ethnischer Russinnen und Russen zu begründen impliziert, dass der eigenen Ethnie ein höherer Stellenwert eingeräumt und hierfür sogar eine Verletzung der territorialen Integrität eines anderen Staates in Kauf genommen wird. Kurzum: Die russische Reaktion auf den (durchaus realen) ukrainischen Nationalismus ist ihrerseits Ausdruck eines Übermaßes an Nationalismus, welcher das russische Vorgehen ideologisch schlicht unglaubwürdig macht.

Das heißt natürlich nicht, dass die Renaissance der nationalistischen Bandera-Bewegung begrüßenswert ist. Der ukrainische Nationalismus, auch wenn er sich aus der Angst vor Russland speist, ist ebenso zu kritisieren wie der russische. Jedoch sind die Nationalismen auch am Ausmaß ihrer Konsequenzen zu messen, und hier erweist sich derzeit der russische Nationalismus eindeutig als der gefährlichere.

Selektive Imperialismuskritik von links

In Teilen der radikalen Linken ist Imperialismuskritik ein wichtiger Bezugspunkt der Politik, insbesondere im Kontext deutscher und amerikanischer Auslandseinsätze bzw. Militärinterventionen der Nato (und wiederum besonders jener, welche als coalition of the willing eingegangen werden). Selbstverständlich ist das Prinzip der Ausdehnung des eigenen Macht- und Herrschaftsbereichs, welches dem Imperialismus immanent ist, aus linker Sicht absolut kritikwürdig. Und natürlich waren und sind viele Interventionen des Westens wesentlich ökonomisch und nicht humanitär motiviert und damit zu kritisieren.

In Deutschland gibt es mittlerweile ein großkoalitionäres Triumvirat, bestehend aus Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, welche alle eine stärkere Rolle und einen stärkeren Einsatz Deutschlands in der Welt wünschen. Mithin geht es ihnen auch um eine Renaissance der nationalen Interessen als Kompass der deutschen Außenpolitik. Damit einhergehend ist der eher unverhohlene Wunsch, auch stärker militärisch zu intervenieren. Und nicht selten geht es hier primär (wenngleich nicht ausschließlich) um die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Dies stößt bei der deutschen Linken zu Recht auf Kritik.

Gleiches muss jedoch allemal für das russische Vorgehen auf der Krim gelten: Dieses ist ganz klar als illegitimer Auslandseinsatz einzuordnen. Denn es geht eben nicht „nur“ um die Sicherung der eigenen Militärbasis, sondern um die Sicherung des geopolitischen Einflusses auf der gesamten Halbinsel. Die Eroberung fremden Territoriums – und es ist derzeit keineswegs klar, ob es nicht noch weitere Militärinterventionen geben wird – ist ganz klar als eine imperialistische Politik zu charakterisieren. Und damit stellt sich die Frage: Warum ist russischer Imperialismus in Ordnung, während der anderer Nationen aufs Schärfste verurteilt wird?

Warum gilt in Teilen der politischen Linken der russische Diskurs, welcher eine stärkere Besinnung auf nationale Interessen zum Ziel erklärt (entsprechend äußerte sich Putin auch in seiner Triumphrede vom 18. März 2014), als legitim, während dergleichen in Deutschland als Militarisierung und Neo-Imperialismus gegeißelt wird?

Wie Putin von innenpolitischen Problemen ablenkt

Putin, aber auch seine Partei „Einiges Russland“ haben in den letzten Jahren ganz bewusst das Bild des starken Mannes bzw. der militärisch wie ökonomisch starken Großmacht erzeugt. Die Krim-Intervention ist nun ein ideales Mittel, um dieses Bild zu bedienen. Und die steigenden Umfragewerte für Putin zeigen ja auch, dass diese Strategie bisher aufgeht.

Es ist eine altbekannte Strategie, durch außenpolitische Aktivitäten und Erfolge von innenpolitischen Problemen abzulenken. Putin und mit ihm die russischen Eliten beherrschen dieses Spiel derzeit leider perfekt. Zudem erweist sich die Kommunistische Partei Russlands, höchstwahrscheinlich aus einem sowjetnostalgischen Impetus heraus, als Putins fünfte Kolonne, wenn es um eine restaurative Außenpolitik geht. Denselben Fehler sollte die deutsche Linke unbedingt vermeiden.

Die entscheidende Frage ist doch, ob es, neben der Krim-Intervention, nicht noch ganz andere Punkte in Russland gibt, welche gerade aus linker Perspektive zu kritisieren sind und daher politisch prioritär sein sollten. Man denke nur an den Abbau von Grund- und Freiheitsrechten, die offene Diskriminierung von Schwulen und die steigende soziale Ungleichheit.

Das Problem ist, dass häufig ein kulturalistisch begründeter Exzeptionalismus („russisches Wesen“) als Legitimation für die konkrete russische Herrschaft gilt, welche aus linker Sicht stark kritikwürdig ist.

Hier wäre an erster Stelle die soziale Frage zu nennen. Natürlich war die Phase des ungezügelten Anarcho-Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 90er Jahren eine Zeit besonderer Polarisierung und eines nicht unerheblichen Ausverkaufs des volkswirtschaftlichen Reichtums. Dies hat Putin, gerade in seiner ersten Legislatur, gebremst, was durchaus als positiv anzusehen ist.

Danach begann jedoch ein neuerlicher Prozess der Oligarchisierung unter Putin. Gerade die alten Geheimdienstseilschaften, aber grundsätzlich all jene, die sich Kreml-nah, vor allem aber Kreml-konform verhalten haben, profitierten materiell in besonderer Weise vom russischen Rohstoffreichtum. Die soziale Ungleichheit ist jedoch weiter angestiegen. Und die Mittelschicht ist nach wie vor, und anders als in Kontinentaleuropa, eine gesellschaftliche Minderheit. Gerade auf dem Land und in der russischen Peripherie herrscht weiterhin oft bittere Armut. Durch die Olympischen Spiele von Sotschi, ein enormes Elitenprojekt, welches insgesamt 40 Mrd. Euro verschlang, aber auch durch die grassierende Korruption wird das Problem der Armut und der sozialen Ungleichheit immer größer. Und auch für Russland gilt: Geld, welches in den Militärhaushalt gesteckt wird, fehlt an anderer Stelle. Daher ist der Putinismus aus sozialer Sicht massiv zu kritisieren.

Aber auch wirtschaftlich hat Russland noch immer enorme Probleme. Die Modernisierung der Betriebe scheitert zu oft an Korruption und Ineffizienz. Die einseitige Orientierung an den Ressourcen führt zu enormer Labilität, was sich insbesondere dann zeigt, wenn die Erdöl- und Gaspreise signifikant sinken. Zudem bleibt die Produktivität der russischen Unternehmen, wie auch der Volkswirtschaft als Ganzes deutlich unter ihren Möglichkeiten.

Vor allem aber zeigt sich auch an den vielen Problemen im Kaukasus und dem latenten Konfliktherd Tschetschenien wie auch an der inneren Aufrüstung die ganze Zerrissenheit Russlands. Das oft gewaltsam unterbundene Recht auf politische Demonstrationen, die Inhaftierung von Oppositionellen, aber auch die herrschende Willkürjustiz sind Ausdruck massiver Probleme, die das Land eigentlich zu lösen hätte, anstatt außenpolitisch die Muskeln spielen zu lassen.

Was wäre zu tun – und was zu unterlassen? 

Was also bleibt zu tun, aus Sicht der deutschen Linken?

Der militärische Konflikt um die Krim ist eindeutig von Russland begonnen worden. Folglich muss Russland auch der Adressat der Kritik sein. Das Völkerrecht wird immer wieder, und völlig zu Recht, von links als schützenswert dargestellt. Folglich muss ein evidenter Verstoß gegen das Völkerrecht, wie er auf der Krim geschehen ist, auch entsprechend verurteilt werden.

In Bezug auf die Ukraine ist eine differenzierte Herangehensweise vonnöten. Die prodemokratischen Kräfte müssen gestärkt werden, der Austausch mit Europa ebenso. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU ist durchaus sinnvoll. Eine neue Troika, welche die staatliche Souveränität wie im Falle Griechenlands unterminiert, muss hingegen unterbleiben. In multilateraler Kooperation mit Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der OSZE müssen Verhandlungen initiiert werden, welche vor allem dafür Sorge tragen, dass nicht weitere machtpolitische Fakten geschaffen werden.

Wladimir Putin folgt in seiner Politik einem Diktum von Thomas Hobbes aus dem Leviathan: Potestas, non veritas facit legem – Macht, nicht Wahrheit macht das Gesetz. Eine derartige Machtpolitik muss, gerade auch aus emanzipatorischer Sicht, klar verurteilt werden. Und der Gleichheitsgrundsatz, welchen die politische Linke zu Recht verteidigt, muss auch auf die Bewertung von Staaten angewandt werden. Was an Deutschland, der EU oder den USA kritisiert wird, kann daher im Falle Russlands nicht legitim sein.

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

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