Ausgabe April 2012

Die Gerechtigkeitsnummer

Nein, das wird keine weitere Glosse über den armen Herrn Wulff. Oder nur zur Hälfte, versprochen. Wenn aber sogar der „Spiegel“, ansonsten durchaus stolz auf seine zynische Haltung, im Falle des Ex-Präsidenten am Ende die Tränen kaum unterdrücken kann, dann muss in diesem Lande in den Proportionen einiges durcheinander geraten sein.

 Mitte März regte der stellvertretende Chefredakteur des Wochenmagazins, Klaus Brinkbäumer, voller Mitgefühl an, „sich den zurückgetretenen Wulff in seinem Haus in Großburgwedel vorzustellen. Wie sich das alles aus seiner Perspektive anfühlen mag. Wie er wohl weiterleben wird. Wie er langsam versteht, dass er, 52 Jahre alt, womöglich nie wieder arbeiten und nicht mal mehr ein Buch schreiben kann, das irgendwer lesen wollte“(„Der Spiegel“, 11/2012).

Offenbar handelt es sich hierbei um keine Realsatire. Und doch möchte man dem geschätzten „Spiegel“-Autor an dieser Stelle raten, sich einmal die soeben entlassene Schlecker-Angestellte in ihrer kleinen Mietswohnung vorzustellen. Wie sich das alles – die Farce in Bellevue und ihre eigene Lage – aus ihrer Perspektive anfühlen mag. Wie sie wohl weiterleben wird. Wie sie langsam versteht, dass sie, 52 Jahre alt und damit fast schon „altes Eisen“, womöglich nie wieder arbeiten, geschweige denn ein Buch schreiben kann, das irgendwer lesen wollte.

Soweit die kleine Parallelisierung zweier Lebensläufe, die wohl nur eines verbindet: Beide werden vielleicht kein Buch mehr schreiben – obwohl man eines von Christian Wulff, über den Irrsinn der letzten Monate, vielleicht zum ersten Mal sogar mit Interesse lesen würde. Und die vor allem eines unterscheidet: Die eine Person ist weiter existenziell auf Lohnarbeit angewiesen, da sie nicht in den Genuss eines einträglichen Ehrensoldes kommt. Und die andere Person könnte natürlich jederzeit wieder als selbständiger Anwalt arbeiten, wenn sie es denn müsste und wollte.

Ja, in der Tat, „jede Gemeinschaft sollte eine“ – wie Brinkbäumer es formuliert – „tolerante sein wollen. Eine, die nicht vergisst, was Empathie ist.“ Sie sollte aber auch zu unterscheiden wissen, wann Empathie mehr und wann weniger am Platz ist. Niemand hat den Niedersachsen gezwungen, den Posten des Bundespräsidenten anzutreten und damit das erste Amt im Staate binnen kürzester Zeit in bisher ziemlich einmaliger Weise zu verzwergen. Deshalb: Möge Wulff seinen Sold – Ehre hin, Ehre her – behalten, aber Mitleid, wem Mitleid gebührt. Dieses im Falle Wulffs auch noch abverlangt zu bekommen, wie keineswegs nur im „Spiegel“ geschehen, ist dann doch des Guten zu viel.

Statt dessen traf der Bremer Ex-Bürgermeister Henning Scherf einen entscheidenden Punkt. Er nahm sich bei Günther Jauch das Recht heraus, auf das viel grundsätzlichere Missverhältnis von Lohn und Leistung in diesem Lande hinzuweisen. Auch Jauch müsse sich, so Scherf, selbstkritisch fragen, was er so im Jahr einnehme: „Sie verdienen das Vielfache von dem, was die Bundeskanzlerin verdient und halten das für gerecht!“ Daraufhin Jauch: „Das wissen Sie ja gar nicht.“ Die spannende Antwort auf die Frage, ober er sein eigenes Gehalt für angemessen hält, blieb Jauch bis heute schuldig. Stattdessen gab er zum Besten: „Ich habe mich zu der Gerechtigkeitsnummer noch nie geäußert.“ Und weiter ganz generös: „Ich habe mich auch noch nie beklagt.“

Auf diese Idee, sich zu beklagen, muss man allerdings erst einmal kommen – bei einem geschätzten Jahreseinkommen von 10,5 Millionen Euro (allein bei seiner neuen Talkshow soll Jauch laut Medienberichten 4487 Euro pro Sendeminute verdienen) und einem höchst moderaten Spitzensteuersatz, Rot-Grün sei Dank, von 45 Prozent. Vor allem aber ist Jauchs Antwort beredt: Denn in der Lohnfrage genießt der Markt – ganz im Gegensatz zum Staat – noch immer den Status des Götzen. Was der Markt verteilt, gilt als gerecht. Ungeachtet der Frage, welchen Wert die Leistung eines Menschen eigentlich haben kann.

Hier aber liegt der Hase im Pfeffer: Wann führt die deutsche Gesellschaft endlich ernsthaft die dringend erforderliche Debatte über gerechte Löhne? Eine Debatte, die sich nicht kompensatorisch an den eher bescheidenen Politikergehältern abreagiert und die sogenannte freie Wirtschaft völlig ungeschoren lässt. Und das in einem Land, in dem der VW-Konzernchef 17,5 Millionen im Jahr verdient, während laut einer neuen Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg/Essen im Jahr 2010 knapp acht Millionen Menschen mit einem Niedriglohn von weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde auskommen mussten, davon mehr als vier Millionen Menschen mit weniger als sieben Euro, gut 2,5 Millionen mit weniger als sechs Euro und knapp 1,4 Millionen mit nicht einmal fünf Euro die Stunde.
Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Personen arbeitet Teilzeit. Insgesamt sind 23 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor tätig, bei einem Durchschnittsverdienst von 6,68 Euro im Westen und 6,52 Euro im Osten. Die fast 800 000 Vollzeit-Beschäftigten, die weniger als sechs Euro kassieren, kommen damit auf einen Monatslohn unter 1000 Euro – brutto wohlgemerkt.

Um dieser eklatanten Ungerechtigkeit Abhilfe zu schaffen, wäre ein allgemein verbindlicher Mindestlohn ein dringend erforderlicher Anfang – aber auch nicht mehr. Man braucht deshalb nicht einmal wie Oskar Lafontaine ganz im wahlkämpferischen Gestus eines François Hollande auf einen Millionärssteuersatz von 75 Prozent (jenseits der ersten Millionen) hochzuschießen – zumal die Argumentation mit Nachkriegssteuersätzen bis zu 95 Prozent nicht unbedingt überzeugt. Doch ein Gedankenexperiment bleibt die Sache allemal wert: 25 Prozent nach Steuern von 17,5 Millionen wären für VW-Chef Winterkorn 4,375 Millionen Euro. Und von 10,5 Millionen blieben noch immer 2,65 Millionen Euro – das sind pro ARD-Sendeminute 1122 Euro. Wer wollte da behaupten, dass Günther Jauch sich ernsthaft darüber beklagen könnte?

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