Ausgabe Mai 2014

Die Krim, die bösen Russen und der empörte Westen

Ukraine: Die schwelende Krise

Im Konflikt um die Ukraine ist eine Entspannung der Lage weiter nicht in Sicht. Längst hat die Debatte auch auf die deutsche Politik übergegriffen, wo sich die verschiedenen Lager zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Nach den Beiträgen von Reinhard Mutz und Andreas Kappeler in der März-Ausgabe, die sich vor allem den politischen und historischen Hintergründen der Krise widmeten, analysiert im Folgenden August Pradetto die geopolitischen Hintergründe des Konflikts, während sich Moritz Kirchner explizit mit den Paradoxien und Widersprüchen in der Argumentation von Teilen der Linken auseinandersetzt. – D. Red 

Das Vorgehen Moskaus in der Ukraine ist zweifellos völkerrechtswidrig und es lässt die bestehenden Spannungen eskalieren. Es greift jedoch viel zu kurz, der russischen Annexion der Krim als einer überholten Geopolitik des 19. Jahrhunderts selbstgerecht die Politik des Westens als eine „Kultur des 21. Jahrhunderts“ entgegenzuhalten, wie dies etwa Josef Joffe tut, um dadurch einen angeblichen kategorialen Unterschied kenntlich zu machen. Stattdessen sollte man den Hintergrund für die Aussage eines russischen Politikers, der Regimewechsel in der Ukraine sei eben schlicht ein Regimewechsel zu viel gewesen, nicht ausblenden.

Geopolitisch haben die USA und andere westliche Länder nach dem Ende des Kalten Krieges alles getan, um ihre Einflusssphären auszudehnen, und zwar keineswegs nur friedlich, etwa über die Erweiterung der EU, sondern auch mit einer globalen Ausweitung ihres Stützpunktsystems, der Entwicklung von Generationen hochmoderner Waffen und einer Reihe von völkerrechtswidrigen Kriegen, von Kosovo über den Irak bis Libyen (jedenfalls bei der Absetzung Gaddafis). Kurzum: Der militärisch gestützte Regimewechsel ist seit 1995 zu einem Kennzeichen westlicher Außenpolitik geworden. Möglich war das nur aufgrund der großen wirtschaftlichen und militärischen Übermacht des Westens.

Im Vergleich dazu ist die Geopolitik Moskaus regelrecht bescheiden, natürlich auch, weil die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen bescheiden sind. Moskau vermag schon daher die neuen Muster westlicher Außenpolitik nur beschränkt umzusetzen. Russland muss sich bei seinen geopolitischen Kontraversuchen auf so kleine Gebiete wie Abchasien, Südossetien und die Krim beschränken, zu mehr reicht es kaum.

Gewiss, auch das ist nicht akzeptabel, aber es sollte eben nicht vergessen werden, dass Michail Gorbatschow anlässlich der deutschen Vereinigung versprochen worden war, die Nato würde sich nicht über das Gebiet der ehemaligen DDR hinaus nach Osten ausdehnen. Mittlerweile steht die Nato mit ihren Raketenabwehrsystemen fast an den russischen Grenzen. Und der Cyberwar, von westlichen Politikern als eine der großen Gefahren des 21. Jahrhunderts beschrieben, wird an vorderster Stelle von den USA und Großbritannien gegen den Rest der Welt geführt.

Im Vergleich zur jahrelangen Kriegsführung und Besetzung von Afghanistan und Irak sind die russischen Aktionen in Südossetien und auf der Krim bei weitem nicht so spektakulär. Die völkerrechtlichen Legitimationsversuche Moskaus in Bezug auf die Krim bleiben deshalb nicht weniger fadenscheinig. Aber wo wäre das normbasierte Gegenbeispiel?

Territoriale Machtpolitik zur Neuordnung der postkommunistischen Welt betreibt der Westen seit der Auflösung des Warschauer Pakts 1990/91. Überaus schnell erkannten Deutschland und die EU schon Anfang der 90er Jahre die Separationserklärungen jugoslawischer Teilrepubliken an und förderten die Auflösung des Gesamtstaates, mit zum Teil gewalteskalierenden Folgen. Einige Volksgruppen wurden in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützt, andere nicht. In Bosnien-Herzegowina wurde sogar ein neues Mini-Jugoslawien kreiert. Je nach Kalkül wurde diese Politik einmal mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein anderes Mal unter Hinweis auf die völkerrechtlichen Prinzipien von Souveränität und territorialer Integrität gerechtfertigt. So unterminiert man erfolgreich das im internationalen Raum ohnehin zu schwach ausgeprägte Rechtsbewusstsein. Einwendungen, die sich auf internationale Rechtsstandards bezogen, wurden mit dem Hinweis abgebügelt, man akzeptiere kein Veto Dritter in Bezug auf die eigenen Entscheidungen.

Schließlich kam die Gewalttaktik bei angestrebten Regimewechseln überall dort zur Anwendung, wo dies in den letzten beiden Jahrzehnten für richtig gehalten wurde: von der Anerkennung und dem Aufpäppeln nationalistischer Gewaltgruppen wie der UCK, damit der beabsichtigte Regimewechsel in Kosovo und Serbien schneller vor sich geht, bis hin zur Unterstützung der islamistischen Gewaltopposition in Libyen, der die Nato in einem acht Monate dauernden Krieg den Weg nach Tripolis freigebombt hat. Und jetzt sind westliche Staatsführer entrüstet, wenn das Parlament auf der Krim beschließt und die Mehrheit der Einwohner dafür votiert, sich für autonom zu erklären und Russland anzuschließen, und die Moskauer Führung das unterstützt.

Das führt zu der Frage, woher die Empörung über Putin rührt. Wird etwa erwartet, dass Putin sich völkerrechtlich, politisch und rhetorisch anständiger verhält als unsere eigenen demokratischen Führungspersönlichkeiten? Oder hat sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, dass all das, was der Westen macht, per se legitim ist, und das, was Russland und einige andere machen, per se illegitim?

Wenn das so ist, dann sitzen „unsere“ Journalisten und Beobachter nicht weniger der Propaganda ihrer Staatsführer oder ihrer eigenen Ideologie auf als die Journalisten und Beobachter in jenen Ländern, die wir für gelenkte Demokratien oder Diktaturen halten.

Es ist erstaunlich, wie schnell man von der gerade noch beschworenen „strategischen Partnerschaft“ mit Russland wieder in den Kalten Krieg zurückzufallen droht. Andererseits ist dies auch nicht verwunderlich, wenn die mentale Grundbefindlichkeit in Selbstgerechtigkeit und dem offenkundigen Glauben besteht, wir könnten uns alles und die anderen sich nichts erlauben. Oder nicht einmal darüber nachgedacht wird, dass man von anderen fordert, was man selbst nicht einhält. Dauerhaft kann auf die Macht des Rechts jedoch nur einigermaßen erfolgreich pochen, wer sich selbst an das Recht hält – zumal wenn man wie der Westen nur ein Zehntel der Weltbevölkerung ausmacht, die in ihrer großen Mehrheit dem angemaßten westlichen exceptionalism nicht zuletzt aufgrund seiner double standards kritisch gegenübersteht.

25 Jahre nach 1989: Für eine Reaktivierung geopolitischer Sensibilität

Was also ist die Lehre aus der Geschichte der letzten 25 Jahre?

Die Erosion des Völkerrechts und die Schwächung globaler und regionaler Kooperations- und Krisenmanagementorganisationen müssen rückgängig gemacht werden – und zwar beginnend mit den Vereinten Nationen. Unilaterale Gewaltpolitik, coalitions of the willing für militärisch gestützte Regimewechselpolitik und die Unterstützung von in Krisenländern agierenden Oppositionsgruppen, die auf Gewalt setzen, müssen beendet werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sowohl in der internationalen Politik als auch in der Innenpolitik von Krisenländern immer mehr Akteure auf Macht und Gewalt statt auf Recht setzen.

Für die Ukraine heißt das unter anderem, dass die schwache Legitimationsbasis der neuen Kiewer Führung durch eine Regierung der nationalen Einheit ersetzt werden muss, die das ganze ethnische und politische Spektrum spiegelt und nicht nur einen Teil der Gesellschaft. Das Land braucht föderale Strukturen. Sonst steht es schlecht um die Einheit der Ukraine.

Vor allem anderen aber müssen Washington, Berlin, London, Paris und nicht zuletzt auch Warschau wieder ein Minimum an geopolitischer Sensibilität entwickeln. Seit zehn Jahren steht die Einbeziehung der Ukraine in die Nato auf der Agenda der Washingtoner Außenpolitik. Der Auftritt von US-Außenminister John Kerry in Kiew, der Empfang des neuen ukrainischen Premiers im Weißen Haus und die Bereitschaft zu Milliardeninvestitionen in ein völlig marodes Land – im Human Development Index (HDI) 2013 an 78. Stelle liegend, weit hinter Russland (55), noch hinter Mexiko, dem Libanon und Peru – sind nichts anderes als die Bekräftigung des Willens, einen prowestlichen Regimewechsel, was immer er koste, zum Abschluss zu bringen und das westliche Militärbündnis bis an die russischen Grenzen zu erweitern.

Die Nato 500 Kilometer vor Moskau: Man muss entweder naiv oder zynisch sein, um russische Sorgen als bloßen Rückfall in den Kalten Krieg abzutun. John F. Kennedy riskierte 1962 einen atomaren Schlagabtausch mit der Sowjetunion, als Nikita Chruschtschow Mittelstreckenraketen auf Kuba stationieren wollte. Warum sollte der Beitritt der Ukraine zur Nato für Moskau akzeptabler sein, als es die Raketen auf Kuba für Washington waren?

Cui bono – wem nützt es?

Vor diesem Hintergrund kann das Erstarken des russischen Nationalismus kaum erstaunen. Gerade in Deutschland sollte die Erfahrung von 1918 bis 1945 gelehrt haben, welche Folgen eine demütigende Nachkriegsordnung haben kann. Zumal die entscheidende Frage lautet: Cui bono? Wem nützt es? Ist die gegenwärtige Entwicklung im deutschen und europäischen Interesse?

Fest steht: Eine aus der Logik der Konfrontation resultierende Entwicklung wird für keine Seite vorteilhaft sein. Bei der Ukraine handelt es sich um ein Land, das fast doppelt so groß ist wie Deutschland und (auch ohne Krim) weit mehr als 40 Millionen Einwohner zählt. Und es ist kein postkommunistisches mitteleuropäisches Land mit einer demokratischen Tradition und einem Unternehmergeist wie etwa Polen. Im Gegenteil: Die Ukraine ist bankrott, eine „Jugoslawisierung“ und gewaltsame, ethnisch aufgeladene Auseinandersetzungen sind mittlerweile nicht mehr ausgeschlossen. Um dies zu verhindern, muss dieser zutiefst korrupte, in Teilen schon nicht mehr funktionsfähige Staat wirtschaftlich, sozial und politisch stabilisiert werden.

Wie aber soll die Europäische Union – und das heißt bei ihrem gegenwärtigen Zustand vor allem Deutschland – dies leisten? Die USA jedenfalls werden vorrangig auf Europa verweisen, wenn es darum geht, den „Wiederaufbau“ in der Ukraine zu bewerkstelligen. Und der EU wird wenig anderes übrig bleiben, weil von einer 45-Millionen-Ukraine ohne ein Mittelmeer dazwischen eine ganz andere Dimension der Bedrohung ausgeht als vom 5-Millionen-Staat Libyen – der übrigens 2011, also vor dem Regimewechsel, um einiges besser dastand als die Ukraine heute, nämlich auf HDI-Platz 64.

Mit der Ukraine könnte aber ganz schnell noch ein weiteres Problem virulent werden: Belarus. Im Gefolge einer westlicherseits forcierten „Europäisierung“ oder „Natoisierung“ der Ukraine ist absehbar, dass es auch in Weißrussland zu Auseinandersetzungen über den Weg des Landes kommen wird – bei den „Pro-Europäern“ genährt von der Hoffnung, wieder vom Westen unterstützt zu werden. Präsident Alexander Lukaschenko bemühte sich schon in der zweiten Hälfte der 90er und in den 2000er Jahren um eine Vereinigung mit Russland. Wie verhalten sich EU und Nato, wenn derartige Vorstellungen angesichts einer Westorientierung der Ukraine nun von Moskau positiv beantwortet werden? Sind uns die Dimensionen und Kosten der gerade stattfindenden Geopolitisierung in Europa überhaupt bewusst, die die gegenwärtige Auseinandersetzung zeitigen kann – wirtschaftlich, strategisch, politisch und möglicherweise auch an Menschenleben? Oder sind wir derart in der eigenen Ideologie globaler Ausbreitung von Freiheit und Demokratie befangen, dass uns jegliches Denken in realistischen Kategorien abhanden gekommen ist?

Schon die bisher erfolgte Zuspitzung wird alle Seiten teuer zu stehen kommen. Die desaströse politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der vergangenen zehn Jahre in der Ukraine, das gleichzeitige Wecken nicht erfüllbarer Hoffnungen auf der einen Seite, die Annexion der Krim und – eventuell – weiterer östlicher Landesteile andererseits, werden in erster Linie die Ukraine selbst treffen, aber darüber hinaus die EU, Russland und die gesamte Weltwirtschaft.

Gibt es noch einen Ausweg aus der Krise?

Wie aber könnte ein Kompromiss aussehen?

Der Anschluss der Krim an Russland ist so weit vorangeschritten, dass es wohl keinen Weg zurück gibt. Der EU bleibt dagegen gar nichts anderes übrig, als wirtschaftliche Hilfe für ein Land zu leisten, das sonst im Chaos versinken wird. Sie sollte versuchen, der drohenden Misere in der Ukraine mit Hilfe Russlands Herr zu werden.

Im Gegenzug für die Akzeptanz der Angliederung der Krim an Russland sollte Moskau dafür gewonnen werden, sich an der wirtschaftlichen Gesundung der Ukraine zu beteiligen, zum Beispiel durch billige Gaslieferungen. Dafür wird zweierlei vereinbart: Abgesehen von der Krim gewährleistet Moskau die territoriale Integrität der Ukraine, und der Westen sagt zu, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied wird (diese Auffassung haben schon eine Reihe von erfahrenen Diplomaten vorgetragen, unter anderem Henry Kissinger). Gleichzeitig wird die Wirtschaftskooperation zwischen der EU und Moskau vertieft. Und Moskau wird klargemacht, dass die Krim als ein Sonderfall aufgrund der russischen Geschichte betrachtet wird und dass alle weiteren Versuche, im Baltikum oder an anderer Stelle die Geschichte zurückzudrehen, einen endgültigen Bruch mit Europa bedeuten würden.

Ein solcher Kompromiss enthielte bessere Perspektiven für die Zukunft aller Beteiligten als das gegenwärtige Säbelrasseln. Skepsis ist freilich angebracht. Mittlerweile hat die Krise einen Eskalationsgrad erreicht, der die Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland zunehmend zu einer Prestigefrage werden lässt. Jede Seite hat sich bis zu einem Punkt vorgewagt, dass sich die Akteure mehr und mehr in der Glaubwürdigkeitsfalle befinden. Zumal nicht zuletzt von Seiten der Medien der Druck wächst, „die Russen“ in die Schranken zu weisen und es ihnen endlich „zu zeigen“.

Vieles erinnert fatal an die Lage nach 1945: Damals war die noch kurz zuvor von den Alliierten beschworene „gemeinsame Verantwortung für den Frieden in der Welt“ in kurzer Zeit von Wirtschaftsblockaden, politischer Ausgrenzung und einer Militarisierung der Beziehungen abgelöst worden – im Zuge sich wechselseitig aufschaukelnder Machtpolitik, dem Denken in Einflusssphären und Prestigeambitionen bei gegenseitiger Dämonisierung und medialer Hysterisierung. Im Westen wurden „die Russen“ für alles verantwortlich gemacht, von diesen umgekehrt „der imperialistische Westen“. Die Folge war eine gut 20 Jahre währende Eiszeit, die erst im Zuge der Entspannungspolitik eine langsame Erwärmung erlebte, die schließlich in Gorbatschows Perestroika mündete. Man kann nur hoffen, dass die heutigen Staatsführer und -führerinnen diese schmerzliche Lektion nicht schon 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wieder vergessen haben.

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

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