Ausgabe Januar 2012

Die Linke im Ghetto: Wo bleibt das linke Projekt?

„Unser Erfurter Programm wird dieses Land verändern“, rief die Parteivorsitzende der Linken, Gesine Lötzsch, den Delegierten des Programm-Parteitages zu. Wenn Programme die Welt verändern könnten, hätten wir längst andere Verhältnisse.

Gewiss, Grundsatzprogramme sind wichtig. Doch sie sind nicht der Stoff, der die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Sie bieten Orientierung und verhelfen zur Selbstverständigung unter den aktiven Mitgliedern; sie sollen und können Identität stiften; sie liefern dem parteiinternen Richtungsstreit legitimatorische Grundlagen und Grenzen. Doch ihre Wirkung bleibt begrenzt. Sie ist nach innen gerichtet. Vor allem bleibt die strategische Frage nach den handlungsleitenden Prioritäten unbeantwortet.

Der Anspruch, auf allen Feldern Präsenz zu zeigen, wird notgedrungen im Stich gelassen, wenn es gilt, mit eigenen, mobilisierungsfähigen Themen in die Offensive zu kommen. Der Preis der Vollständigkeit liegt in der Beliebigkeit der Handlungsfelder. Erst die konkreten Schwerpunkte der Politik prägen das Profil einer Partei.

Damit sind wir bei der entscheidenden Frage: Wie kommt es, dass sich die fraglos vorhandene Empörung über Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und Kürzung sozialer Leistungen nicht in Wählerstimmen für die Linke niederschlägt?

»Der Linkspartei könnte am Ende das Ghetto einer ostdeutschen Regionalpartei drohen.«

Die Situation ist in der Tat paradox. Folgt man den mit bemerkenswerter Konstanz präsentierten Befunden der Demoskopie, haben die meisten der im Parteiprogramm angesprochenen Probleme und ihre Antworten das Zeug zu „Volksthemen“. Sie spiegeln mehrheitlich verbreitete Sorgen und Verletzungen wider. Dennoch setzt nur eine Minderheit, soweit sie politische Lösungen erwartet, auf die Linke.

Weder drängen mehrheitliche Stimmungen gleichsam naturwüchsig zum Aufbruch. Noch haben soziale Initiativen und selbst massenhafte Aktionen es vermocht, ebenso massenhaft Hoffnungen auf die Gestaltungskraft der Linken zu wecken; das gilt auch für Felder, auf denen der Partei spezifische Kompetenz zugeschrieben wird.

Ja, bilanziert man das zu Ende gehende Wahljahr, könnte schließlich das Ghetto einer ostdeutschen Regionalpartei drohen, die im Westen über den Kern weniger gewerkschaftlicher Aktivisten und politisch bewusster Intellektueller nicht hinauskommt. Jedenfalls ist die Erwartung, aus der besonders in den Gewerkschaften verbreiteten Enttäuschung über die Agenda-SPD eigene Beitritts- und Wahlerfolge zu schlagen, bisher nicht aufgegangen.

Zum einen scheint der unter Arbeitnehmern tief verwurzelte Pragmatismus durchzuschlagen – man kann es auch gewerkschaftlichen Realitätssinn nennen –, der im Ernstfall trotz aller Kritik den Parteien den Vorzug gibt, die traditionell eine Machbeteiligung versprechen, also der SPD, seit einiger Zeit auch den Grünen. Zum anderen sitzt bei einem Großteil der Nichtwählerinnen und -wähler die Resignation so tief, dass sie sich vom Politikbetrieb insgesamt abwenden – das betrifft auch die Linke. Natürlich ist das alles kein Naturgesetz. Die Frage nach dem Missverhältnis zwischen dem sozialen Verdruss der Menschen und den Wählerstimmen der Linken ist ja nicht müßig. Um sie produktiv zu wenden: Was muss die Linke tun, um das ihr drohende Ghetto abzuwenden? Damit sind wir bei den hausgemachten Faktoren, die eine überzeugende politische Offensive bisher verhindert haben.

Man tut der Linkspartei sicher nicht unrecht, wenn man den Grundtenor ihrer politischen Schwerpunkte als strukturkonservativ bezeichnet. Die sozialpolitische Agenda, mit der die Partei in besonderer Weise identifiziert wird, zeichnet sich in enger Anlehnung an die Gewerkschaften durch Verteidigung bzw. Wiederherstellung des unter neoliberalem Beschuss stehenden sozialen und arbeitsrechtlichen Schutzes aus. Auch weiterführende Reformforderungen wie der nach einem gesetzlichen Mindestlohn oder einem öffentlichen Beschäftigungssektor, bewegen sich im System herkömmlicher sozialstaatlicher Gewährleistungen.

Die verbreitete Wahrnehmung der Linken als einer sozialen Protestpartei ist durchaus kein Zerrbild. Nicht, dass die Abwehr marktorthodoxer Zerstörungen keinen Beifall verdiente. Doch sie lässt all jene, die ahnen, dass das Zurück zu gewohnter sozialer Sicherung plus keynesianischer Wachstumspflege für sich genommen nicht reicht, um in eine menschenwürdige Zukunft aufzubrechen, mit ihren Zweifeln allein.

Wo also liegt das spezifisch linke Projekt einer Alternative zur real existierenden Misere? Ein Projekt, das die Partei in die Lage versetzt, ihrerseits die Themen der politischen Auseinandersetzung zu bestimmen. Natürlich kommt auch „Die Linke“ nicht umhin, sich dem Streit um fremdgesetzte Themen zu stellen. Denn die politische Tagesordnung bestimmen nach wie vor andere; deren „Reform“-Zumutungen beherrschen die Debatte.

»Wo liegt das spezifisch linke Projekt einer Alternative zur real existierenden Misere?«

Was daher spätestens nach Verabschiedung des Parteiprogramms Not tut, ist die Arbeit an einem Zukunftsentwurf, der konkret, nachvollziehbar und verbindlich das tägliche Handeln wie die längerfristige Strategie bestimmt. Das aber ist mehr als die notwendig abstrakte Beschreibung des demokratischen Sozialismus im Grundsatzprogramm. Es ist kein Zufall, dass die von Teilen der Linken favorisierte Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht wenige, vor allem junge Menschen in ihren Bann zieht. Wer aber dieses Konzept ablehnt, muss sich erst recht der Mühe unterziehen, ein überzeugendes emanzipatorisches und soziales, die gesellschaftliche Spaltung überwindendes Projekt zu entwickeln.

Ein zentraler Baustein eines solchen muss die Arbeitszeitverkürzung sein. Es ist ohnehin verwunderlich, dass eine Partei, die sich wie keine andere mit der Massenarbeitslosigkeit und deren Folgen auseinandersetzt, die Arbeitszeit nicht schon längst zum Schwerpunkt ihrer Politik gemacht hat. Arbeitslosigkeit ist das zentrale Übel der neoliberal getrimmten Gesellschaften, für jeden einzelnen, der von ihr geschlagen oder bedroht ist, für die sozialen Sicherungssysteme, für Entgelt und Arbeitsbedingungen, für die Gewerkschaften und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis.

Dabei geht es, wohlbemerkt, um die Teilhabe an der Erwerbsarbeit. Natürlich ist Erwerbsarbeit nur ein Ausschnitt aus der Gesamtheit der gesellschaftlichen Arbeit; und natürlich schreien die Bedingungen abhängiger Arbeit nach Reformen (deren Erfolgsbedingungen übrigens aufs Engste mit dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zusammenhängen). Doch solange die Erwerbsarbeit für die übergroße Mehrheit die wichtigste Brücke zur Gesellschaft bietet, ist es Aufgabe aller den Menschen dienenden Politik, jedem, der will, den Zugang zu einer bezahlten Beschäftigung zu eröffnen.

Unbestritten hängen zukunftsfähige Arbeitsplätze ganz wesentlich von der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie von der Reform und Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen ab, also einer Umkehr von der derzeit ins Werk gesetzten öffentlichen Verarmung. Doch ebenso unbestritten kann und muss die Arbeitszeit verkürzt werden, mindestens im Maße des Produktivitätsfortschritts. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene findet die Arbeitszeitverkürzung ohnehin statt. Seit den Anfängen der Industrialisierung reduziert sich die gesamtgesellschaftlich aufzuwendende Arbeitszeit bei gleichzeitigem Wachstum der Arbeitsergebnisse. Seit Ende der 1960er Jahre hat sich beispielsweise die in Westdeutschland erarbeitete Menge an Gütern und Dienstleistungen real verdreifacht, bei einer um mehr als ein Viertel geringeren Summe der insgesamt aufgewandten Arbeitszeit.

Eigentlich könnten so uralte Menschheitsträume vom Reichtum selbstbestimmter Zeit wahr werden. Doch tatsächlich hat sich die gesamtwirtschaftlich reduzierte Arbeitszeit nur zu einem Teil in individuell kürzeren Arbeitstagen und -wochen, in Urlaub und in – meist nicht frei gewählter – Teilzeitarbeit niedergeschlagen. Ganz überwiegend begegnet sie uns in der unmenschlichen Gestalt der Massenarbeitslosigkeit, also totaler Zwangsfreizeit unter Ausschluss von einem zentralen Sektor des gesellschaftlichen Lebens. Was also liegt näher als das Projekt einer radikalen allgemeinen Arbeitszeitverkürzung, damit alle, die es wollen, Arbeit finden und zugleich alle mehr Zeit für ein selbstbestimmtes Leben haben? Die vorgestrigen Einwände gegen die negative Beschäftigungswirkung kürzerer Arbeitszeiten sollten sich spätestens seit den allseits gerühmten Erfolgen der jüngst praktizierten Kurzarbeit erledigt haben.

»Wenn die Linke tatsächlich ‚Mehrheiten gewinnen’ will, sollte sie sich für ein solidarisches und freiheitliches Regime kürzerer Arbeitszeit einsetzen.«

Gewiss, das Thema ist kompliziert und sperrig. Dass die Gewerkschaften abwarten, ist angesichts der Machtverhältnisse verständlich; wer in Zeiten der Arbeitslosigkeit täglich alle Kräfte aufbieten muss, um überhaupt Tarifbindung zu erhalten und um die Mitglieder vor gravierenden Einkommensverlusten zu schützen, der zögert, auch noch die Last einer tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzung zu schultern. Aber muss sich die tarifpolitische Schwäche auch noch in der Halbherzigkeit der Linkspartei fortsetzen? Das ist umso weniger verständlich, als eine spürbare Arbeitszeitverkürzung ohnehin auf Arbeitsteilung zwischen Staat und Koalitionen angewiesen ist und der gesetzlichen Initiative und Flankierung bedarf. Schon der Einkommensausgleich lässt sich bei den beschäftigungspolitisch notwendig großen Schritten nicht ausschließlich durch Tarifvertrag sichern.

Immerhin billigt das Grundsatzprogramm der Arbeitszeitverkürzung nunmehr einen höheren Stellenwert zu, nachdem die Vorentwürfe das Thema auf die Bedeutung eines beiläufig erwähnten Merkpostens heruntergestuft hatten. Doch die Proklamation im Programm ist das eine. Das Ziel konkret mit Leben zu füllen, einzelne Schritte und Optionen zu entwickeln, die Rahmenbedingungen einer Mobilisierungsstrategie auszuloten, Phantasie darüber zu wecken, was Zeitwohlstand bedeutet und für diesen Wohlstand lautstark zu streiten, ist die andere, überfällige Aufgabe, an der die Partei sich messen lassen muss, wenn anders das postulierte Recht auf Arbeit nicht zur Programmlüge verkommen soll.

Wenn die Linke tatsächlich „Mehrheiten gewinnen“ will „für einen Aufbruch zu einer anderen Art zu arbeiten und zu leben“, sollte sie sich für ein solidarisches und freiheitliches Regime kürzerer Arbeitszeit einsetzen, das das ganze Spektrum von kürzeren Arbeitstagen, von Blockfreizeiten, Bildungs- und Elternzeiten sowie Sabbatjahren anbietet. Des Weiteren stellen sich Fragen nach den Wirkungen von Zeitwohlstand auf die Arbeits- und Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, nach der Erleichterung und Anziehungskraft sozialen Engagements oder nach den Chancen, die die Leistungen der öffentlichen Infrastruktur, etwa auf kulturellem und musischem Gebiet, eröffnen können, wenn ihnen durch Zeitvermehrung Raum geschaffen wird. 

Spätestens hier berührt sich die Frage der Neuverteilung von selbstbestimmter Zeit und Arbeit mit der Frage danach, welchen Wohlstand wir in Zukunft haben wollen. Die Freiheitsverheißungen des überkommenen Konsum-Modells der westlichen Industriegesellschaften stoßen an Grenzen. Dieser Wohlstand ist aus Ressourcen- und Umweltbedingungen weder verallgemeinerungs- noch fortsetzungsfähig. Das muss nicht zu Verarmung führen. Jedenfalls dann nicht, wenn sich der Wohlstand der Zukunft vermehrt aus öffentlichen Gütern und Leistungen zusammensetzt. Und wenn Entschleunigung gelingt. Wenn der persönlichen Autonomie Gefahr droht, so nicht zuletzt durch das Diktat der Geschwindigkeit und durch die Auflösung von zeitlicher Kontinuität und langfristigem Denken durch das Stakkato kleingehackter Zeiteinheiten. Ohne die Vorstellung eines anderen, reichhaltigeren Wohlstands müsste jeder Versuch eines demokratischen Umsteuerns zugunsten einer umwelt- und ressourcenfreundlichen Produktion und Lebensweise scheitern. Angst vor Verlust und Entbehrung führt zu Blockaden. Wenn sich demnach für eine zukunftsgewandte Partei eine Aufgabe stellt, dann die eines linken Projekts, das sich anschickt, Wohlstand neu und als Gewinn für alle zu definieren.

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