Ausgabe September 2013

Die neue Flüchtlingsbewegung

Die Unterbringung und Behandlung von Asylsuchenden ist wieder Thema – in der Politik und in den Medien. Seit über einem Jahr kämpfen Flüchtlinge so hartnäckig für mehr Rechte wie schon lange nicht mehr, während zugleich in vielen Städten Anwohner gegen neue Flüchtlingsunterkünfte in ihrer Nachbarschaft aufbegehren.

Die jüngsten Proteste der Flüchtlinge begannen im März 2012, nachdem sich der 29jährige Asylbewerber Mohammad Rahsepar in einem Würzburger Flüchtlingslager das Leben genommen hatte. Der Unmut entzündete sich nicht zufällig in Bayern, denn dort sind die Bedingungen für Geflüchtete besonders hart: Sie werden in desolaten Containerlagern untergebraucht, erhalten kein Bargeld, sondern lediglich Essenspakete und Warengutscheine, die sie nur in speziellen Geschäften einlösen können. Dazu kommen lange Wartezeiten bis der Asylantrag entschieden ist.

„Wir leiden unter dem langwierigen, Jahre anhaltenden Prüfungsprozess unserer Asylanträge. Diese Ungewissheit und dass uns keinerlei Selbstständigkeit im Alltag gewährt wird, wir außerdem wie Gefangene gehalten werden, zermürbt uns.“ Mit diesen Worten kündigten einige Asylsuchende aus dem Iran im März letzten Jahres ihren Hungerstreik an. Es folgten Protestcamps in Düsseldorf, Osnabrück, Berlin, Nürnberg, Regensburg, Aub, Passau und Bamberg.

Im September versammelten sich mehrere Aktivisten in Würzburg und liefen gemeinsam 600 Kilometer nach Berlin. Seit Oktober letzten Jahres campen sie auf dem Berliner Oranienplatz. Im Frühjahr besuchten Flüchtlingsaktivisten im Kleinbus Asylsuchende an über 25 Orten, um sie über die Proteste zu informieren und sie für die Refugees-Revolution-Demonstration in Berlin zu gewinnen. Mitte April trafen sich Flüchtlingsfrauen zu einer Konferenz in Hamburg, um ihren selbstorganisierten Protest in den Sammelunterkünften zu fördern. Und unter dem Slogan „Lampedusa in Hamburg“ protestieren derzeit 300 obdachlose Männer aus verschiedenen westafrikanischen Ländern am Hamburger Hauptbahnhof. Die Wanderarbeiter waren während des Krieges aus Libyen geflüchtet und kamen über Italien nach Hamburg, wo sie ein Bleiberecht fordern.

Die Liste ließe sich noch lange fortführen, vom „International Refugee Tribunal“ im Juni in Berlin bis hin zu den jüngsten Protestmärschen in Bayern oder den Hungerstreiks in Bitterfeld, um gegen abgelegene, isolierte Heime vorzugehen.

Zwar ist der Protest bislang keine Massenbewegung, sondern eher ein Nebeneinander zahlreicher Initiativen und Aktionen. Doch die Ziele der Geflüchteten sind überall gleich: Sie fordern einen Abschiebestopp, insbesondere auch der Rücküberstellungen in die EU-Länder ihrer Ersteinreise – die sogenannte Dublin-II-Verordnung schreibt vor, dass Flüchtlinge nur in dem Land Asyl beantragen können, das sie zuerst betreten. Außerdem verlangen sie freie Arztwahl, Arbeits- und Studienerlaubnisse für alle Asylsuchenden, die Abschaffung der Residenzpflicht, der Abschiebehaft, der Lager und der Essenspakete sowie einen Anspruch auf staatlich geförderte Deutschkurse.

Während der vergangenen Jahre haben es die Kommunen hierzulande versäumt, rechtzeitig für ausreichende Unterkünfte für die wachsende Zahl der Flüchtlinge zu sorgen. 

Schon seit 2008 zeichnet sich der Trend zu steigenden Asylanträgen ab. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben im letzten Jahr rund 65 000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt, dies bedeutet einen Anstieg von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch in diesem Jahr ist die Zahl der Asylsuchenden weiter gewachsen. Im ersten Halbjahr 2013 wurden 43 016 Asylerstanträge gestellt, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeutet das ein Plus von rund 20 000 Menschen.

Und auch weltweit ist die Zahl der Flüchtlinge im vergangenen Jahr gestiegen – auf über 45 Millionen. So viele Flüchtlinge hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) seit 1994 nicht mehr gezählt. Grund für den Anstieg sind bewaffnete Konflikte wie der in Syrien. Rund zwei Millionen Menschen sind bisher vor dem syrischen Bürgerkrieg ins Ausland geflohen, rund 700 000 allein in den kleinen Libanon. Nur ein Bruchteil von ihnen, lediglich 4000, erreichte im ersten Halbjahr dieses Jahres das reiche Deutschland, 2012 waren es insgesamt 6000. Daneben kamen im ersten Halbjahr 2013 fast 10 000 Flüchtlinge aus Russland, mehrheitlich aus Tschetschenien und weiteren Nordkaukasus-Republiken, in denen Menschenrechtsverletzungen, Armut und ein zunehmend religiös geprägter Alltag mit gewaltsam durchgesetzten Verboten die Auswanderung befördern. Über 3000 Menschen flohen aus Afghanistan, jeweils um die 2000 aus Serbien, dem Irak und dem Iran. Zu den Hauptherkunftsländern zählen zudem Pakistan, Mazedonien, Somalia und Georgien.

Ein Teil der Flüchtlinge hat zuvor in Griechenland, Italien, Ungarn oder Polen gelebt und ist dann – anders als es die Dublin-II-Verordnung vorsieht – weiter nach Deutschland geflüchtet, weil hier Verwandte leben oder die Lebensbedingungen für Flüchtlinge in den Ersteinreiseländern nicht tragbar waren. Laut der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ist der durch das BAMF anerkannte Schutzbedarf aller Flüchtlinge gestiegen. Im ersten Halbjahr 2013 habe das Bundesamt in 44,2 Prozent der Entscheidungen einen Schutzstatus zugesprochen, so Pro Asyl. 2012 habe die Quote noch bei 35,8 Prozent gelegen.

Wachsende Ressentiments

Doch anstatt über die katastrophale Sicherheitslage in den Herkunftsländern zu informieren und für eine Willkommenskultur in der Bevölkerung zu werben, suggeriert Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) in seinen jüngsten Äußerungen, dass der Anstieg der Flüchtlingszahlen auf „asylfremde Motive“ zurückgehe.[1]

Damit befördert er rassistische Ressentiments in der Bevölkerung, anstatt ihnen entgegenzuwirken. Immer wieder protestieren Anwohner gegen neue Asyl-Unterkünfte. Mancherorts marschieren Nazis vor den Flüchtlingsheimen auf oder stellen sich an die Spitze der Anwohnerproteste wie etwa in Berlin-Hellersdorf.[2] Im Berliner Bezirk Reinickendorf untersagt eine Eigentümergemeinschaft Flüchtlingskindern per Anwalt und erhöhtem Zaun das Spielen auf dem benachbarten Spielplatz. Der Betreiber des Asylheims lässt nun einen eigenen Spielplatz bauen – offen für alle Kinder der Umgebung.

Zwar hat sich die rechtliche Situation der Flüchtlinge, in den letzten Jahren etwas gebessert: Den Gebietsarrest für Flüchtlinge haben einige Bundesländer in den letzten Jahren gelockert.[3] In elf der dreizehn Flächenstaaten wurde die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden auf das Bundesland ausgedehnt. Bayern und Sachsen weiteten den Aufenthaltsbereich vom Landkreis auf den etwas größeren Regierungsbezirk aus. Doch insgesamt bleibt es beim Herumdoktern an ausgefeilten Ausnahmeklauseln und ausgeklügelten Gebietserweiterungen – und das obwohl Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl schon lange fordern, das diskriminierende Bundesgesetz der Residenzpflicht ganz abzuschaffen. Wollen Asylsuchende und Menschen mit einer Duldung etwa in ein anderes Bundesland reisen, müssen sie in allen Bundesländern, die sie durchqueren, eine Erlaubnis beantragen. In sechs Bundesländern erheben die Ausländerbehörden dafür immer noch Gebühren, etwa in Bremen, Baden-Württemberg, Bayern und Berlin. Immerhin: Berlin und Brandenburg erteilen Dauererlaubnisse für das jeweilige Nachbarbundesland, ebenso Bremen und Niedersachsen, da hier länderübergreifende Regelungen getroffen wurden. Andere Bundesländer hingegen halten eisern an der Residenzpflicht fest, etwa das von der SPD regierte Hamburg.

Auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt gibt es einige Lockerungen: Aufgrund der EU-Qualifikationsrichtlinie verringert sich die Dauer des absoluten Arbeitsverbots für Asylsuchende und Menschen mit einer Duldung demnächst von einem Jahr auf neun Monate. Und die seit Juli geltende neu gefasste Beschäftigungsverordnung sieht vor, dass Menschen mit einem humanitären Aufenthaltsstatus künftig generell die Beschäftigungserlaubnis bekommen – auch die Arbeitsagentur muss nicht mehr gesondert zustimmen.

Etwas Bewegung kommt schließlich auch in die Frage der Deutschkurse. So haben die Länder den Bund mit einem einstimmigen Beschluss der letzten Integrationsministerkonferenz in Dresden aufgefordert, auch Asylbewerbern Integrationskurse anzubieten. Bislang sind Asylsuchende und Geduldete von den staatlich geförderten Deutschkursen ausgeschlossen. Ob und wann eine Umsetzung erfolgt, ist aber noch offen.

Kampf gegen Windmühlen

Doch auch wenn sich hier und da etwas verändert – konkrete, umfassende Verbesserungen sind bisher kaum in Sicht und die Forderungen der Flüchtlinge noch lange nicht erfüllt.

Stillstand herrscht etwa beim Asylbewerberleistungsgesetz, dessen Abschaffung Flüchtlingsorganisationen seit langem fordern. Selbst ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts konnte die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf vorlegen, der den verfassungswidrigen Zustand bei den Leistungen beenden würde. Der vorliegende Referentenentwurf übernimmt zwar die Beträge der vom Bundesverfassungsgericht im Sommer letzten Jahres verordneten Übergangsregelung, die sich am Hartz-IV-Satz orientiert. Allerdings sind nach wie vor Sachleistungen statt Bargeld vorgesehen, ebenfalls soll die Einweisung in Sammellager statt in Wohnungen weiterhin möglich bleiben.

Ein herber Schlag, vor allem für die Jugendlichen, die seit vielen Jahren mit einer Duldung in Deutschland leben, ist die Ablehnung des bereits vom Bundesrat befürworteten stichtagsunabhängigen Bleiberechts durch den Bundestag Ende Juni. Damit verlängern sich die Kettenduldungen mit all ihren Verboten und Einschränkungen etwa bei der Arbeitserlaubnis und der Bewegungsfreiheit.

Und auch die Zeit, bis Asylanträge entschieden sind, hat sich keineswegs verkürzt – außer bei Antragstellern aus Serbien und Mazedonien, für die das BAMF pauschale Ablehnungs-Schnellverfahren vorsieht, bei denen laut Pro Asyl nicht unvoreingenommen, sorgfältig und völkerrechtskonform geprüft wird.

Menschenwürde mit Rabatt

Die Palette an Sondergesetzen, die in Deutschland nach wie vor besteht, ist einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft unwürdig. Besonders das Asylbewerberleistungsgesetz, Kettenduldungen und das Reiseverbot schaffen eine Menschenwürde mit Rabatt. Sie durchdringen nicht nur den Lebensalltag von Flüchtlingen, sondern entziehen ihnen auch grundlegende Rechte. Damit verstärken sie das Gefühl vieler Flüchtlinge, isoliert, unsichtbar und Menschen zweiter Klasse zu sein.

Wollen sich Flüchtlinge vernetzen, um gegen ihre Behandlung zu kämpfen, müssen sie in der Regel ihre Landkreise und Bundesländer verlassen. Angesichts der Praxis von Ausländerbehörden, Flüchtlingen die Teilnahme an politischen Veranstaltungen zu verwehren, bedeutet die Residenzpflicht ein faktisches Verbot der Versammlungsfreiheit. Aber auch andere Grundrechte, etwa die freie Ausübung der Religion, die Berufswahl, das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder der Schutz der Ehe, werden durch das Reiseverbot beschnitten. Derzeit sind über 150 000 Menschen in Deutschland von diesem in der Europäischen Union einzigartigen Zustand betroffen – nicht selten über viele Jahre hinweg.

Doch die Bundesregierung ist nicht nur wegen des Grundgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention in der Pflicht, die Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland zu verbessern. Auch als Vertragsstaat der Anti-Rassismus-Konvention ist Deutschland umfassende Verpflichtungen eingegangen. So müssen seine Behörden in der Gesellschaft vorhandenen Stereotypen deutlich entgegenwirken. Nötig ist dafür vor allem die Anerkennung von gleichen Rechten – und nicht wohlfeile Aufrufe zur „Toleranz“ auf bunten Plakaten.

Derweil wirken die gesetzlichen Regelungen jedoch vor allem ausgrenzend und fördern so die Abwertung der Flüchtlinge durch Medien und Menschen. Dies wiederum begünstigt Rassismus und rechte Gewalt. Denn diese Ausschlüsse hinterlassen – nicht nur bei den Flüchtlingen – ihre Spuren im Denken, Fühlen und Handeln. 

Mit den Flüchtlingsprotesten und dadurch, dass sich die Aktivistinnen und Aktivisten Rechte wie die Bewegungsfreiheit nehmen, wehren sie sich gegen die verordnete Deklassierung, stärken und ermutigen sich gegenseitig. Sie klagen nicht nur die zukünftige Teilhabe an den sozialen, demokratischen Rechten und materiellen Chancen in der Bundesrepublik ein, sondern versuchen bereits heute ihre Rechte zu leben.

Damit sind sie in Europa nicht allein: Auch in Wien, Den Haag, Bologna, Budapest und anderen europäischen Städten veranstalten Asylsuchende Hungerstreiks, Demonstrationen, Vernetzungskonferenzen und Protestcamps. Bislang allerdings handelt es sich nicht um gemeinsam koordinierte Proteste und auch die Forderungen sind je nach Land sehr unterschiedlich. Gemein ist allen jedoch der Kampf gegen ihre Ausgrenzung.

Um die untragbare Situation der Flüchtlinge zu verbessern, muss die Politik den Flüchtlingen endlich Gehör schenken. Nötig ist ein grundlegendes Umdenken – weg von dem Gestrüpp aus abschreckenden Sonderregelungen und hin zu einer menschenwürdigen Asylpolitik. Dafür bedarf es nicht zuletzt auch mehr Menschen hierzulande, die sich für die Belange von Flüchtlingen überhaupt interessieren und sich für die Abschaffung der diskriminierenden Gesetze einsetzen. 

 

[1] Vgl. Zahl der Asylbewerber steigt: Minister Friedrich alarmiert, in: „Augsburger Allgemeine“, 14.8.2013.

[2] Vgl. Streit über Berliner Asylbewerberheim, Tagesthemen, 19.8.2013, www.youtube.com.

[3] Vgl. Anke Schwarzer, Gebietsarrest im 21. Jahrhundert, in: „Blätter“, 12/2012, S. 13-16.

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