Ausgabe Januar 2012

Die Quellen des Hasses

Als der westdeutsche Neonaziführer Michael Kühnen im Frühjahr 1990 über einen kleinen Grenzübergang in Thüringen in die im Untergang begriffene DDR einreiste, trug er ein Dokument bei sich, dass unter dem großspurigen und historisch anspielungsreichen Titel „Generalplan Ost“ den Aufbau neonazistischer Gruppen auf dem Gebiet der DDR vorsah.[1] Kühnen, euphorisiert vom Mauerfall, war der festen Überzeugung, die Wiederzulassung der NSDAP liege zum Greifen nahe. In den folgenden Monaten bis zur Wiedervereinigung gelang es ihm, Kontaktleute in vielen Großstädten der DDR zu rekrutieren. Kühnen konnte dabei auf Verbindungen zu Neonazis zurückgreifen, die vor dem Mauerfall von der Bundesrepublik aus der DDR freigekauft wurden. Diese entstammten wiederum der Fascho- und Skinheadszene der DDR, dessen Entstehungsphase bis in die frühen 1980er Jahre zurückreicht.

Doch auf die in den Monaten nach der Wiedervereinigung anrollende Welle rassistischer Gewalttaten in den neuen Bundesländern nahmen Kühnens Gefolgsleute weniger Einfluss, als gerade in Ostdeutschland gerne vielfach behauptet wird. Ebenso zweifelhaft ist die Behauptung, dass eine geheim strukturierte westdeutsche Neonaziszene als Drahtzieher für die rassistischen Pogrome in den neuen Ländern agierte. Dabei bedurfte es nicht einmal eines organisatorischen Rückgrats für die rassistischen Ausschreitungen gegen jene kleine Zahl von Migrantinnen und Migranten. Der Anstieg rassistischer Gewaltakte entwickelte sich vielmehr zum Selbstläufer – und zwar unter den Bedingungen einer zunehmend nationalistischen Stimmung in breiten Bevölkerungsschichten und eines erstaunlichen Vakuums staatlicher Sanktionsinstrumentarien, der die Planspiele organisierter Neonazis bei weitem übertraf.

Binnen weniger Jahre formte sich so in den neuen Ländern eine regional deutungsmächtige und gewaltförmig sanktionsfähige neonazistische Bewegung, die auch nach dem relativen Rückgang rassistisch motivierter Gewalttaten Bestand hatte. Die politische Sozialisation der in diesem Milieu aufgewachsenen jungen Neonazis basierte auf der Erfahrung, dass entgrenzte Gewalt gegenüber Migranten und politischen Gegnern keine strafrechtlichen und gesellschaftlichen Sanktionen nach sich zieht. Man war davon überzeugt, dass das eigene Handeln im Einklang mit der Mehrheit der Bevölkerung stand. Dieser Eindruck verfestigte sich umso mehr, als der Rechtsstaat sein durchaus vorhandenes Instrumentarium zur Bekämpfung rechter Gewalt nicht anwandte.

Rechtsradikalismus aus dem Milieu

Aus der rassistischen Bewegungs- und Mobilisierungsphase neonazistischer Jugendkultur entstanden zur Mitte der 1990er Jahre zahlenmäßig kleinere neonazistische Milieus, die sich weiterhin durch Gewaltbereitschaft und regionales Dominanzstreben auszeichneten. Das Spektrum ihrer Aktivitäten war breit gefächert und zielte auf den Aufbau neonazistischer Strukturen im vorpolitischen Raum. Als Basis dienten dem Milieu Jugendclubs, wie jener in Magdeburg-Nord, in dem Rechtsrockbands wie „Elbsturm“ oder „Deutsche Patrioten“ probten, Fanprojekte[2] und Szene-Events wie Konzerte und Demonstrationen, die das Selbstbewusstsein der Bewegung stärkten. Die einsetzende Normalisierung der Präsenz eines rechten Lifestyles war überall dort erfolgreich, wo sich neonazistische Gruppen soziale Anerkennung erwarben, beispielsweise in dem sie sich für das „Gemeinwohl“ einsetzten.[3]

Strategisch angewandte Gewalt als Instrument zur Einschüchterung und Verdrängung politischer Gegner ist in diesem Kontext kein Widerspruch, sondern logische Konsequenz der Schaffung rechts dominierter Zonen. Die zur Mitte der 1990er Jahre ergangenen Verbote neonazistischer Kleinstorganisationen tasteten das skizzierte Milieu nicht an, im Gegenteil: Im Zuge der Verbote radikalisierte sich ein Teil der organisierten Neonazis; neue Formen des politischen Kampfes wurden diskutiert. Ausgehend von der Briefbombenserie in Österreich der Jahre 1994/95 wurde von Teilen der Szene der Übergang zum bewaffneten Kampf erwogen.[4]

Die Voraussetzung für die Bereitschaft, gezielte Tötungen zu begehen, ist also nicht nur eine Frage der individuellen Persönlichkeitsstruktur, sondern auch eine nach dem Grad der Identifikation mit den propagierten politischen Denkmustern. So mag der Schritt von der Aktivität in Kameradschaftsstrukturen hin zur planmäßigen Gewalt im „Untergrund“ groß erscheinen – die ideologische Selbstlegitimation der Akteure ist allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits vollbracht. Die Logik neonazistischen Denkens impliziert die den Gegner vernichtende Tat.

Die Kerne der zuvor verbotenen Organisationen wurden dafür unter anderem Namen, überregional koordiniert, fortgeführt. Die interne Debatte um den Aufbau von Neonazi-Strukturen, die sich zukünftig einem Verbot entziehen konnten, mündete schließlich in die Umsetzung des Konzepts „Freie Nationalisten“ – als dem Aufbau von regional agierenden sogenannten Kameradschaften. Dies schloss ein Interaktionsverhältnis der regionalen Neonazistrukturen zu strategisch planenden neonazistischen Führungsgruppen ein.

NPD und „Freie Netze“

Zudem ergaben sich durch das sukzessive Erstarken der NPD und die gestiegene Ausstrahlungskraft einer rechten Jugendkultur neue Anknüpfungspunkte für die neonazistische Bewegung. In Regionen Sachsens, Brandenburgs, Thüringens, Sachsen-Anhalts, Mecklenburg-Vorpommerns und Berlins entstanden regional verankerte neonazistische Kernmilieus, deren Fortbestand nicht an eine feste Organisationsstruktur gebunden war. Ausschlaggebend für die dynamische Entwicklung des Milieus wurde vielmehr seine Allgegenwärtigkeit im Alltag. Diese wurde und wird vor Ort nicht über Organisationen, sondern über Personen und ihr alltagskulturelles Umfeld realisiert.

So sind mittlerweile Jugendliche aus zwei Generationen mit den niedrigschwelligen stets verfügbaren neonazistischen Politikangeboten in ihrem Lebensumfeld in Kontakt gekommen – als Gegenentwurf zum auf dem Rückzug befindlichen demokratischen Wertesystem. Dass der Charakter dieser neonazistischen Kernmilieus von den Behörden systematisch unterschätzt wurde, lässt sich gut am Beispiel des neonazistischen Netzwerkes „Freies Netz“ zeigen. Aus den Ländern Sachsen und Thüringen heraus entwickelte sich das „Freie Netz“ zur überregionalen, Kameradschaften koordinierenden Kampagnenagentur, deren Organisationsprinzip auf der strategischen politischen Planung von neonazistischen Schlüsselpersonen beruhte. Doch die Landesregierung in Sachsen vertrat die Auffassung, die genannte Struktur verbinde nicht mehr als ein gemeinsamer Internetauftritt.[5] Interne Dokumente belegen jedoch, dass es sich beim „Freien Netz“ um einen organisatorischen Zusammenschluss handelt, der politische Kampagnen plante, Demonstrationen koordinierte – und die gezielte Ausübung von Gewalttaten diskutierte.[6]

Bei der Entstehung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ handelt es sich also keineswegs um eine von den Dynamiken des Neonazismus abgekoppelte Entwicklung. Im Gegenteil: Die Existenz einer solchen Untergrundgruppe kann nur aus der Kontinuität neonazistischer Kernmilieus seit Beginn der 1990er Jahre in Ostdeutschland verstanden werden.

Diese komplexe gesellschaftliche Struktur wird jedoch durch die Annahme etwa einer „Braunen Armee Fraktion“ eher verniedlicht. Die Beschreibung der im November aufgedeckten Taten unter dem Begriff des „Rechtsterrorismus“ verstellt gerade den Blick auf jene stabilen neonazistischen Kernmilieus, die seit mehr als einem Jahrzehnt im Dreieck zwischen neonazistischer Gruppengewalt, jugendkulturellen Ausdrucksformen und politischer Intervention erfolgreich agieren.

Der Begriff des „Rechtsterrorismus“ ist für das Phänomen „Nationalsozialistischer Untergrund“ schon deshalb ungeeignet, weil er suggeriert, die Akteure hätten abgekoppelt von der Dynamik des rechtsextremen Milieus Taten begangen, die dort auf Ablehnung gestoßen seien. Mit jeder neuen Enthüllung wird jedoch klar, dass die Existenz einer wie auch immer strukturierten „terroristischen Gruppe“ ohne das soziale und politische Kapillarsystem des neonazistischen Milieus nicht möglich gewesen wäre. In Wahrheit setzte das Trio mit tatkräftiger Unterstützung seines Umfeldes nur konsequent um, was die neonazistische Szene längst als legitimes Mittel für die erstrebte Machterlangung ansieht: die Vernichtung aller als Feind markierten Gruppen und Personen, die politisch, lebensweltlich oder weltanschaulich im Widerspruch zur NS-Ideologie stehen.

 

[1] Vgl. Antifaschistisches Autorenkollektiv, Drahtzieher im Braunen Netz. Der Wiederaufbau der NSDAP, Amsterdam 1991, S. 126; vgl. auch Rainer Erb, Neonazismus und rechte Subkultur, Berlin 1994.

[2] Vgl. Ronny Blaschke, Angriff von rechts Außen. Wie Neonazis den Fußball missbrauchen, Göttingen 2011.

[3] Im Zuge der Hochwasserkatastrophe in Sachsen und Sachsen-Anhalt traten Neonazis vielfach als organisierte Helfer in Erscheinung und erfuhren dafür Anerkennung von Bürgerinnen und Bürgern und kommunalpolitischen Vertretern.

[4] In den Jahren 1993 bis 1997 kam es in Österreich zu einer rassistisch motivierten Anschlagserie mittels Brief- und Rohrbomben, bei denen unter anderen vier Roma getötet und mehr als zwölf Menschen verletzt wurden, unter ihnen auch der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk.

[6] Ebd.

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