Ausgabe März 2013

Die Rückkehr der Geopolitik

Eine Ideologie und ihre fatalen Folgen

An der französischen Intervention in Mali wird sichtbar, was sich schon seit längerem abzeichnet: Die relative Schwächung der USA hat auf europäischer Ebene zu einer Renaissance der Geopolitik geführt. Wie Jürgen Wagner von der „Informationsstelle Militarisierung“ unlängst in einer lesenswerten Analyse dargelegt hat, konzentrieren sich inzwischen eine ganze Reihe von Think Tanks auf die Entwicklung eigenständiger geopolitische Entwürfe. Die Liste umfasst unter anderem das Egmont Institute, den European Council on Foreign Relations, das Centre for European Reform, das European Union Institute for Security Studies, das Centre for European Policy Studies sowie die Bertelsmann Stiftung.[1]

Besonders bemerkenswert ist dabei das laute Auftreten einer neu formierten Gruppe namens Group on Grand Strategy (GoGS) –  schon der Name verrät eine gewisse Selbstüberhöhung –, die mehrere Wissenschaftler aus den genannten Instituten vereint.Das Publikationsorgan dieser Gruppe „European Geostrategy“ existiert bereits seit 2009, wohingegen der Think Tank selbst offiziell erst im Sommer 2011 gegründet wurde. In ihren bisherigen Veröffentlichungen ist die GoGS durch eine Rhetorik aufgefallen, die unmittelbaren Handlungsdruck suggeriert. Der geopolitische Bedeutungsverlust Europas wird in mehreren Veröffentlichungen beschworen, um sogleich die Lösung anzubieten – nämlich eine massive geopolitische Expansion der EU.[2]

Besonders die beiden Direktoren James Rogers und Luis Simón haben in letzter Zeit Geokonzeptionen entwickelt, die den zukünftigen Einflussbereich der EU als Imperium abstecken. Ihr Plan ist äußerst ambitioniert: Die EU wird aufgefordert, sich einheitliche geheimdienstliche und militärische Strukturen zu schaffen, um ihren zukünftigen Einflussbereich zu verteidigen. Im Indischen Ozean soll diese von der EU kontrollierte „Grand Area“ bis zu den Meeresengen Indonesiens reichen. Im Nordosten soll sich der Einfluss bis zu den Jamal Gasfeldern in Nordrussland erstrecken. Weiter im Südosten soll dann unter Einschluss Kasachstans und Pakistans die Ostgrenze der europäischen Einflusssphäre markiert werden. Auch Nordafrika soll fast bis zum Äquator ein Satellit der EU werden. Lediglich im Westen sind Roger und Simón bescheiden und begnügen sich mit Grönland als Teil des zukünftigen Einflussbereichs.[3]

Geographie und Ideologie: Die Eigenart des geopolitischen Denkens

Man könnte diese Machtphantasie der selbsternannten Großstrategen als Kuriosität abtun, würde in diesen Planungen nicht eine generelle Eigenart des geopolitischen Denkens zutage treten. Die Geopolitik ist eine Disziplin, die seit jeher von den Militärs betrieben wird und somit eine Form von Kriegskunst darstellt. Ihre frühsten Zeugnisse lassen sich bis ins antike China zurückdatieren. In ihrer heutigen, modernen Form existiert die Geopolitik allerdings erst, seitdem der Globus vollständig kartographiert worden ist.

Als der Begriff Geopolitik 1899 von dem Schweden Rudolf Kjellén geprägt wurde,[4] beinhaltete er eine Denkweise, die versucht, die geographische Lage von Ländern und Kontinenten politisch zu deuten. Aufgrund dieser bereits im Begriff angelegten Überschneidung von Geographie und politischer Vorstellungskraft stellte die Geopolitik allerdings von Anfang an eine eigenartige Mischung aus Wissenschaft und Weltanschauung dar.

Zwar kann der konkreten Gestalt und Anordnung der einzelnen Kontinente und Länder tatsächlich eine politische Bedeutung zukommen. Doch sobald sich die Geopolitik auf deren Interpretation einlässt, neigt sie dazu, dieser Logik eine gewisse Ausschließlichkeit zuzusprechen. So tendieren viele geopolitische Analysen dahin, ganze Länder, Kulturkreise, Bevölkerungen und ihre Geschichte unter dem Diktat einer auf Machtausdehnung ausgerichteten Logik zu subsumieren und andere Perspektiven auszublenden. Die geopolitische Denkweise ist somit per se auf Vereinheitlichung ausgerichtet. Sie neigt dazu, das Verschiedene der geographischen, historischen und kulturellen Räume auf ein paar Linien auf einer Landkarte zu reduzieren. Das macht das Befremdliche dieser Logik aus. Die Unabänderlichkeit der Geographie, auf die sich die Geostrategen mit ihren auf Karten eingezeichneten Pfeilen, Kreisen und Linien berufen, verleiht ihren Analysen jedoch den Schein der Objektivität. Sie erzeugen dadurch den Eindruck, die Weltzusammenhänge wären grundsätzlich einschätzbar.

Dabei sind die Prämissen der Geopolitik insgesamt ausgesprochen biegsam. Betrachtet man nur die großen geopolitischen Analysen des 20. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass es häufig zu einer Art Komplizenschaft zwischen einer bestimmten geopolitischen Analyse und einer politischen Ideologie gekommen ist. So entwickelte Homer Lea in seinem 1912 publizierten Buch „The Day of the Saxon“[5] eine umfassende Rechtfertigung der britischen Kolonialherrschaft, die er als notwendig und unvermeidlich darstellte. Das bis heute wohl bekannteste Beispiel für diese kaum aufgearbeitete Verkleidung des Zeitgeistes im Gewand der Geopolitik ist jedoch das Werk Karl Haushofers, dessen Lehre vom Lebensraum durch seine „Zeitschrift für Geopolitik“ erheblichen Einfluss auf die außenpolitischen Zielsetzungen des nationalsozialistischen Deutschlands gehabt hat.

Vieles deutet deshalb darauf hin, dass das Resultat einer geopolitischen Untersuchung weit stärker von der Weltanschauung ihres Autors abhängig ist, als von der Geographie. Wer vom machtpolitischen Aufstieg des eigenen Landes träumt, wird schnell die geopolitischen Argumente parat haben, die dieses Ziel als notwendig und alternativlos erscheinen lassen. Die Geographie dient dann oft nachträglich als Versatzstück, um eine weltanschauliche Argumentation im Gewande wissenschaftlicher Objektivität zu präsentieren.

Von Vietnam bis Afghanistan: Die inhärente Schwäche der Geopolitik

Diese Eigenart der geopolitischen Logik wäre leicht korrigierbar, wenn sie mit anderen Denkweisen in der öffentlichen Auseinandersetzung konkurrieren müsste. Doch leider besteht ein Merkmal der aktuellen Wiederkehr der Geopolitik darin, dass sie in der Öffentlichkeit gerade nicht diskutiert wird, sondern zunächst auf eher klandestin tätige Think Tanks beschränkt bleibt. Das ist kein Zufall: Denn sobald geopolitische Analysen sich dem kritischen Blick der Öffentlichkeit aussetzen müssten, würde die Hybris dieser Disziplin nur allzu deutlich sichtbar. Jede öffentliche Debatte über Geopolitik würde früher oder später die oft fiktiven Prämissen dieser Disziplin enthüllen und ihrem politischen Einfluss enge Grenzen setzen. Doch weder gab es in früheren Jahren eine solche Debatte, noch gibt es sie heute.

So aber kann die Logik der Geopolitik in ein falsches Sicherheitsgefühl umschlagen. Auf diese Weise werden immer wieder in irgendeinem Think Tank Grand Strategies erdacht, deren Umsetzung dann in der Realität spektakulär scheitert. Es gibt zahlreiche Fälle, die diese inhärente Schwäche der Geopolitik belegen. Ein besonders prominentes Beispiel stellt der Vietnamkrieg dar. Diesem Krieg lag die sogenannte Dominotheorie zugrunde, nach der ein sozialistisches Vietnam alle übrigen Staaten Südasiens wie Dominosteine zum Umfallen, sprich: zum Übertritt ins sozialistische Lager bewegen würde. Die Geschichte endete bekanntlich damit, dass Vietnam am Ende zwar sozialistisch wurde, jedoch ohne dass der von den Geostrategen prognostizierte Effekt eintrat – eine Fehlkalkulation, die 50 000 GIs und rund 3,5 Millionen Vietnamesen mit ihrem Leben bezahlen mussten.

Nicht weniger fragwürdig als die Lehre vom Dominoeffekt ist die auf den Briten Sir Halford Mackinder (1861-1947) zurückgehende Lehre vom Heartland (Herzland), der Klassiker unter den geopolitischen Denkfiguren. Fragt man einen Geostrategen, warum die Großmächte in den letzten dreißig Jahren immer wieder in Afghanistan Krieg geführt haben – erst die UdSSR und seit 2001 die Nato – so wird er einem wahrscheinlich antworten, dass Afghanistan im „Herzland“ läge. Damit ist die Zentralregion Eurasiens gemeint. Sie soll deshalb so wichtig sein, weil die Macht, die diese geographische Region beherrscht, sich damit genau zwischen den eurasischen Großmächten China, Indien, Russland und Europa platzieren und diese somit eindämmen könnte. Dies wiederum würde es einer solchen Macht ermöglichen, ihren Einfluss auf ganz Eurasien – den mit Abstand größten und wichtigsten Kontinent – auszudehnen und so zur wichtigsten Macht der Welt zu werden. Hinzu komme noch, dass das „Herzland“ die am weitesten vom Meer entfernte Region der Erde ist. Für jede Landmacht, die die herrschende Seemacht USA herausfordern wollte, würde das Herzland somit eine Art natürliche geographische Festung darstellen, von der aus es beginnen könnte, seine Gegenmacht aufzubauen und so auch den Luftstreitkräften der Seemacht den Zutritt ins Innere des Kontinents zu verwehren.

So plausibel diese Theorie angesichts der geographischen Lage der Kontinente zunächst klingt, so wenig lässt sich ihre Richtigkeit historisch belegen. Denn in den zurückliegenden 2500 Jahren gab es immer wieder Phasen, in denen eine der umliegenden Mächte (China, Indien, die Mongolei, Persien und Russland) weitreichenden Einfluss im Herzland hatte – wie zuletzt die UdSSR, die bis 1991 einen großen Teil der Region ums Kaspische Meer kontrollierte –, doch nie führte dieser Einfluss, wie von den Geostrategen prognostiziert, zu einer Kontrolle des gesamten eurasischen Kontinents. Viel spricht daher dafür, dass die dem Herzland zugeschriebene Rolle als Machtmultiplikator lediglich ein Mythos ist, eine akademische Kopfgeburt, die einmal in die Welt gesetzt ein sonderbares Eigenleben führt, ohne wirklich jemals bewiesen worden zu sein. [6]

Die fatale Unausweichlichkeit der Geopolitik

Eine weitere fatale Besonderheit der Disziplin der Geopolitik besteht darin, dass, sobald ein Land oder Militärbündnis die geopolitische Logik zur Grundlage ihrer Außenpolitik macht, die umliegenden Länder in gewisser Weise gezwungen werden – und sei es nur aus Gründen der Selbstverteidigung –, sich die geopolitische Denkweise ebenfalls zu eigen zu machen. Denn wenn die Geopolitik als bestimmendes Paradigma in die Außenpolitik Einzug hält, so konstituiert sie zugleich auch Realität: Indem ein mächtiger Staat schwächere Staaten zur Berücksichtigung ihrer Logik zwingt, setzt die Geopolitik eine Dynamik in den Internationalen Beziehungen in Gang, die zu immer mehr Spannungen und kriegerischen Handlungen führt und am Ende wie die Bestätigung der geopolitischen Prämissen erscheint. Letztlich funktioniert die Theorie wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Die Geostrategen fühlen sich durch das Eintreten des Krieges bestätigt und kommen selbst gar nicht auf die Idee, dass ihre eigene Disziplin die Wirklichkeit erst erzeugt haben könnte, die sie wiederum als die Bestätigung ihrer Theorie lesen.

Ein Beispiel, das diesen Zusammenhang besonders anschaulich macht, ist das Ende des Kalten Krieges. In der Spätphase dieser Konfrontation gab es zumindest einen ernst gemeinten Versuch, aus dem Zwangscharakter der geopolitischen Logik auszubrechen. Das atemberaubende Wettrüsten der 80er Jahre hatte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Überlegungen in Gang gesetzt, wie sich die Kriegsgefahr wieder eindämmen ließe. Dabei waren verschiedene Sicherheitsexperten auf den Gedanken verfallen, dass es darauf ankäme, Sicherheit so umzudefinieren, dass diese nicht mehr gegen einen Konkurrenten, sondern mit diesem zusammen hergestellt würde.

Die Konzeption der „gemeinsamen Sicherheit“ setzte jedoch voraus, dass keine der beiden Seiten ernsthaft mit einem Angriff zu rechnen hätte. Diese Voraussetzung konnte nur erfüllt werden, wenn es gelänge, das Militär auf beiden Seiten so umzuorganisieren, dass es zwar stark in der Verteidigung, jedoch schwach in der Offensive wäre. Ein Abbau der offensiven Fähigkeiten der einen Seite hätte das Sicherheitsgefühl der anderen Seite erhöht und dieser so erlaubt, ebenfalls seine Offensivkraft zu reduzieren. Durch diese Form der vertrauensbildenden Verteidigung hätten sich am Ende zwei in der Defensive starke, jedoch in der Offensive schwache Armeen gegenüber gestanden. Ein realer Krieg wäre unter diesen Bedingungen kaum noch denkbar gewesen.

Innerhalb der westlichen Öffentlichkeit wurden diese Vorschläge von dem Friedensforscher Horst Afheldt, Oberstleutnant Norbert Hannig sowie von Studiengruppe „Alternative Sicherheitspolitik“, die der Politikwissenschaftler Lutz Unterseher gründete, vertreten.[7] Leider konnten sie sich im westlichen Bündnis nicht durchsetzen. Umso bemerkenswerter ist es, dass diese Ideen schließlich im Warschauer Pakt von Michael Gorbatschow aufgegriffen und seit 1989 umgesetzt wurden: Der auf eine Offensive mit konventionellen Streitkräften ausgelegte Militärapparat der Sowjetunion wurde bis zum Zerfall der UdSSR auf eine defensive Struktur umgerüstet.[8] Dabei ergriff Gorbatschow die Initiative, ohne einen langen Verhandlungsprozess mit den USA abzuwarten.

Gorbatschow und das Versagen des Westens

Gorbatschows Skepsis gegenüber der klassischen Geopolitik drückte sich noch in anderen Aspekten seiner Politik aus, wie beispielsweise dem Rückzug aus Osteuropa und die an wenige Bedingungen geknüpfte Vereinigung Deutschlands. Beide Handlungen machten aus geopolitischer Perspektive kaum Sinn. Denn deren Lehrsätze sehen so etwas wie eine „freiwillige Aufgabe von Macht“ gar nicht vor. Gorbatschow dagegen sah sie als vertrauensbildende Maßnahmen an und wollte auf der Grundlage des so hergestellten Vertrauens die außenpolitische Vision eines gemeinsamen Hauses Europas begründen. Es ging ihm letztlich darum, nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch die Spuren des Zweiten Weltkrieges endgültig zu überwinden. Seine Politik stellte somit den ersten Versuch in der jüngeren Geschichte dar, aus der Zwangslogik der Geopolitik auszubrechen. Gorbatschows Versuch, eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen, scheiterte schließlich, weil er im Westen keinen Partner hatte. Seine Friedensinitiative wurde nicht als Chance, sondern – ganz im Sinne der geopolitischen Logik – als Schwäche gedeutet. Damit war ein für das 20. Jahrhundert einmaliger und für das 21. Jahrhundert potentiell wegweisender Versuch fehlgeschlagen.

Obwohl nach dem Zerfall der Sowjetunion auch Boris Jelzin Gorbatschows Angebot an den Westen über fast eine Dekade hinweg aufrecht erhielt, machte sich die Nato alsbald daran, ihren Einflussbereich auszudehnen. Gegen Ende der 90er Jahre und besonders nach dem 11. September 2001 nahm diese Ausdehnung zusehends die Gestalt einer militärischen Einkreisung an. Russland wurde an seiner Südgrenze mit amerikanischen Militärbasen umstellt. Gleichzeitig schritten die Planungen für einen Raketenschild an der West-, Ost- und Nordgrenze des Riesenlandes immer weiter voran. Zusammen mit der zugleich aufkommenden Weltraumbewaffnung sollte das nukleare Patt des Kalten Krieges endgültig zugunsten der USA aufgelöst werden. Die Vereinigten Staaten versuchten ihre eigene Sicherheit durch offensive Rüstung zu maximieren und nahmen dabei den Sicherheitsverlust Russlands billigend in Kauf.

Die in den 80er Jahren diskutierte Idee einer „gemeinsamen Sicherheit“ war damit ganz und gar aus der geopolitischen Diskussion verschwunden. Russlands schnelle militärische Reaktion während der Georgienkrise 2008 war auch ein bewusstes Signal an den Westen, um diesen mit der Instabilität der von ihm selbst gestalteten neuen expansionistischen Weltordnung zu konfrontieren. Tatsächlich kam die Nato-Expansion vorerst zum Erliegen, während jedoch gleichzeitig die Entwicklung des Raketenschildes und der Weltraumbewaffnung vorangetrieben wurde. Leider erhielten im so entstandenen Klima auch in Russland geopolitisch interessierte Kreise, wie sie etwa durch den Philosophen Alexandre Dugin vertreten werden, wieder Auftrieb. 

Der bloß behauptete Realismus

Dieses historische Beispiel zeigt zum einen die Unausweichlichkeit der Geopolitik, sobald eine Seite sie verfolgt. Das Festhalten des Westens an der geopolitischen Logik ließ auch Russland zu dieser Denkweise zurückkehren – eine Kursänderung, die von westlichen Medien seither lauthals angeprangert wird. Zum anderen zeigt es aber auch, dass ein Argument, das von geopolitischen Strategen immer wieder gern geltend gemacht wird, angezweifelt werden kann – nämlich das ihres besonderen Realismus.

Geostrategen argumentieren oft, sowohl gegenüber Pazifisten als auch gegenüber Vertretern einer alternativen Sicherheitspolitik, dass die Abschaffung der geopolitischen Logik nicht möglich sei. Die Geopolitik, so ihr Argument, beschreibe Realitäten, mit denen sie sich nun einmal auseinandersetzen müssten. Dass aus diesen Realitäten oft Kriege hervorgehen, sei bedauernswert, aber leider nicht immer zu vermeiden. Sowohl der Pazifismus als auch der Verzicht auf eine offensive Militärstrategie seien dagegen eine Form von Utopie, die mit der Realität letztlich nichts zu tun habe.

Doch wie real sind die vermeintlichen Realitäten der Geopolitik wirklich? Gab es nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich eine unabänderliche Realität, die uns zwang, einen Raketenschild zu errichten? Die uns zwang, die Nato nach Osten auszudehnen und die dazu nötigte, Russland militärisch einzukreisen? Letztlich hat diese Politik in erster Linie dazu geführt, dass Russland sich vom Westen wieder distanzierte. Heute bildet das Land zusammen mit China und Iran eine zwar lockere, aber doch wirksame Allianz gegen den Westen. Die Politik des Westens war somit kontraproduktiv. Welche Seite war hier also in einer Fiktion gefangen, die Anhänger der Geopolitik oder ihre Kritiker?

Geopolitik wird klassischerweise an Militärakademien gelehrt und unterrichtet. Doch indem die dortigen Studenten etwa den Unterschied zwischen Land- und Seemacht studieren und erfahren, dass einzelnen Ländern bei der Kontrolle des geographischen Raums eine katalytische Funktion zukommt, werden sie blind für andere Faktoren, die die Geschichte gleichfalls beeinflussen – speziell für die Kultur und Historie eines Landes.

Hätten etwa jene US-amerikanischen Geostrategen, die 1953 einen Putsch gegen den iranischen Präsidenten Mohammad Mossadegh organisierten, über diese Faktoren nachgedacht, so wäre ihnen aufgefallen, dass der Iran neben China die vielleicht ältesten Traditionen von Staatlichkeit besitzt. Der Iran hat 2500 Jahre vollkommen selbstständig und außerhalb der westlichen Kultursphäre existiert. Er hat dabei seine eigene Antike, sein eigenes Mittelalter, seine eigenen Renaissancen hervorgebracht. Der Iran besaß eine vollkommen eigenständige Philosophie, Literatur- und Kunstgeschichte und verfügte über eine eigene politische Tradition.

All das berücksichtigten die Sicherheitsexperten jedoch nicht, als sie 1953 die „Operation Ajax“ planten. Sie behandelten Iran so wie später auch Honduras oder Guatemala. Wie Stephen Kinzer in seinem Buch „Im Dienste des Schah“[9] überzeugend dargelegt hat, ist der Putsch von 1953 die eigentliche Ursache des noch immer andauernden Konflikts zwischen dem Iran und den USA. Bis heute rächt es sich bitter, dass die damaligen Sicherheitsexperten zwar viel über die Bedeutung von Meeresengen und Landbrücken wussten, aber so gut wie nichts über die iranische Geschichte.

Indem Geostrategen die Geographie für eine feststehende Größe halten, unterschätzen sie die Interpretierbarkeit von Landkarten. Auf diese Weise sind sie blind für partikulare Interessen, die unbemerkt in die Deutung von Karten eingehen und sie verzerren. Oft dient die geopolitische Analyse als ein Schleier, hinter dem sich ganz andere Interessen verbergen, etwa das Bedürfnis nach nationaler Überlegenheit oder Identität, der Wunsch nach Abgrenzung oder Freund-Feind-Unterscheidungen bis hin zum Rassismus. Durch die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten der Geographie kann die Geopolitik von den verschiedensten Ideologien instrumentalisiert werden.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass in geopolitischen Analysen eines regelmäßig zu kurz kommt – nämlich das Nachdenken über die Grundlagen der menschlichen Zivilisation. Geopolitik beschreibt die inhärente Logik von Machtzusammenhängen. Eine Grundannahme der Geopolitik, ja vielleicht deren grundlegendste, ist, dass die Ausdehnung von Macht wünschenswert sei. Doch die Macht des einen ist die Ohnmacht des anderen. Das, was unter dem Gesichtspunkt der Zivilität etwas Positives wäre, nämlich eine möglichst machtfreie Beziehung zwischen Staaten und Kulturen, stellt sich in der Geopolitik als etwas Negatives dar. Sobald ein Geostratege die Wahl zwischen einer geopolitischen Ausgleichssituation und einer Machtexpansion hat, wird er sich gemäß den Prämissen seines Fachs für die Machtexpansion entscheiden. Ausgleich sieht die Geopolitik nur dort vor, wo eine zwischenzeitliche Pattsituation diesen erzwingt. Kippt die Machtbalance nach einiger Zeit zu der einen oder anderen Seite, folgt daraus aus geopolitischer Perspektive grundsätzlich der Impetus zur Machtexpansion. Die freiwillige Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen Staaten, auch wenn sich ein Machtgefälle herausgebildet hat, macht aus Perspektive der Geopolitik schlicht und ergreifend keinen Sinn.

Falsch verstandener „Realismus“ versus revolutionäre Werte

Welche weitreichenden Implikationen diese Logik beinhaltet, zeigt eine Aussage des berühmten Geostrategen George F. Kennan, der auch als einer der Architekten des Kalten Krieges gilt. In einem von ihm nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und in der Frühphase des Kalten Krieges 1948 verfassten Strategiepapier heißt es: „Wir müssen sehr vorsichtig sein, von unserer ‚Führungsrolle‘ in Asien zu sprechen. Wir betrügen uns und andere, wenn wir vorgeben, eine Lösung für jene Probleme zu besitzen, die die meisten dieser asiatischen Menschen bewegen. Wir besitzen etwa 50 Prozent des Reichtums dieser Welt, stellen aber nur 6,3 Prozent seiner Bevölkerung. Dieser Unterschied ist im Verhältnis zwischen uns und den Völkern Asiens besonders groß. In einer solchen Situation kommen wir nicht umhin, Neid und Missgunst auf uns zu lenken. Unsere eigentliche Aufgabe in der nächsten Zeit besteht darin, eine Form von Beziehungen zu finden, die es uns erlaubt, diese Wohlstandsunterschiede ohne ernsthafte Abstriche an unserer nationalen Sicherheit beizubehalten. Um das zu erreichen, werden wir auf alle Sentimentalitäten und Tagträumereien verzichten müssen; und wir werden unsere Aufmerksamkeit überall auf unsere ureigensten, nationalen Vorhaben konzentrieren müssen. Wir dürfen uns nicht vormachen, dass wir uns heute den Luxus von Altruismus und Weltbeglückung leisten könnten. […] Wir sollten aufhören von vagen – und für den Fernen Osten – unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandards und Demokratisierung zu reden. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem unser Handeln von nüchternem Machtdenken geleitet sein muss. Je weniger wir dann von idealistischen Parolen behindert werden, desto besser.“[10]

Kennan hat hier eine Grundprämisse der Geopolitik dargelegt. Seine Aussage macht deutlich, dass es sich um eine Disziplin handelt, die grundsätzlich nicht die Gattungsfrage stellt, also nicht danach fragt, worauf die Menschheit insgesamt hoffen darf. Die Einsichten dieser Disziplin zielen lediglich darauf, den Reichtum und die Macht des einen Landes zu Lasten des anderen zu sichern. Es handelt sich um eine Pseudo-Wissenschaft, die Methoden und Techniken bereitstellt, um schwächere Länder und Kulturen abhängig zu halten und sie eventuell sogar gezielt zu verarmen.

Die politischen Werte der europäischen Staaten sind dagegen aus Revolutionen hervorgegangen. Sie waren auf die Befreiung nicht nur einzelner Nationen, sondern auf die der Menschheit insgesamt gerichtet. Insofern die westliche Außenpolitik heute in weiten Teilen von der geopolitischen Denkweise bestimmt wird und ihren Prämissen unreflektiert folgt, dementiert sie ihre eigenen politischen Traditionen und gerät in einen schwer auszuhaltenden Widerspruch zu sich selbst.

Der Zwangs- und Gewaltcharakter der geopolitischen Denkweise

Damit der Zwangs- und Gewaltcharakter der geopolitischen Denkweise durchbrochen werden kann, bedürfte es deshalb eines weit kritischeren Bewusstseins für die Prämissen der westlichen Außenpolitik. Ansätze hierfür sind immerhin bereits erkennbar. Speziell im Internet ist in den letzten Jahren eine zunehmend kritische Gegenöffentlichkeit entstanden, die sich die geopolitische Denkweise angeeignet hat, deren Grundannahmen allerdings – im Unterschied zu den Regierungen – kritisch diskutiert. Dabei zeigt sich, dass die meisten geopolitischen Konzepte kaum mehrheitsfähig sind, sobald die Öffentlichkeit Kenntnis von ihnen gewonnen hat. So hat die Entstehung einer außenpolitischen Gegenöffentlichkeit die Halbwertszeit der medialen Angstkampagnen zur Akzeptanz von Kriegen bereits stark herabgesetzt.

Bisher findet dieser Prozess der Selbstaufklärung jedoch nur in einem kleinen Teil der westlichen Bevölkerung statt. Die meisten Menschen interessieren sich hauptsächlich für Zusammenhänge, die ihr direktes Lebensumfeld betreffen. Die machtpolitischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und in Zentralasien sind viel zu weit weg und zu abstrakt, um von der Mehrheit als Politikum aufgefasst zu werden.

Dennoch gibt es zur kritischen Aneignung außenpolitischer Fragestellungen durch die Gesellschaft keine Alternative. Sollte die westliche Außenpolitik weiterhin undemokratisch von in Think Tanks beschäftigten Geostrategen entworfen werden, werden sich die bisherigen Trends fortsetzen. Wahrscheinlich würde es dann zu weiteren Kriegen im Nahen Osten kommen, die, wie schon in der Vergangenheit, weitere Wellen antiwestlicher Ressentiments auslösen würden. Auch das Verhältnis zu Russland und China dürfte sich infolgedessen weiter verschlechtern, wie auch zu Lateinamerika, das seine Identität als Kulturraum stärker in Abgrenzung zum Westen definieren könnte. Am Ende dieser Entwicklung könnte eine Welt stehen, in der die westlichen Staaten massive Konflikte mit großen Teilen der südlichen und östlichen Hemisphäre unterhalten. Spätestens dann träte das Desaster der westlichen Außenpolitik offen zu Tage und könnte auch von Spin-Doktoren nicht länger geschönt werden.

Damit es nicht soweit kommt und der gegenwärtige Übergang von der unipolaren, westlich dominierten, zur multipolaren Welt nicht derart verheerend verläuft, muss unsere Gesellschaft endlich den fatalen Einfluss der Geopolitik auf die Außenpolitik thematisieren. Die Rolle sogenannter Sicherheitsexperten in den zuständigen Gremien muss genauso kritisch diskutiert werden wie die Widersprüche der Geopolitik. Sollte ein derartiger Prozess der Selbstaufklärung über die Grundlagen westlicher Außenpolitik tatsächlich in Gang kommen, würde Europa vielleicht an militärischer Macht verlieren. Doch auf anderer Ebene könnte es nur gewinnen, indem es an seine bedeutendste politische und geistesgeschichtliche Tradition anknüpfen würde, nämlich die der Aufklärung.

 

[1] Vgl. Jürgen Wagner, Die Geostrategie Europäischer Macht: ‚Grand Area‘ – Ein imperiales Raumkonzept als Rezept fürs Desaster, Informationsstelle Militarisierung, Tübingen 2011.

[2] Vgl. James Rogers and Luis Simón, Manifesto, www.grandstrategy.eu.

[3] Vgl. James Rogers and Luis Simón, The new ‚long telegram‘, www.grandstrategy.eu.

[4] Vgl. Rudolf Kjellén, Der Staat als Lebensform, Leipzig 1914.

[5] Vgl. Homer Lea, The Day of the Saxon, New York und London 1912.

[6] Ähnliche Beispiele kennen wir aus den Wirtschaftswissenschaften, die oft über Jahrzehnte hinweg Theorien vertreten haben, die dann von der Wirklichkeit widerlegt wurden – wie in der aktuellen Finanzmarktkrise.

[7] Vgl. Horst Afheldt, Defensive Verteidigung, Reinbek 1983; Norbert Hannig, Abschreckung durch konventionelle Waffen, Berlin 1984; Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik, Strukturwandel der Verteidigung: Entwürfe einer konsequenten Defensive, Opladen 1984.

[8] Lutz Unterseher, Frieden schaffen mit anderen Waffen, Wiesbaden 2011, S. 134-143.

[9] Stephen Kinzer, Im Dienste des Schah: CIA, MI6 und die Wurzeln des Terrors im Nahen Osten, Weinheim 2008.

[10] Auszug aus der Policy Planning Study, Kapitel VII. Far East, S. 524, zit. nach Jürgen Wagner, Die Geostrategie europäischer Macht, a.a.O.

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