Waffe einer Überzeugung: Die Frage nach dem Standpunkt der Kamera ist eine politische
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Einen politischen Film machen, beziehungsweise einen Film politisch machen, hängt vermutlich mit drei Elementen zusammen: Erstens mit dem Inhalt (der „Aussage“), also mit dem, was es zu sehen und zu hören gibt, und was es soll. Zweitens mit den Produktionsbedingungen, also mit dem, wodurch man sehen und hören (machen) kann, mit einem bestimmten Weg zwischen der ökonomischen und der technischen Produktion, oder mit einem Gegenentwurf demokratischer Kollektive. Und drittens mit der Organisation des Materials, mit dem, was man Form oder Ästhetik nennt, und was bei Bildern mit dem „Standpunkt“ der Aufnahme beginnt.
Die Frage, wo der Maler oder wo die Kamera steht in einer Architektur, einer Landschaft, einem Geschehen, lässt sich immer auch
mmer auch übersetzen in die Frage, wo die (Bild-) Autorin politisch steht. Eine Einstellung des Aufnahmegeräts gibt eine politische Einstellung wieder, und eine Bewegung der Kamera enthält eine individuelle oder kollektive politische Bewegung.Aber Vorsicht! Wendet man eine solche Beziehung dogmatisch an, so könnte im besten Fall eine furchtbare Form der ästhetischen Besserwisserei herauskommen, im schlimmsten Fall eine kinematografische Form des ideologischen Terrors. Es geht also vor allem um eine offene Suche, und für die Kamera vielleicht weniger darum, einen Standpunkt zu „haben“, als darum, einen zu finden, um daraus zu einer Bewegung zu kommen, ins Offene, ins Freie. Nur eines ist gewiss, wie Jean-Marie Straub es in dem Gespräch sagt, das in dem von Tobias Hering herausgegebenen Band Der Standpunkt der Aufnahme abgedruckt ist: „Ein großer Teil der Arbeit, bevor und während man filmt, besteht darin, die Klischees zu vermeiden und in die Luft zu sprengen. Es gibt ein Wort, das vergriffen ist, das zum Klischee geworden ist: Es hat mit Dialektik zu tun. Donnerwetter! Man darf nie etwas sagen oder zeigen, wo nicht die Möglichkeit des Gegenteils als Widerstand darin zu spüren ist.“ Möglicherweise wäre es also ein anregendes und produktives Spiel, in Bildgestaltungen, Einstellungen und Kamerabewegungen jeweils nach dem Gegenteil und dem Widerstand zu suchen.Wahl der MittelUmgekehrt hängt die Option, einen Film politisch zu sehen, damit zusammen, die drei Elemente wahrzunehmen. Eine nicht-politische (aber ideologische) Filmkritik beherrscht die zweifelhafte Kunst, einzelne Elemente auszublenden oder zu verschleiern – etwa in dem, was man eine „persönliche Geschichte“ oder „Autonomie der Kunst“ nennt. Das Politische in allem Filmen muss immer gegen eine Politik der Entpolitisierung erobert werden. Gelegentlich nutzt dabei ein Umweg über Geschichte und Theorie – und ein Buch wie Der Standpunkt der Aufnahme, das nicht verhehlt, aus einer Werkstattsituation, zu einer Filmreihe entstanden zu sein. Am besten liest man das Buch daher in Verbindung mit dem Sehen von Filmen, einem gemeinsamen, politischen Sehen.Eins der drei Elemente bestimmt das andere: Das Kollektive oder Individuelle bestimmt die Wahl des Stoffes; die bestimmt die Wahl der Mittel. Eines davon ist die Wahl des „Standpunktes“ für die Kamera, der point of view. Es gibt eine interessante Geschichte der Bewertung dieses Elements – auf Phasen der Überbewertung scheinen solche der Skepsis und sogar Ignoranz zu folgen. Found Footage-Simulationen, nur zum Beispiel, versuchen ja gerade den Eindruck zu vermitteln, es habe vor lauter Aufregung gar keine Möglichkeit gegeben, über einen richtigen Standpunkt der Kamera nachzudenken.Das Schöne an einem Buch wie Der Standpunkt der Aufnahme ist, dass es weniger Teil der Bewertungszyklen ist, als es diese schon selbst reflektiert. Es schafft in seiner Sammlung von Texten sehr unterschiedlicher Sorten – vom Essay über das Gespräch bis zur Analyse – ein Diskursfeld ohne Bevormundung. Darunter sind auch Beiträge wie Bankleer: Les Maîtres 2000, die selber in Montage und Collage suchen, wovon sie sprechen: eine Haltung zum Material. Bei anderen wie Disturbed Earth von Sarah Vanagt und Tobias Hering führen Bilder und Texte gleichberechtigt Dialog.Direct Cinema und Cinéma vérité lassen sich durch den Point of View unterscheidenEine ein für allemal richtige Einstellung gibt es sowieso nicht. Joanne Richardson erklärt den Unterschied zwischen dem amerikanischen Direct Cinema und dem französischen Cinéma vérité anhand der Standpunktwahl: Ist man hier darauf gerichtet, „Transparenz“ zu erzeugen durch die möglichst offene Stellung der Kamera, so geht es dort gerade darum, den subjektiven Standort der Autoren zu reflektieren. Es entsteht nicht nur eine Linie zwischen „Betrachten“ und „Teilhaben“, sondern auch eine zwischen Nehmen und Geben. Mit allen neuen Technologien des Films, von der Entwicklung der Schmalfilmkameras über die Videotechnik bis zur Handy-Fotografie waren immer Hoffnungen auf Demokratisierung (auf eine „Re-Politisierung“) verbunden.Ein Beispiel sind die Filme des Videoladens Zürich in den Jahren 1979/80 und die Verständigungstexte dazu, in denen es darum geht, die Perspektive der Demonstranten gegen die der Polizei zu setzen. Man sieht die Polizei mit den Augen der Demonstranten, nicht die Demonstranten mit den Augen der Polizisten, was eine ziemlich eindeutige Haltung ist. Von dieser Idee aus würde es sich zum Beispiel lohnen, darauf zu achten, aus welcher Perspektive audiovisuelle Medien oder populäre Serien derzeit Demonstrationen zeigen.Zurück nach vornEin Buch, wie gesagt, das zum Weiterdenken anregt. Seine Lektüre allerdings, das ist der Haken an der Sache, fordert von Leserin und Leser drei Voraussetzungen: einigermaßen flüssige Englischkenntnisse, etwas Zeit und Geduld, und schließlich schaden Grundlagen in Bild- und Medientheorie nicht. Das Buch ist also weder etwas für zwischendurch noch als praktischer Begleiter in der Vielzweckjacke zu gebrauchen. Man muss es entweder studieren – es handelt sich schließlich um Ergebnis und Begleitung einer längeren cineastischen Suchbewegung – oder es benutzen, um sich aus den Ideen und dem Wissen entsprechende Teile herauszuholen.Der Standpunkt der Aufnahme ist jedenfalls ein schönes Beispiel für eine Verzahnung von Theorie und Praxis beim Filmemachen, und ein Blick zurück und zugleich nach vorn. Dafür stehen auch Texte wie der von Serge Daney aus den siebziger Jahren, La remise en scène, der bereits eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, und zuerst in den Cahiers du Cinéma veröffentlicht wurde. Er endet mit der bemerkenswerten Frage, wie man Anführungszeichen filmt.
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