Ein junger, wacher, eigensinniger Franzose aus der Pariser Großbourgeoisie, der sich mit Künstlernamen Jacques Decour nennt und Heine, Nietzsche und Goethe liebt, kommt als französischer Austauschlehrer 1930 nach Deutschland. Fünf Monate wird er dort verbringen. Schon im Zug fängt er an, Tagebuch zu schreiben: „Diese Notizen, die ich ohne Rücksicht auf mögliche Folgen bearbeitet habe, sollen keine Reportage ergeben. Sie streben nicht Objektivität, sondern Unparteilichkeit an“, schreibt er.
Sein Ziel ist Philisterburg, „eine Stadt von 300.000 Einwohnern (...) im Nordosten Preußens, an der Grenze zu Schlesien. Gotische Kathedrale, Zuckerrüben, Luther-Denkmal, Messgeräte, Kirchenfüchse. Bekannt für: Baumwolle, G
umwolle, Gummiknüppel, Schokolade, Stahlhelme u. a. Alte Zitadelle, nach dem Versailler Vertrag geschleift; an der Stelle befindet sich nun eine öffentliche Grünanlage. Große Söhne der Stadt Philisterburg: keine“.Keine Stadt der Dichter und DenkerHinter Philisterburg kann man unschwer Magdeburg erkennen, auch wenn das mit der Grenze zu Schlesien etwas unscharf ist. Decour beruft sich auf die Schopenhauersche Definition vom Philister als Menschen ohne geistige Bedürfnisse, aber auch auf die biblischen Feinde des Volkes Israel. Der Antisemitismus ist Anfang der dreißiger Jahre in der Stadt nicht zu übersehen. Der Dichter Karl Leberecht Immermann hatte ihr Wesen 100 Jahre zuvor auf den Punkt gebracht: „Wenn man die Dichtung glücklich ausrotten wolle, müsse man die Dichter nach Magdeburg schicken. Wir haben hier nur Kanonen, Beamte und Krämer und die Phantasie fehlt in der Seelenliste gänzlich.“Jacques Decour bewegt sich durch die Stadt wie ein Ethnologe, der einen fremden Stamm beobachtet, mit dem Unterschied, dass er dessen Literatur kennt und liebt. Er beschreibt Typen, aber er macht sich nicht lustig über sie und ihre Vorlieben.An einem Sonntag im März 2014 in Magdeburg: Ich bin auf den Spuren von Decour. Es riecht nach Frühling. Vor dem Dom steht ein Reisebus aus Gelsenkirchen, der Platz ist leer, auch der Souvenirshop. Man kann Magdeburger Schoko-Halbkugeln, Magdeburg-Bekenntnis-T-Shirts oder Heckscheibenaufkleber mit der Silhouette der Stadt kaufen. „Die Spielzeuge und die Fleischerwaren sind unbestreitbar Meisterwerke in puncto Einfallsreichtum, Vielfalt und Geschmack. Das Kunstgewerbe besitzt keine einzige dieser Qualitäten“, schrieb er 1930.Den Dom hat Decour in seinem Buch nicht erwähnt, obwohl er kaum hundert Meter von ihm entfernt wohnte. Dafür aber den Breiten Weg, der damals als die schönste Barockstraße Deutschlands galt. „Die Häuser haben einen Anstrich in Grün, Braun oder Rosé, die allermeisten in Weinrot. Keine Fensterläden an den Fenstern, aber Kakteen und staubige Geranien. Anders als erwartet, fand ich kein einziges Haus aus dem Mittelalter. Es hat sie mal gegeben, aber sie sind abgebrannt, wie es scheint.“ Die beschriebenen Häuser fielen wiederum dem Bombenangriff vom 16. Januar 1945 zum Opfer. Und jetzt werden die Plattenbauten, die 50 Jahre an derselben Stelle den Breiten Weg säumten, abgerissen. Gleich um die Ecke ist das Domgymnasium, in dem Decour am 18. Oktober 1930 seine Arbeit aufnahm. „Es ist ein um 1880 errichtetes Gebäude aus rotem Backstein, das aus einer aufstrebenden Epoche stammt, in der die Leute viel Geld und wenig Geschmack hatten.“Der Antisemitismus in der Stadt ist nicht zu übersehenDas Ensemble, das sein repräsentatives Hauptgebäude an der heutigen Hegelstraße unmittelbar gegenüber der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt hat, ist aus gelbem Backstein. Auf einer Infotafel wird bestätigt, was Decour beschreibt: 1928 war das Domgymnasium mit dem Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen vereinigt worden. Die Zeit zwischen 1930 und 1945 ist auf der Tafel ausgespart. Heute ist das Domgymnasium keine staatliche Schule mehr, sondern ein ökumenisches Gymnasium. Das Rauchen ist auf dem Gelände verboten. Die damaligen Schüler betrachtete Decour mit dem Blick des teilnehmenden Beobachters. „Sie arbeiten eifrig, um Nutzen aus diesem Vorzug ziehen zu können, und werden sicher einmal gewissenhafte Ärzte, mittelmäßige Juristen und vorbildliche Beamte. Für Literatur interessieren sie sich nicht. Wozu ist sie auch gut?“Decour verwirrt, dass sie sich ihrer Urteile so sicher sind. Zweifel liegen ihnen fern. Auch wenn er selbst die jungen Nazis nicht ganz ohne Sympathie zeichnet, sieht er sehr deutlich, dass die Mischung aus humanistisch gebildeten, aber weltfremden und ängstlichen Pädagogen und pragmatischen jungen Gewaltmenschen explosiv ist. Und er sollte Recht behalten. Das macht die Lektüre aus heutiger Sicht so aufregend, das Buch zu einer echten Entdeckung.SPD-regiertZwar ist 1930 das Militär durch den Versailler Vertrag von den Straßen verschwunden, aber es steckt noch in den Körpern und Köpfen. Die Arbeitskolonnen marschieren im Gleichschritt durch die Straßen. Die Bevölkerung wünscht Ordnung, keine Demokratie. Als Decour nach Magdeburg kommt, ist die Stadt seit elf Jahren von der SPD regiert. Im Mai 1931 wird Ernst Reuter Oberbürgermeister. Decours Einschätzung der von den Franzosen als Hoffnung angesehenen deutschen Sozialdemokratie ist eher pessimistisch. „Es genügt, nach Preußen, nach Philisterburg zu kommen, um den Sozialdemokraten gleich sehr viel weniger zuzutrauen. Ihre wahre Größe liegt in der Vergangenheit.“Die Bismarckstraße, gleich neben der Schule, in der Decour bei Frau Brunner unterkam, die erst mal einen Kredit aufnahm, nachdem sie dem Franzosen eine viel zu hohe Miete abgeknöpft hatte, ist heute nach Leibniz benannt. Die Bombardierungen während des Krieges und die Vernachlässigung in der Nachkriegszeit haben große Lücken in die Häuserreihen gerissen. Der Rest ist frisch saniert. Vor einem Telefon-und Internetladen unterhält sich ein Pulk junger Männer auf Arabisch, kritisch beäugt von einem Mann im Grobrippunterhemd, der seinen Kopf aus dem Fenster einer der oberen Etagen steckt.In einer anderen WeltStünde es nicht im Vorwort, glaubte man nicht, dass das Buch ein Zwanzigjähriger geschrieben hat. Auch wenn es von der Form her etwas unausgewogen ist. Es beginnt wie ein Tagebuch, gewinnt aber zunehmend essayistische Züge. Decour hat die Gabe, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und sie gleichzeitig in Frage zu stellen. Das macht die Lektüre in keinem Moment langweilig. Eine echte Entdeckung und ein Glücksfall für Magdeburg, das mit schöngeistiger Literatur über die Stadt, vor allem aus der Zwischenkriegszeit, nicht reich gesegnet ist.In Decours Buch kommen die Industriearbeiter kaum vor. Sie, die damals die Mehrheit in Magdeburg bildeten, lebten in einer anderen Welt, in Vierteln jenseits der Innenstadt. Eine Welt, zu der er keinen Zugang hatte. Er bewegt sich unter denen, die sehr wohl wussten, dass sie einer anderen Klasse angehörten, auch wenn sie nur Kleinbürger waren. Leute wie seine zweite Wirtin, Witwe Grimm. „Wie ich schon angenommen habe, liest Frau Grimm die Bücher ihrer Bibliothek gar nicht. Sie stehen nur wegen ihrer Titel da.“„Philisterburg zeigt die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“, so beschreibt es der Übersetzer Stefan Ripplinger in seinem vorzüglichen Vorwort. Es ist verblüffend, wie vorausschauend, fast prophetisch und auch erschreckend heutig das Tagebuch an manchen Stellen ist: „Wenn es zu einem neuen Krieg kommt, wird zweifellos Frankreichs Bestandserhaltungspolitik für ihn verantwortlich gemacht werden (aber die Zerstörung wird so groß sein, dass es darauf eh nicht mehr ankommt).“ Von Philisterburg sollte nicht viel übrig bleiben.Stefan Ripplinger erzählt in seinem Vorwort, wie es mit Decour weiterging, nachdem er im Frühjahr 1931 nach Paris zurückgekehrt war. 1932 veröffentlicht er das Buch, das in Frankreich einen Skandal auslöst. Die Sorbonne will ihm sein Abschlusszeugnis nicht ausstellen. Decour tritt 1936 den französischen Kommunisten bei. Während der deutschen Besatzung bereitet er mit Freunden Les Lettres françaises vor, die wichtigen intellektuellen Blätter der französischen Résistance. Als deren Mitglied wird er von den Deutschen verhaftet, gefoltert und am 30. Mai 1942 hingerichtet. Seine Liebe zur deutschen Literatur bleibt ungebrochen. Noch in seinem Abschiedbrief zitiert er aus Goethes Egmont.
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