Zum Schluss sollte jeder seine Priorität nennen, sollte tatsächlich der EU-Kommissionsvorsitz zum Greifen nah sein. Der Sozialdemokrat Martin Schulz musste nicht lange überlegen – er wolle die Jugendarbeitslosigkeit drücken, nur das zähle für ihn. Vielleicht hätte Jean-Claude Juncker sich dem gleichen Ansinnen verschrieben, wäre er zuerst gefragt worden. So blieb ihm nur das floskelhafte Versprechen: Für Stabilität sorgen, um mehr Wachstum zu ermöglichen.
Mit dieser Phrase ohne Pointe war ihm nur ein mäßiger Schlusspunkt vergönnt. Was sich Juncker während der gesamten Debatte zugute halten konnte, intellektuell und weltläufiger zu wirken, schien nun verpufft, war doch die Sentenz zu kurz, um groß Wir
enz zu kurz, um groß Wirkung zu hinterlassen. Insgesamt fehlte diesen 90 Minuten Abfragerei im Berliner ZDF-Studio jede Aura von Wahlkampf, weil – sicher in Nuancen unterschieden – das arrivierte gegen das arrivierte Europa stand. Weder Alexis Tsipras, der Spitzenkandidat der Europäischen Linken, noch Rebecca Harms von den Grünen waren zugelassen, um dieser Hermetik frische Luft zu verschaffen. Juncker und Schulz gingen wie Großkoalitionäre miteinander um, die sich gegenseitig nichts Übles nachsagen und schon gar nicht antun wollen. Angesichts eines prognostizierten Stimmengewinns für die EU-skeptischen Parteien beim EU-weiten Votum Ende Mai müssen sie wohl auf Schadensbegrenzung bedacht sein. Und das schon jetzt, und das schon jetzt gemeinsam. Alles in allem präsentiert sich die EU zwei Wochen vor der Europawahl in einer wenig glücklichen Verfassung. Das erscheint nicht eben verheißungsvoll für einen Urnengang, der alles andere als ein Abgesang auf die Gemeinschaft sein, sondern ihr Auftrieb geben soll. Wenigstens wird politisch wie medial nun wahrgenommen, dass die heiße Phase des Wahlkampfes beginnt. Nach Jahren der Eurokrise und inneren Erosion braucht die Staaten-Assoziation mehr denn je einen Vertrauensbeweis ihrer Bürger, sprich: der gut 400 Millionen Wahlberechtigten. Die sollen nicht zuletzt dadurch angesprochen und motiviert werden, dass es bei diesem Votum erstmals Spitzenkandidaten wie Schulz und Juncker für die großen Parteifamilien gibt. Freilich hat es damit – vor allem bei den Konservativen und Sozialdemokraten – eine tückische Bewandtnis. Man wird diese Bewerber um den Vorsitz der EU-Kommission nach dem Votum schwer wieder los. Camerons Veto?Jean-Claude Juncker und Martin Schulz sind keine politischen Leichtgewichte, sie lassen sich schwerlich auf Nebengleise abschieden oder mit symbolischen Missionen abfinden. Je nach dem, wie ihre Lager – die konservative Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) – am Ende abschneiden, müsste einer von beiden durch die 28 EU-Regierungschefs beim für den 26./27. Juni anberaumten Gipfel dem neuen Europaparlament für den Kommissionsvorsitz vorgeschlagen werden. Wird das tatsächlich so sein? Der britische Premier David Cameron kann sich keinen der beiden Bewerber vorstellen und hat bereits sein Veto angekündigt. Das dürfte um so unerschütterlicher ausfallen, je besser die EU-nihilistische United Kingdom Independence Party (Ukip) von Nigel Farage bei der EP-Wahl abschneidet. Demoskopen auf der Insel prophezeien, die UKIP werde Tories, Labour-Party und Liberale hinter sich lassen. Außerdem sind die Regierungen osteuropäischer EU-Mitglieder der Auffassung, es wäre an der Zeit für einen Kommissionspräsidenten ihres Subkontinents. Häufig fällt der Name des polnischen Premiers Donald Tusk. Dessen Sympathisanten werden sich bestärkt fühlen, sollten EVP und SPE jeweils weniger als 30 Prozent der Stimmen erreichen. Wegen der Konkurrenz des rechtsnationalistischen Parteien-Clusters unter dem französischen Front National und der niederländischen Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders wird das immer wahrscheinlicher. Letzte Umfragen geben EVP und SPE zwischen 26 und 28 Prozent, wie geschaffen für eine große Koalition – und welchen Kommissionspräsidenten? Weder Juncker noch Schulz, sondern den früheren WTO-Generaldirektor Pascal Lamy? Votum entwertetGibt es letzten Endes doch wieder Geheimabsprachen und Arrangements zwischen den EU-Regierungschef? Wird es auf ein Personaltableau hinauslaufen, das mehr umfasst als nur die Entscheidung über den künftigen Chef der EU- Kommission, weil man sich zugleich über die Nachfolger des Belgiers Herman Van Rompuy als Präsident des Europäischen Rates wie der EU-Außenbeauftragten, der Britin Catherine Ashton, einigt? Das Experiment mit den Spitzenkandidaten hätte in diesem Fall seinen Realitätstest nicht bestanden. Auch das Ergebnis der Europawahl selbst wäre entwertet, wenn den 400 Millionen Wahlberechtigten erstmals Spitzenbewerber präsentiert wurden, die dann aber doch nicht an der Spitze entscheidender EU-Instanzen stehen.