Ausgabe Januar 2012

Europa unter deutscher Fuchtel

Mit den Beschlüssen des EU-Gipfels vom 8. und 9. Dezember hat Europa seine Bemühungen um die „Rettung“ seiner Kreditwürdigkeit fundamental erweitert – was die britische Regierung prompt zum Ausstieg veranlasste. Beschlossen wurden nicht mehr neue Rettungsschirme, Kredite und Auflagen für angeschlagene Euroländer. Im Kern ging es um ein neues Design der europäischen Finanzpolitik – also um die Regeln, nach denen EU-Staaten künftig Geld ausgeben dürfen.

Durchgesetzt – und zwar auf der ganzen Linie – hat sich dabei Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Man kann sagen, es ist der Durchbruch zu einer Stabilitätsunion“, und das „ohne faule Kompromisse“, verkündete sie.

Wie eine derartige Politik „ohne faule Kompromisse“ zukünftig aussehen wird, lehrt ein kurzes Beispiel. Im Herbst 2011 überlegte die irische Regierung, wie sie die Staatseinnahmen künftig steigern kann, um ihre Schulden zu senken. Geplant war, die Mehrwertsteuer zu erhöhen und Staatsbetriebe zu verkaufen. Bevor die Regierung jedoch den Gesetzesentwurf dem irischen Parlament vorlegte, zeigte sie ihn einer anderen Institution: dem deutschen Bundestag. Er sollte die Pläne abnicken – schließlich vergibt Deutschland Hilfskredite an Irland. Dieser laut irischer Opposition „beispiellose Vertrauensbruch“ produzierte in Dublin einen kleinen Skandal. Gleichzeitig jedoch zeigt die Episode, wie sich die Bundesregierung das künftige Europa wünscht.

Mit den jüngsten Beschlüssen von Brüssel wurde dafür eine offizielle Grundlage geschaffen: Die beteiligten Länder verpflichten sich zu zwei zentralen Punkten – nämlich Schuldenbremsen in die nationalen Verfassungen aufzunehmen und sich strikteren Defizitkontrollen zu unterwerfen. Gemeinsame europäische Anleihen (Eurobonds) oder massive Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) soll es hingegen nicht geben. Fest steht damit auch: Die aktuelle Krise werden diese Beschlüsse nicht beenden. Aber die Bundesregierung ist einen Schritt vorangekommen auf dem Weg zu ihrem Ziel: der Kontrolle Europas.

Keine Schulden, keine Defizite

In die nationalen Verfassungen wird nach deutschem Vorbild das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts aufgenommen. Das sogenannte „strukturelle“ – also um Konjunkturschwankungen bereinigte – Haushaltsdefizit soll zukünftig nicht über 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Angestrebt wird mithilfe dieser Schuldenbremse sogar ein Haushaltsüberschuss, sprich: Der Staat soll sich gar nicht mehr verschulden. Im Falle von Verstößen gegen diese Vorgabe soll ein „automatischer Korrekturmechanismus“ greifen, bei dem der „Schuldensünder“ der EU-Kommission seine Pläne zur Besserung vorlegen muss.

Ein zentrales Problem dieser Regelung liegt schon im Zielwert: Wie hoch ist das „strukturelle“ Defizit überhaupt? Welcher Teil eines Defizits ist der Konjunktur geschuldet und welcher nicht? Das lässt sich nicht sauber kalkulieren. Denn kein Konjunkturzyklus ist wie der andere und lässt sich einfach so herausrechnen, um das strukturelle Defizit zu ermitteln. Daraus folgt: Künftig dürften EU-Staaten in langen Konjunkturflauten zu vermehrtem Sparen gezwungen werden, was die Flaute verlängert und so die Schuldenlast vergrößert statt mindert. Gleichzeitig wird ihnen verboten, wirtschaftlich sinnvolle Investitionen über Verschuldung zu finanzieren.

Schuldenbremsen funktionieren also nicht. Dennoch wurden sie von der Bundesregierung gefordert und durchgesetzt. Denn diese Bremsen demonstrieren den unbedingten Wille zu „stabilen“ Staatsfinanzen. Auf diese Weise sollen Euro-Staatsanleihen zu unhinterfragbar werthaltigen Finanzanlagen gemacht werden. Mit der Schuldenbremse erhält die Stabilität von Euro-Staatsschulden Verfassungsrang, also die Stabilität der Vermögen der Finanzanleger, die diese Anleihen halten, und zudem die Kreditwürdigkeit der Euro-Zone insgesamt, also das Vertrauen der Anleger.

Liegt das Haushaltsdefizit eines EU-Landes über drei Prozent der Wirtschaftsleistung, soll dies in Zukunft automatische Konsequenzen in Form von Defizitverfahren haben, zum Beispiel Strafzahlungen. Das bedeutet nichts anderes als eine Radikalisierung des bisherigen Euro-Stabilitätspakts – und seiner Mängel.

Auch hier liegt das Problem im Maßstab: Anders als ihre Ausgaben hat eine Regierung ihr Defizit nicht unter Kontrolle. Beispiel Griechenland: Obwohl das Land drastisch Ausgaben kürzte und Steuern erhöhte, sank das immense Defizit im Jahr 2011 nicht. Der Grund dafür: In Zeiten der Wirtschaftskrise müsste die Regierung eigentlich mit Mehrausgaben gegensteuern – so wie Deutschland das 2009 und 2010 auch gemacht hat – und erst im Aufschwung wieder sparen. Dies wird Griechenland jedoch nicht erlaubt. Das Sparprogramm lässt Wirtschaftsleistung und die Steuereinnahmen einbrechen. Damit wächst das Haushaltsdefizit immer weiter. Künftig muss ein derartiger „Defizitsünder“ nun auch noch Strafen zahlen, was seine Finanzsituation sicher nicht verbessert. Eine solche Strafe verhindern kann nur eine „qualifizierte Mehrheit“ im EU-Rat – wenn etwa Deutschland und Frankreich gemeinsam agieren, also gerade jene Staaten, die auf die Strafbarkeit gedrängt haben.

Sparen, sparen, sparen

Dass die EU keinerlei Beschlüsse zur Stärkung des Wirtschaftswachstums getroffen hat, dürfte die Solvenz der europäischen Staaten nachhaltig untergraben. Faktisch soll einfach nur gespart werden und zwar für unbefristet lange Zeit. Künftig muss jedes Land jedes Jahr den Teil seiner Schulden, der über 60 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, um ein Zwanzigstel verringern. Für Italien heißt das, es muss seine Schuldenquote jedes Jahr um drei Prozent der Wirtschaftsleistung vermindern. Das produziert eine sinkende staatliche Nachfrage und damit eine Konjunkturflaute – denn schließlich sparen die privaten Haushalte ebenfalls, um ihre Schulden zu senken. Und die Unternehmen werden angesichts der einbrechenden privaten und staatlichen Nachfrage kaum einen Investitionsboom entfachen.

Wo soll das dringend erforderliche Wachstum also herkommen, um die sich bereits abzeichnende Rezession noch zu verhindern?

Die Politik setzt hier – auf deutschen Druck – ganz auf Maßnahmen zur Erhöhung der internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“. Diese Maßnahmen orientieren sich an der deutschen „Agenda 2010“ und beinhalten vor allem eins: die Senkung der Lohnstückkosten. Ziel ist eine Verbilligung der Produktion und dadurch eine Steigerung der Ausfuhren.

Das Beispiel Irland wird hier gern als Vorbild genannt. Doch diese „deutsche“ Strategie kann nicht für alle Länder aufgehen. Für Irland vielleicht, denn es hat eine Exportquote von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung, ist also vergleichsweise stark auf dem Weltmarkt vertreten. Was aber soll eine Lohnsenkung für Griechenland bringen, das über eine Exportquote von kaum 20 Prozent verfügt? Wo sollen auf einmal, nach Jahren der Deindustrialisierung, die vielen hochproduktiven Industrien in Südeuropa herkommen?

Der Staat jedenfalls darf sie nicht aufbauen, denn ihm sind durch Schuldenbremsen ja gerade Fesseln angelegt. Und selbst wenn die südeuropäischen Länder über derartige Exportindustrien verfügten – wer sollte ihre Waren kaufen, wer diese importieren? Exportüberschuss-Länder wie Deutschland werden es jedenfalls nicht sein: Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, dass sie die eigenen Ausfuhren weiter als Wachstumsstütze ansieht. Und der globale „Warenstaubsauger“ USA will sein Handelsdefizit selbst reduzieren.

Schließlich ist eine derartige, nun ganz Europa empfohlene Exportstrategie äußerst schwankungsanfällig. Selbst Hoffnungsträger Irland hat im Zuge der globalen Konjunkturabschwächung sein Defizitziel 2011 wohl verfehlt. Denn die irischen Ausfuhren wuchsen nicht wie bisher. Gleichzeitig liegt die inländische Nachfrage aufgrund einer massiven Senkung des Lohnniveaus am Boden: Die Binnennachfrage ist derzeit um 22 Prozent niedriger als Ende 2007. Und weiterer „Kostendruck mit dem Ziel der Steigerung der Exportnachfrage ist kaum möglich“, so die Commerzbank.

Dabei profitiert Irland bereits von seiner rekordverdächtig niedrigen Besteuerung von Unternehmen, die nun – laut der Logik der jüngsten Brüssler Beschlüsse – andere Länder übernehmen könnten. Was die Merkelsche Strategie der forcierten internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“ also gebiert, ist ein europaweiter Wettlauf um die Senkung der Steuern und des Lohnniveaus. Mehr aber auch nicht: In Südeuropa führt dieses Programm letztlich nur dazu, dass die Wirtschaft auf ein Maß zusammenschrumpft, das die Finanzmärkte noch für kreditwürdig halten.

Ein Pakt mit „Biss“

All diesen Bedenken zum Trotz hat die Bundesregierung nun ein neues System der fiskalpolitischen und wirtschaftlichen Kontrolle in Europa durchgesetzt. Das Machtgefüge hat sich erheblich verändert: Die Staatsfinanzen in Europa stehen künftig unter gemeinschaftlicher Kontrolle, Verstöße sind strafbewehrt. Der neue Pakt hat, wie es heißt, mehr „Biss“. Doch ist jetzt schon klar, wer hier gebissen wird.

Dies dürfte nicht Deutschland sein. Das haben bereits die Erfahrungen mit dem Stabilitätspakt gezeigt: Als die Bundesrepublik die Defizitziele verfehlte, wurde der Pakt so uminterpretiert, das er nicht mehr galt. Während der deutschen Finanzpolitik durch die neuen Haushaltsregeln also wohl keine unerwünschten Fesseln angelegt werden, erhält sie gleichzeitig „Durchgriffsrechte“ (Merkel) auf die Finanzen und – laut Plänen der EU – später auch auf die gesamte Wirtschaftspolitik anderer Staaten. Diese erleiden „sensible Souveränitätsverluste“ (Deutsche Bank) und werden in Zukunft sparen müssen.

Mit den „Durchgriffsrechten“ auf andere Staatshaushalte löst die Bundesregierung ein Problem, das sie schon immer mit der Euro-Konstruktion hatte: Alle Euroländer profitieren über die vergemeinschaftete Währung von der Kreditwürdigkeit des D-Mark-Landes. Gleichzeitig hat Deutschland die Kreditschöpfung anderer Länder jedoch nicht unter Kontrolle. 

Dieses Pfund – die deutsche Kreditwürdigkeit – hat die Bundesregierung in den Verhandlungen massiv eingesetzt. Während sie Eurobonds, eine Aufstockung des Euro-Rettungsschirms und Anleihekäufen der EZB entschieden ablehnte, drohte sie gleichzeitig damit, dass sie nicht weiter mit der eigenen Kreditwürdigkeit für die Zahlungsfähigkeit der Krisenstaaten einstehen werde. Es sei denn, die Euroländer gewähren Deutschland Zugriff auf ihre Staatsfinanzen. Diese Erpressung hat funktioniert. „Gut gemacht, Frau Merkel“, lobt daraufhin prompt die private Berenberg Bank.

So sieht sie also aus, die „Stabilitätsunion“ nach deutschem Bilde: Stabilität entsteht demnach als quasi automatisches Ergebnis von Haushaltsregeln. Diese Regeln sollen garantieren, dass Euro-Staatsschulden künftig das Vertrauen der Finanzmärkte genießen, dass sie also erstklassige Geldanlagen sind, die die Rendite der Finanzanleger sichern. So wirkt heute das „Primat der Politik“: als Vollzugsorgan der Bedürfnisse der Finanzanleger.

Die Fähigkeit, die eigenen Schulden zu bedienen, wird damit für Staaten wie Griechenland und Portugal zur obersten Staatsaufgabe. Sie müssen sparen und ihre Bevölkerung verarmen, im Dienste der Kreditwürdigkeit Europas. Denn die vorgeschriebenen Sparorgien belasten zwangsläufig die inländische Nachfrage. Als Ausgleich sollen Europas Staaten ganz auf den Export setzen, den sie wiederum mit „wachstumsförderlichen“ Reformen unterstützen müssen: der Aufweichung des Kündigungsschutzes, der Erhöhung des Rentenalters, der Senkung des Mindestlohns und der Schwächung der Tarifautonomie und der Gewerkschaften – alles im Dienste sinkender Lohnstückkosten. Der deutsche Industrieverband findet das gut: „Jetzt muss es darum gehen, über Wettbewerbsfähigkeit und private Investitionen wieder zu Wachstum zu gelangen“, so der BDI.

Auf diese Weise soll die Stabilität der Euro-Staatsschulden für das Finanzkapital garantiert und Schuldenstreichungen vermieden werden. Der Fall Griechenland dagegen soll eine Ausnahme bleiben, betont der Gipfelbeschluss. Man kann es auch so ausdrücken: Eine Entwertung des Finanzkapitals wird verhindert durch eine Entwertung der Arbeitskraft. Mit der versprochenen „Zähmung der Finanzmärkte“ hat all das jedenfalls nichts zu tun.

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