François Hollande formulierte kurz vor der Präsidentenwahl in einer Fernsehdebatte etwas Selbstverständliches, fast Banales. Es würden beim Präsidentenvotum am 22. April keine „Märkte“ gewählt, die über das Schicksal des Landes zu bestimmen hätten, sondern Politiker. Der Kandidat war im Recht und irrte sich trotzdem. Märkte – genauer Finanzmärkte – werden in der Tat nicht gewählt. Sie stehen über jeder Wahl und treffen ihre Entscheidungen unabhängig von jeder Wahl. Sie bescheinigen der Demokratie, wann diese zum Störfaktor und Risiko wird. Die Kursverluste an den Börsen fast aller Euro-Staaten keine 24 Stunden nach dem ersten Wahlgang in Frankreich sprechen Bände. Die Flucht aus fra
französischen Staatspapieren ebenso.Die Analysten kommentieren: Eine mögliche Abwahl von Präsident Nicolas Sarkozy verunsichere Finanzinvestoren und private Anleger. Dabei heißt es in Artikel 3 der französischen Verfassung: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Offenkundig nicht nur die Staatsgewalt, sondern auch eine Gefahr für die Finanzmärkte. Wenn das Volk in seiner Mehrheit einen Politiker wählt, der sich den Märkten nicht ohne Weiteres beugen will, scheint das Risiko besonders groß. Selbst wenn die 28,6 Prozent von Hollande gegen die 27,2 Prozent von Sarkozy vom Wochenende keinen Durchmarsch des Sozialisten im Stechen am 6. Mai verheißen.Nationaler UrschreiDenn noch ist nichts entschieden, noch muss kein Untergang des Abendlandes beschworen werden. Es reicht, genüsslich an die ersten beiden Regierungsjahre des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand nach dessen Wahlsieg 1981 zu erinnern. Damals hatte eine Linksunion aus Sozialisten, Kommunisten und linken Radikalen Mindestlöhne festgelegt, Renten erhöht, Familienbeihilfen beschlossen, Schlüsselindustrien und Banken verstaatlicht. Um dieses programme commun zu finanzieren, nahm der französische Staat Kredite auf, wurde von seinen Gläubigern prompt als vermindert kreditwürdig eingestuft und durch hohe Zinsen zur Kasse gebeten. Wer Hollande damit droht, müht sich freilich vergeblich. Ihm schwebt nichts vor, was auch nur entfernt an Mitterrand denken lässt. Abgesehen vielleicht von einer Reichen-Steuer um die 75 Prozent, die jedoch mehr als symbolischer denn tatsächlicher Akt der Umverteilung zu verstehen ist.Bisher hat der Wahlkämpfer Hollande vor allem einen Euro-Rettungsaktionismus angezweifelt, der das Volk für die Supermacht des privaten Finanzsektors in Haftung nimmt – und für eine staatliche Finanzpolitik, die sich dieser Supermacht ausliefert. Folglich will ein Präsident Hollande den EU-Fiskalpakt neu aushandeln oder durch einen Wachstumspakt ergänzen. Sollte das passieren, wäre die Achse Berlin-Paris auf Biegen und Brechen belastet – der Fiskal-Pakt vorübergehend scheintot, wenn nicht überhaupt tot. Um das zu verhindern, wird Angela Merkel jene Macht ausspielen, auf die sie in der EU jederzeit zurückgreifen kann. Allerdings dürfte sich rächen, dass sie dem sozialistischen Bewerber während seiner Wahlkampagne ein Treffen in Berlin verweigerte. Auch die zuletzt lancierte Wahlhilfe für Sarkozy durch die erwogene Suspendierung des Schengen-Abkommens schien wenig geeignet, ein Band der Sympathie um den Partner Hollande zu winden. Wird sich eine neue französische Regierung dafür revanchieren? Kann sie es?Wer auch immer künftig im Élysée residiert, hat kaum Spielraum für eine eigenständige Politik. Frankreich dürfte Ende 2012 mit 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet sein. Das 2011 verbuchte Rekorddefizit im Außenhandel von 70 Milliarden Euro droht weiter zu wachsen. Ein Präsident Hollande kann die deutsche Kanzlerin möglicherweise für Eurobonds gewinnen, die er „Projektbonds“ nennt, um Geld in die Infrastruktur zu lenken, dadurch Wachstum zu generieren und die Schuldentilgung zu erleichtern. Oder in Berlin wird der Ruf nach der Europäischen Zentralbank erhört, die noch einmal die Dicke Bertha schießen lässt und den Finanzmarkt mit dem nächsten Megakredit eindeckt.Ansonsten wird jedes Staatsoberhaupt der Grande Nation viel Realitätssinn brauchen. Auch wenn in der Verfassung hundertmal steht, „die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – für Frankreich geht sie bis auf Weiteres von Gläubigern, Rating-Agenturen, Hedgefonds und den Zwängen eines EU-Krisenmanagements aus, das den Staat zum Sparkommissar degradiert. Nicolas Sarkozy reagiert darauf zwischen den Wahlgängen mit dem nationalen Urschrei. Er hat das Europa der freien und offenen Märkte zum Feind erklärt und will Frankreichs Schicksal „wieder in die eigenen Hände nehmen“. Er weiß, wo er sich fehlende Stimmen abholen kann und wirbt heftig unter den Anhängern Marine le Pens vom Front National. Wird ihm Angela Merkel das übel nehmen, falls er am 6. Mai triumphiert?