Links und konservativ

Gegensätze Günter Gaus fehlt. Wenn man das auch nach zehn Jahren noch bedauernd sagt, muss es dafür schwerwiegende Gründe geben
Ausgabe 19/2014

Günter Gaus formulierte das Gesetz von den zwei Öffentlichkeiten, die in allen Gesellschaften existieren: Die von der politischen Führungsschicht veröffentlichte Meinung ist die eine, die „quasi amtliche Öffentlichkeit“. Die andere ist die höchst selten veröffentlichte Meinung der Menschen im Lande, auch der Dissidenten und Andersdenkenden. Eine dennoch wirkungsmächtige Neben-Öffentlichkeit. In der DDR sei diese Kluft am Ende so groß gewesen, dass es zwischen der Führungsschicht und der Bevölkerung überhaupt keine Kommunikation mehr gab. Der Ständige Vertreter befürchtete, dass in der Bundesrepublik dieselben Gefährdungen entstehen könnten und auch hier die Glaubwürdigkeit der Politik in dieser Kluft versinken könnte. Seine Mahnung fehlt.

Gaus beschrieb sich als Linkskonservativen, der sich kaum verändert habe, während die Gesellschaft mit unerwarteter Geschwindigkeit rechts an ihm vorbeigezogen sei. Weitgehend ausgegrenzt von den großen Leitmedien, zurückgeworfen auf den kleinen Freitag, den kleinenRBB und den kleinen Verlag edition ost, kämpfte der einstige Spiegel-Chefredakteur gegen die Kluft an. Dabei war er im besten Wortsinn eigen-sinnig, im Wissen um seine Kompetenz auch autoritär. Er achtete streng darauf, dass der Freitag sein linkes Profil verteidigt. Gesellschaftliche Fragen sollten Vorrang haben und nicht mit „Tagesantworten“ abgespeist werden. Er forderte redliche Intellektualität im geschichtlichen Kontext, ohne konfliktscheu zu sein, ohne zu langweilen. Er war empfindlich gegen alle Spielarten von Infotainment und alle Versuche, „modisch“ sein zu wollen. Seine Mahnung fehlt.

Unmodisch war seine legendäre Sendung Zur Person, in der er den Interviewten Raum gab, ihre Ansichten zu entfalten, aber nicht ins Allgemeine oder Beliebige zu entflüchten. Deshalb ging das Bonmot um, die Delinquenten säßen vor der Kamera auf einem „elektronischen Stuhl“. Als ich an die Reihe kam, war ich umso überraschter, Gaus wenige Minuten vor der Aufzeichnung in einer Weise aufgeregt zu finden, die meine eigene Anspannung verdrängte, weil ich vollauf damit beschäftigt war, ihn zu beruhigen. Was nur heißen konnte, selbst so locker, konzentriert und präzise wie irgend möglich zu sein. Falls das ein Trick von ihm war, so verfehlte er seine Wirkung nicht. Ich nahm es als Beweis dafür, dass bei Günter Gaus nichts Routine ist.

Das zeigte sich auch, als ich im Jahr 1998 bei (überfüllten) Veranstaltungen in Berlin und Dresden den Spieß umdrehen durfte und ihn zur Person befragte. Günter Gaus wollte sich nicht bereitfinden, die Anpassung im pluralistischen System generell als geringer anzusehen als in anderen. Nicht nur unter Intellektuellen sei es üblich, „bei der Mehrheit der Gruppe“ zu bleiben, also abgestützt zu opponieren. Dies sei geboten, wolle man journalistisch anerkannt sein und nicht ins Abseits geraten, wo es einem übel ergehen könne.

Gaus fand es „rückwärts gewandt“, die Nato bis an die Grenze Russlands auszuweiten. Bei der heutigen publizistischen Aufrüstung selbst der öffentlich-rechtlichen Sender fehlt seine Mahnung.

Die anhaltende Fremdheit zwischen Ost und West rührte seiner Meinung nach nicht aus der Teilung, sondern aus der Begegnung. Andere Einstellungen, etwa zum Eigentum, seien rücksichtslos ignoriert worden und erst dadurch unverträglich miteinander gewesen. Die spätestens 1989 stark politisierten Ostdeutschen seien auf eine Mentalität von Siegern gestoßen, bei der Entpolitisierung eine bürgerliche, gar eine staatsbürgerliche Tugend sei. So gelinge es fugenlos, die Bedürfnisse des Kapitals gleichzusetzen mit der Demokratie. Angesichts deren zunehmenden Verfalls beschrieb er sich mit zunehmendem Alter als „nichtpraktizierenden Anarchisten“.

Ich gestattete mir eine letzte Frage: Sie glauben nicht an den neuen Menschen, nicht an eine Utopie, nicht an einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, nicht an Gott. Woran glauben Sie?

Seine letzte Antwort: „An die Möglichkeit, solange die Kräfte reichen, anständig zu bleiben.“

Günter Gaus ist seinem Glauben bis zuletzt treu geblieben. Auch in dieser Hinsicht fehlt er.

Daniela Dahn lebt als Publizistin und Schriftstellerin in Berlin. Von 2005 bis 2011 war sie Herausgeberin des Freitag

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