Ausgabe März 2012

Geleugnete Schuld

Vom Stand und Stillstand der Missbrauchsdebatte

Genau vor zwei Jahren begannen Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder an renommierten Internaten die Gesellschaft aufzurütteln. Die Politik unternimmt nun erstmals den Versuch, die Situation der Betroffenen und Leidenden zu verbessern. Aber wie weit ist die Nation mit der Selbstaufklärung wirklich gekommen? Wer wissen möchte, ob und was die deutsche Gesellschaft aus den vielen Enthüllungen sexueller Gewalt gelernt hat, muss vielleicht mit einer Szene beginnen.

Vor wenigen Wochen, Ende Januar 2012, lud der Unabhängige Beauftragte zur Aufklärung sexuellen Kindesmissbrauchs Betroffene nach Berlin ein. Johannes-Wilhelm Rörig will sich regelmäßig mit den Opfern sexueller Gewalt treffen, weil er sie für die wichtigsten Expertinnen und Experten auf dem Gebiet hält und ihnen umfassend Gehör schenken will. Zu dem Treffen wurden für eine Stunde lang auch Journalisten eingeladen.

Als das gute Dutzend Reporterkollegen den Raum im Bundesfamilienministerium betritt, sehen sie die Betroffenen an der Wand sitzen. Es ist ein großes Konferenzzimmer, bestimmt zehn, zwölf Meter tief. Es mutet so an, als hätten sich die Menschen, denen vor 15 bis über 30 Jahren sexuelle Gewalt angetan wurde, hinter ihren Tischen verschanzt. Und die Reporter, sie wagen nicht, den Abstand zu überwinden. Sie nehmen Platz – an der gegenüberliegenden Seite des Raumes.

Wenn es ein Symbol gibt für die Distanz und die Beklommenheit zwischen den Opfern und der Gesellschaft, dann dieses: In einem Zimmer sitzen sich Betroffene und Berichterstatter gegenüber – mit Sicherheitsabstand. Obwohl viele der Journalisten seit zwei Jahren berichten, obwohl manche von ihnen Bekannte, ja Freunde unter den Gewaltopfern haben, obwohl sie mit ihnen oft tagelange Gespräche teilten, halten sie Distanz. Erst als Friederike Beck, die Sprecherin des Missbrauchsbeauftragten, die Kollegen nach vorne an die Stühle direkt vor den Betroffenen bittet, bricht das Eis.

Aber der Reihe nach. Um zu ermessen, wie sich die Haltung von Politik und Öffentlichkeit zum Verbrechen der sexualisierten Gewalt an Kindern geändert hat, sind drei Schritte erforderlich: Erstens, was ist geschehen? Zweitens, wie hat die Politik reagiert? Und drittens, als kleine Fallstudie: Wie ist die pädagogische Szene rund um die berühmte Odenwaldschule mit den Taten umgegangen? Dies ist deshalb so interessant, weil es sich bei den Reform pädagogen um den eigentlich am besten aufgeklärten Teil der Gesellschaft handeln müsste, dessen Credo es seit jeher war, kein Kind zu beschämen.

Missbrauch ist überall: Vom Canisius-Kolleg bis zur Parkeisenbahn

Auslöser des regelrechten Missbrauchs-Erdbebens, das die Öffentlichkeit seit Januar 2010 erschütterte, war das beharrliche Drängen einer Gruppe von Betroffenen des Berliner Canisius-Kollegs. Das Gymnasium am Rand des Tiergartens ist die vielleicht angesehenste Schule der Hauptstadt. Den Versuch, sexuelle und gewalttätige Übergriffe an der von Jesuiten geleiteten Einrichtung zu ahnden, hatten ehemalige Schüler bereits mehrfach unternommen. Aber sie waren nie bis zu einer größeren Öffentlichkeit durchgedrungen – bis zum 28. Januar 2010. Da geschah etwas nicht Vorhersehbares.

Das Unvorhergesehene hatte einen Namen: Klaus Mertes, Jesuit und Schulleiter des Berliner Kollegs. Anfang 2010 tat er etwas geradezu Ungeheuer liches für einen Katholiken: Er leugnete den sexuellen Missbrauch in seinem Vorzeigegymnasium nicht mehr. Mertes legte stattdessen eine dramatische Beichte ab: „Mit tiefer Erschütterung und Scham habe ich diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen“.[1] Mertes schrieb das zunächst allen ehemaligen Schülern des Kollegs – und bat sie, eigene Erfahrungen zu berichten. Später sagte er ähnlich unmissverständliche Sätze auf einer Pressekonferenz. Damit war ein Exempel statuiert: Man muss sexuelle Gewalt in einer Institution nicht tabuisieren, man kann sie auch radikal aufklären. Das bedeutet: öffentlich machen.

Mertes löste eine Kettenreaktion aus. Ermutigt durch die Veröffentlichung kamen beinahe täglich neue Fälle aus Einrichtungen der katholischen Kirche ans Licht. Das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald und das Aloisius-Kolleg in Bonn hatten Täter in ihren Reihen. Auch am Kloster Ettal geschah hinter hohen Kirchenmauern, was sich niemand vorstellen mochte. Schon nach wenigen Tagen hatten sich dort 115 Betroffene gemeldet.

Freilich waren alles dies Vorkommnisse in kirchennahen Einrichtungen. Wenn man so will, hielt sich die Empörung darüber in gewissen Grenzen. Offenbar nahm man an, dass sexuelle Gewalt in Klöstern, Kirchen und konfessionellen Schulen gewissermaßen zum schlechten Ton des Zölibats gehört. Kirche und Missbrauch, das schien irgendwie zusammenzupassen. Es gab zwar schon nach den katholischen Fällen ein öffentliches Beben – aber keines der obersten Stärke.

Das änderte sich am 6. März 2010. An diesem Tag wurde bekannt, dass auch eine weltliche Institution jahrzehntelangen Missbrauch zuließ: die Odenwaldschule, die deutsche Reformschule. Kein pädagogischer Kongress war bis dahin vergangen ohne Verweis auf die demokratischste deutsche Schule, 100 Jahre alt, gegründet von Paul Geheeb, einem der Helden der deutschen Reformpädagogik, besucht von den politischen und wirtschaftlichen Eliten der Republik. Von Klaus Mann über Tyll Necker bis Daniel Cohn-Bendit, die Liste der Altschüler liest sich wie das Who is Who der liberalen Republik. In der Odenwaldschule lernte das bessere Deutschland: demokratisch, welt offen, couragiert. Jedenfalls war man bis März 2010 davon ausgegangen.

Doch dann wurde öffentlich, dass es an der Odenwaldschule ein regelrechtes Missbrauchssystem gegeben hatte.[2] Mehrere pädokriminelle Lehrer suchten sich die Jungen aus und verteilten sie. Die beiden Haupttäter waren zwei durchaus berühmte Männer – der Musiklehrer Wolfgang Held, Adoptivsohn des Komponisten Wolfgang Fortner, und Gerold Becker, ein Schulleiter, der zu Talkshows eingeladen wurde und 1976 in der Paulskirche die Laudatio auf die Buchhandelspreisträgerin Astrid Lindgren halten durfte. Held und Becker lebten in einem der Häuschen der Odenwaldschule, sie standen dort sogenannten Internatsfamilien vor, in denen in ihrem Fall aber nur Jungs lebten. Die beiden Lehrer vergingen sich systematisch über 20 Jahre hinweg an Schülern im Alter von 11 bis 15 Jahren. Eine unabhängige Untersuchung hat allein an der Odenwaldschule 125 Betroffene gefunden, der Opferhilfeverein Glasbrechen geht von bis zu 400 aus.[3]

Sexuelle Gewalt: Kein Nischenproblem

Doch im Laufe der nun öffentlichen Debatte um sexuelle Gewalt an Kindern wurde schnell klar: Es handelt sich nicht um ein isoliertes Phänomen in Internatsschulen. Ein bundesweites Nottelefon, eingerichtet im April 2010, zählte innerhalb weniger Wochen tausende Anrufe. Zeitweise gingen bis zu 100 Hilfe- und Gesprächsgesuche pro Tag ein. Auf der Grundlage von 6000 Anrufern ließ sich, vom Missbrauchsexperten Jörg Fegert der Universität Ulm analysiert, ein Bild davon zeichnen, wen Missbrauch trifft.[4]

Die Mehrzahl der Hilfesuchenden an den Nottelefonen waren Frauen (65 Prozent). Das Durchschnittsalter der Anrufer lag bei 45 Jahren. Neun von zehn Opfern berichteten von mehrfachem Missbrauch, der sich über längere Zeiträume hinzog. Die Mehrzahl der Fälle sexueller Gewalt fand laut der Auswertung Fegerts in Familien statt (56 Prozent), dort wurden meistens Mädchen Opfer. In Institutionen jedoch (30 Prozent der ausgewerteten Fälle) waren ganz überwiegend Jungen betroffen. 60 Prozent des Missbrauchs in Institu tionen waren der Kirche zuzuschreiben, zwei Drittel dieser Fälle gingen wiederum aufs Konto der katholischen Kirche.

Die Anrufenden berichteten in neun von zehn Fällen von lange zurückliegenden Taten. 60 Prozent der Anruferinnen und Anrufer hatten vorher noch nie darüber gesprochen, was ihnen als Kind angetan worden war. Im Laufe der ausgewerteten Beratungszeit ging dieser Wert auf 40 Prozent zurück. Die Gesprächspartner der Betroffenen fragten vorsichtig nach, warum die Opfer nicht reden konnten. Dabei stellte sich das heraus, was Missbrauchsexperten und Beratungsstellen längst wissen: Die Betroffenen von sexueller Gewalt geraten in einen Schweigezirkel aus Scham und Schuld. Es fällt ihnen schwer zu sprechen, weil sie negative Reaktionen befürchten. Sie erleben, dass der Umgang mit Missbrauch tabuisiert ist. Und ihnen widerfährt kaum Hilfe durch andere.

Eine repräsentative Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer zeigte, dass sieben Prozent der weiblichen und 1,4 Prozent der männlichen Bevölkerung angaben, in ihrem Leben eine Missbrauchserfahrung gemacht zu haben. Ein Großteil der erfassten sexuellen Gewalt erfolgte im Alter von unter 14 Jahren.[5]

Über Wochen und Monate gelangten immer neue Enthüllungen an die Öffentlichkeit. Diese musste zur Kenntnis nehmen, so beschreibt es ein Opfervertreter, „dass Missbrauch ein allgegenwärtiges soziales Phänomen ist, eine Epidemie, die Institutionen unterwandert“.[6] Die bevorzugten Orte sind Einrichtungen mit Kindern: Kindergärten, Schulen, Heime, Krankenhäuser, Spielplätze, Internate sowieso. Mehr als ein Jahr nach dem Beginn der gesellschaftlichen Debatte, im Herbst 2011, wurde in Berlin das Täterkollektiv einer stadtbekannten Parkeisenbahn enttarnt, das in der Bahn jahrelang Kinder missbraucht hatte.[7]

Die Orte legen eine gezielte Auswahl durch Pädokriminelle nahe: Missbrauch geschieht überall da, wo sich Kinder aufhalten, häufiger da, wo sie auch übernachten oder wo es unbeobachtete Nischen gibt. Missbrauch wird begünstigt, wenn Erwachsene das Bedürfnis nach Anerkennung von Kindern ausnutzen können; sobald ihnen asymmetrische Machtverhältnisse, und sei es nur für Augenblicke, die Oberhand über Schutzbefohlene geben, steigt die Gefahr. Dass die Übergriffe mit Sex und Macht zu tun haben, drückt das Begriffspaar sexualisierte Gewalt am besten aus. Entlang der Tatorte konnte, wer sich dem stellte, gewissermaßen einen Crashkurs in Täterstrategien von Pädokriminellen machen.

„Wahrheit und Klarheit über alles, was passiert ist“

Die Politik nahm sich des Themas vergleichsweise schnell an. Bereits im März 2010 setzte der Bundestag den „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ ein. Der Tisch sollte sexuelle Gewalt „in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ aufklären. Zusätzlich wurde die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann zur „Unabhängigen Beauftragten für die Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ berufen. Bundeskanzlerin Angela Merkel entsandte die drei Ministerinnen Kristina Schröder, Annette Schavan und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an den Runden Tisch. „Es gibt nur eine Möglichkeit, dass unsere Gesellschaft mit diesen Fällen klarkommt“, sagte Merkel im Bundestag, „und das heißt: Wahrheit und Klarheit über alles, was passiert ist.“[8]

Der Runde Tisch hat unter Einbeziehung von Betroffenen, Vereinen und den belasteten Institutionen inzwischen weitreichende Empfehlungen ausgesprochen. Ein Teil dieser Vorschläge ist bereits in Gesetzesvorlagen gemündet bzw. wird für die Gesetzgebung vorbereitet. Die Bundesregierung ist bereit, viel Geld in die Hand zu nehmen. So wird sie beispielsweise eine große Informations- und Aufklärungskampagne starten, die vier Mio. Euro kosten soll. Geplant ist außerdem, die Erforschung des komplexen und für viele Menschen so schmerzhaften Phänomens sexueller Gewalt gegen Kinder mit 30 Mio. Euro zu fördern.

Herzstück der Aufklärungsarbeit soll ein Hilfsfonds in Höhe von 100 Mio. Euro werden, der hälftig von Bund und Ländern gefüllt werden soll. Eine sogenannte Clearingstelle könnte daraus schnell und unkompliziert Hilfen an Betroffene auszahlen. Die Opfer von sexualisierter Gewalt sollen so Therapie und Entschädigung erhalten. Bislang allerdings gibt es diesen Fonds noch nicht – und ob die Länder ihren Anteil einzahlen (können) ist noch nicht ausgemacht.

Die Justizministerin bereitet derweil die Verlängerung der Verjährungsfristen sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht vor. Das ist eine entscheidende Weichenstellung für jede Form von Aufklärung. Denn die psychologische und die juristische Logik widersprechen sich in Fällen sexualisierter Gewalt. Die Opfer brauchen lange, oft Jahrzehnte, ehe sie ihr Schweigen brechen können. So lange hält das auferlegte Gelübde aus Scham und vermeintlicher Schuld an. Dann aber ist die strafrechtliche Verfolgung der Taten meistens bereits verjährt. Ab diesem Moment tritt eine Art Haftungsumkehr ein: Jedes Opfer, das nun die Kraft hat, seinen Peiniger einen Täter zu nennen, geht ein hohes Risiko ein. Denn als „Täter“ darf nur derjenige bezeichnet werden, der rechtskräftig verurteilt ist. Nach der Verjährung einer Straftat ist das nicht mehr möglich. Nennt das Opfer seinen Peiniger dennoch Täter, kann es leicht verklagt werden – was häufig auch geschieht.[9]

Das ist für die Opfer und ihre psychologische Situation verheerend, schon weil sie das Gefühl haben müssen, dass alle Anstrengung umsonst war. Aus ihrer Sicht gibt es keinen mutmaßlichen Täter, sondern nur einen Täter. Ihnen diese Bezeichnung zu nehmen, bedeutet für sie: ihnen nicht zu glauben. Diesem schwer auflösbaren Konflikt könnte eine Verlängerung der Verjährungsfristen in manchen Fällen die Schärfe nehmen. Manche fordern gar, die Verjährungsfristen ganz aufzuheben.

Ungedeckte Wechsel auf eine bessere Zukunft

Die Regierung scheint im Prinzip auf dem richtigen Weg zu sein. Die große Frage ist nur: Hat sie genug Kraft, diesen Weg zu Ende zu gehen? Es ist ja nicht das erste Mal, dass sexuelle Gewalt die Öffentlichkeit aufrüttelt, bisher geschah dies meist entlang großer Missbrauchsprozesse wie in den 1980er und 90er Jahren. Viele der nun vorgeschlagenen Maßnahmen bleiben ungedeckte Wechsel auf eine bessere Zukunft.

Das Gros der Vorschläge des Runden Tisches muss nämlich erst noch durch die Parlamente und den Bundesrat. Die Länder verweisen jedoch aufgrund ihrer oftmals schwierigen Haushaltslage zunehmend darauf, dass sie neue finanzielle Verpflichtungen nicht eingehen können. So wurde das Kinderschutzgesetz Ende letzten Jahres erst nach erfolgreichen Verhandlungen der Länder im Vermittlungsausschuss vom Bundesrat abgesegnet.[10]

Ob und wann nun das Herzstück der Arbeit des Runden Tisches, der 100-Millionen-Euro-Hilfsfonds, tatsächlich aufgefüllt sein wird, steht in den Sternen. Die Bundesregierung hält an der Kostenteilung zwischen Bund und Ländern fest: „Es kommt jetzt darauf an, sehr deutlich den Anspruch an die Länder zu formulieren. Die Öffentlichkeit muss Druck machen“, sagte Familien ministerin Schröder auf die Frage, ob und wann der Fonds mit seiner Arbeit beginnen könne. Das heißt übersetzt: Ohne die Länder gibt es gar nichts. Aber niemand kann die Länder dazu zwingen. So einfach lassen sich Aufklärung und Prävention blockieren.

Doch was für Verfassungsjuristen der ganz normale gesetzgeberische Weg ist, stellt für die Betroffenen geradezu eine Pein dar. Genau wie im indivi duellen Umgang mit sexueller Demütigung und Ausbeutung von Kindern, so spielt auch im öffentlichen Gesetzgebungsprozess die zeitliche Dimension eine große Rolle. Weil die Betroffenen oft sehr lange brauchen, ehe sie ihre zerstörten Stimmen wiederfinden, rennt ihnen die Zeit davon. Viele von ihnen sind der Überzeugung, wenn das Momentum diesmal nicht ausreicht, die Opfer nachhaltig zu stärken und besser zu stellen, dann werde es nie reichen.

Um wirksam Druck ausüben zu können, müssten Betroffene über Jahre im harten politischen Lobbying am Ball sein. Sie müssten jedem einzelnen Strang der Gesetzesideen des Runden Tischs folgen. Das ist allein wegen der Vielzahl an Maßnahmen kaum machbar. Je kleinteiliger die Anti-Missbrauchsgesetze sind, desto einfacher sind sie durch ständige Veränderungseingaben zu verzögern. Entgegen großen politischen Kompromissen, die zu unverhandelbaren Paketen verschnürt werden, gibt es am Runden Tisch kein Paket. Alles ist lose, nichts ist fest, auch wenn alles mit allem zusammenhängt. Jeder gesetzgebende Akteur kann jede Maßnahme angreifen. Dagegen politisch anzukämpfen, ist für einzelne Betroffene so gut wie unmöglich. Sie müssten immer wieder neu erläutern und begründen, was sie nicht mehr rechtfertigen wollen: was man ihnen als Kindern angetan hat. Dass die Betroffenen inzwischen eine Reihe engagiert arbeitender Vertretungen gebildet haben und sich am Runden Tisch zu einer gemeinsamen Vertretung – Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter e.V. [11] – zusammenschlossen, ändert daran nichts. Der Arbeit dieser Gruppen ist stets ihre hohe Verletzlichkeit anzumerken.

Auch die Teilnahme am Runden Tisch war stets von Unsicherheit geprägt: Manche Verbände und Organisationen hatten immer wieder das Gefühl – wie es ein Opfervertreter formulierte –, „dass wir nur als legitimierende Girlande gedacht waren.“[12] Die Bedenken richteten sich auf die alles entscheidende Frage, ob diesmal die Kraft ausreicht, einen Politikwechsel im Umgang mit sexueller Gewalt zu erreichen: „Niemand garantiert uns, dass auch nur eine einzige der Absichtsbekundungen Gesetz wird“, sagte etwa Christian Bahls, Vertreter des Vereins „Eine Stimme für Betroffene“.

Doch nicht nur die Opfergruppen nehmen eine ambivalente Haltung gegenüber dem Runden Tisch ein. Auch die Szene der Beratungs- und Hilfestellen schwankt zwischen Beifall und Ernüchterung. Der Runde Tisch habe „viel geleistet und erarbeitet“, hieß es in einer Erklärung von 60 erfahrenen Missbrauchsstellen aus ganz Deutschland. Gleichzeitig bemängeln sie die großen „Versorgungslücken für Betroffene sexualisierter Gewalt“. „Der Runde Tisch hat diese Lücken erkannt und benannt. Eine verbindliche Lösungsperspektive ist aber nicht in Sicht.“[13] Julia von Weiler, Psychologin und Geschäftsführerin von Innocence in Danger, ist gerade mit Blick auf das wichtigste Element der Arbeit skeptisch, den Hilfsfonds. Sie weiß, dass seine Einrichtung und Dotierung mit 100 Mio. Euro ein großer Fortschritt bei der Aufarbeitung von sexueller Gewalt wäre. „Wenn allerdings die Beteiligung und Zustimmung der Länder noch offen ist, dann hängt das zentrale Projekt der Bundesregierung in der Luft“, so die erfahrene Aufklärerin. Es könne sein, sagt von Weiler voraus, dass die vielbeschworene neue „Kultur der Aufmerksamkeit“ bereits wieder zu bröckeln beginne. [14]

Die neue Kultur der Aufmerksamkeit gehört zum Dreiklang des Hinhörens, Bestrafens und Entschädigens von sexueller Gewalt. Es ist das Mantra der Regierung, seit sie beschlossen hat, sich des Themas anzunehmen. Wie nun sieht diese neue Kultur der Aufmerksamkeit konkret aus? Gibt es sie überhaupt? Daran muss man Zweifel anmelden, wenn man sich die Aufarbeitung im vorgeblich sensibelsten Teil des Gesellschaft ansieht: linksliberalen Lehrern und Anhängern der Reformpädagogik.

Der Fall Odenwaldschule und die Reformpädagogik

Die öffentliche Reaktion auf sexuelle Gewalt an Kindern ist stets Empörung. Besonders aufgebracht reagierte die Gesellschaft allerdings auf den Fall der Odenwaldschule. Ausführliche Reportagen schilderten in bedrückender Weise, wie brutal Überwältigung und Vergewaltigung aussieht. Dadurch wurde transparent, wie es in der Odenwaldschule über 20 Jahre hinweg zugegangen war: Gerold Becker, der Chef der Schule, wurde als vergewaltigender Triebtäter entlarvt. Der vermeintlich zartfühlende Musiklehrer Wolfgang Held entpuppte sich als der Mann für die pädophile Nachwuchsarbeit an der Odenwaldschule, ein dritter Lehrer als der polternde Heterosexuelle, der die Kinder auf Ausflügen befummelte. Insgesamt waren, wie man heute weiß, zwischen 1969 und Mitte der 70er Jahre sechs mehr oder weniger offen päderastische Lehrer an der Odenwaldschule beschäftigt, rund 15 Prozent der Lehrerschaft.[15]

Es war ein Schock für die Republik, dass massive sexualisierte Gewalt an Kindern in einer liberalen und offenen Schule geschehen konnte. Und dass es sich nicht etwa um kriminelle Zufallstreffer handelte, sondern um ein System, in dem Pädagogen die ihnen überantworteten Kinder planvoll in seelische Notlagen manövrieren, um sich an ihnen sexuell zu befriedigen. Neben der Vergewaltigung von Kindern wurde ein zweites Delikt deutlich: pädagogischer Hochverrat.

Bemerkenswerterweise reagierte aber die Community der Reformpädagogen und -schulen ganz anders. Auch sie war zwar empört, aber sie wies sofort und pauschal den Verdacht zurück, dass die sexuelle Gewalt etwas mit den Gründungsmythen der Reformpädagogik selbst zu tun haben könnte. Reformpädagogen treten ihrem eigenen Anspruch nach sensibel und emphatisch auf; gegenüber den Opfern des Missbrauchs aber reagierten sie häufig mit purer Ignoranz. Nirgendwo sind die Mechanismen des Verdrängens und Vertu schens besser zu beobachten. Und sie sind bis heute aktuell. Von wenigen Ausnahmen abgesehen[16] lehnt ausgerechnet die reformpädagogische Zunft den kritischen Diskurs über sexuelle Gewalt in ihren Reihen völlig ab.

Das ist zutiefst verstörend. Denn die Ursachen für den pädagogischen Super-GAU im Odenwald lassen sich auf Kernelemente der reformpädagogischen Lehre zurückführen, besonders auf ihre Spielart der Landerziehungsheime, zu denen die Odenwaldschule gehört. Die wichtigsten Tatorte an der Schule waren die sogenannte Internatsfamilie und der Ausflug. Das missbrauchte Prinzip ist das der „Nähe zum Kind“ – das programmatische Herzstück der Reformpädagogik. Als Patin einer „Pädagogik vom Kinde aus“ gilt Ellen Key.[17] Diese Nähe wird seit mittlerweile über 100 Jahren unkritisch als die Alternative zu einer unpersönlichen Massenbeschulung von Kindern in staatlichen Schulen gefeiert. An der Odenwaldschule führte sie ganz offensichtlich zum vielfachen Missbrauch.

Hermann Lietz erfand das Landerziehungsheim als gutes Pendant zur wilhelminischen Paukanstalt in kasernenähnlichen Gebäuden. Seine Lehre war einerseits eine plausible historische Antwort auf Drill, Belehrung und Beziehungslosigkeit preußischer Schulen. Andererseits wurde die Staatsschule zur Karikatur einer herzlosen Anstalt gemacht, die Seelenmord (Ellen Key) an Kindern betreibt. Dass der Prototyp der besseren Schule, die Odenwaldschule, ihrerseits zum Schauplatz organisierten Seelenmords wurde, wollen viele linksliberale Pädagogen bis heute nicht wahrhaben: „Ich will mich mit Missbrauch nicht mehr beschäftigen. Es geht [...] auch um die anderen Missbräuche in den Schulen, die darin bestehen Kinder auszuschließen, auszusortieren und im ideellen Sinne zu beschämen.“ Das sagte kürzlich eine hochrangige GEW-Funktionärin bei einer öffentlichen Tagung.[18] Der Satz zeigt die grausame Logik einer vermeintlich progressiven Pädagogik: Das Verbrechen von Reformpädagogen wird aufgewogen gegen das Gute, das die reine Lehre verspricht.

Solche Aussagen übersehen, dass sexuelle Gewalt konzeptionell in der Reformpädagogik der Landerziehungsheime angelegt ist. Der Missbrauch ist gewissermaßen ins Fundament der Odenwaldschule eingemauert. Denn die in den einzelnen Häuschen lebenden Internatsfamilien sind nicht etwa Abbild einer besseren bürgerlichen Familie mit Mann, Frau und Kindern, sondern sie stammen direkt aus der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Paul Geheeb hatte die Odenwaldschule der Kameradschaft seines Wickersdorfer Co-Leiters Gustav Wyneken nachempfunden. Wyneken aber war nicht irgendwer, sondern ein fanatischer und rechtskräftig verurteilter Päderast. Er gründete die Kameradschaft in Wickersdorf auch nicht zweckfrei – sondern als den Ort des sogenannten pädagogischen Eros.[19] Wyneken sah die Kameradschaft als Gegenentwurf zur bürgerlichen heterosexuellen Familie. Ihr Ideal ist die Beziehung zwischen einem Lehrer als Meister und seinen männlichen Schülern. Der dort praktizierte Eros ist eine Art höherer geistig-seelischer Verbindung. Wyneken knüpft damit an den Chefideologen der Jugendbewegung, Hans Blüher, an. Der sah in der heterosexuellen Ehe eine rein biologisch begründete Verbindung, eine Art Zwangsverband zur Produktion menschlichen Nachwuchses. Die Kameradschaft hingegen war für ihn ein freiwilliger Zusammenschluss. Dort sah er die mann-männliche Sexualität obwalten, die nicht etwa der Fortpflanzung dient, sondern ein feines Gespinst guter Gefühle sei.

Schneidet man die Girlanden der platonischen Knabenliebe jedoch ab, lässt sich der pädagogische Eros als das entziffern, was er ist: sexuelle Gewalt gegen vorpubertäre Jungen. In der einschlägigen pädagogischen Literatur wurde Gustav Wyneken bis zum Fall Odenwald im Jahr 2010 aber nicht etwa als Päderast angesehen. Man feiert ihn sogar heute noch als den Erfinder einer demokratischen Schule. Und den Kongressen, zu denen sich – im weiteren Sinne – Reformpädagogen zusammen finden, fällt es weiterhin sichtbar schwer, die Gefahren etwa der Nähe zum Kind offen zu diskutieren.

So fand kurz nach der Enthüllung des Missbrauchs an der Odenwaldschule Gerold Becker Eingang in den Hauptvortrag auf der Tagung des „Blick über den Zaun“ – das ist der Zusammenschluss von rund 100 deutschen Reformschulen. Cornelia von Ilsemann, leitende Bremer Bildungsbeamtin, sprach von ihm aber nicht etwa als Täter. Im Gegenteil: Sie hob ihn noch im Mai 2010 lobend als einen der Väter der gelungenen Bremer Schulreform hervor. Da nutzte auch der Protest anwesender Odenwaldlehrer nichts. Und auch ein gutes Jahr später, im Oktober 2011, hatte sich die Haltung in der Szene kaum geändert. In Bregenz kam der große Kongress des „Archivs der Zukunft“ zusammen, ein Netzwerk reformorientierter Bildungsneudenker. 1500 Menschen versammelten sich zum zweiten Mal am Bodensee, der Organisator des Kongresses, Reinhard Kahl, hatte für die Eröffnung des Kongresses eine persönliche Erklärung angekündigt, Thema „Reformpädagogik nach dem Fall“. Kahl, Filmemacher und der Bildgeber des neuen Lernens, schaffte es, dabei über sexuelle Gewalt zu reden – ohne den Begriff ein einziges Mal zu verwenden. Der Protest anwesender ehemaliger Odenwaldschüler nutzte nichts.

Wohlgemerkt: Die genannten Personen sind keine kleinen Lichter, sondern sie prägen den bundesweiten Reformdiskurs an den Schulen, jeder auf seine Art: von Ilsemann als einflussreiche Mitarbeiterin in der Konferenz der Kultusminister, Kahl als der wohl bedeutendste Bildungsjournalist des Landes. Ihr Referenzrahmen bleiben die guten Inhalte und Ziele der Reformpädagogik, selbst wenn Kahl inzwischen den Begriff nicht mehr verwenden will. Ein kritisches Hinterfragen findet jedoch nicht statt. Dass es im Odenwald zu schweren Übergriffen gekommen ist, leugnet zwar kaum noch jemand. Allerdings wird dies als Tat eines irregeleiteten Verbrechers markiert. Der Mann, „der die Reformpädagogik erklären konnte wie niemand sonst“ (so Enja Riegel, langjährige Leiterin der Wiesbadener Helene-Lange-Schule), er wird aus seiner eigenen Kirche ausgeschlossen – damit die Lehre rein bleiben kann.[20]

Becker und Hentig: Der Täter und sein Pate

Dass Gerold Becker die Odenwaldschule ab Ende der 1960er Jahre in ein Missbrauchssystem verwandelte, das knapp 20 Jahre reibungslos funktio nierte; dass mit ihm eine ganze Reihe pädosexueller Lehrer an der Schule auftauchten; dass er eine Art Verteilsystem für gutaussehende schwache Jungen errichtete, das alles wird bis heute nicht ernsthaft diskutiert. „Es war nicht alles schlecht unter Becker“, lautet der Satz eines aktuellen Lehrers der Odenwaldschule, der seinen Namen nicht freigibt. „Irgendwann muss man doch mal einen Schlussstrich ziehen!“

Traurig wie beschämend ist auch die Rolle Hartmut von Hentigs. Hentigs Bücher fehlen in keinem anspruchsvoll sortierten Bücherschrank. Der Mann hat unnachahmliche Formeln der Pädagogik geprägt, etwa das Grundprinzip guten Lernens im Westentaschenformat: „die Sachen klären, die Menschen stärken.“ Hentig war ein halbes Leben lang aufs Engste mit Gerold Becker befreundet, sie galten als Lebensgefährten und lebten zusammen in Berlin. Hentigs Rolle als Liebender ist nachvollziehbar, er hält zu seinem Freund. In seiner Rolle als pädagogischer Vordenker der Nation macht er es freilich nicht anders. Aus dem allseits verehrten kritischen Intellektuellen Hentig wird auf diese Weise der wichtigste Lobbyist Gerold Beckers. Als Becker 1999 wegen des Missbrauchsvorwurfs zweier Ex-Schüler das erste Mal öffentlich in Ungnade fällt[21], sorgt Hentig dafür, dass er wieder in Lohn und Brot kommt – als geschäftsführender Redakteur einer pädagogischen Zeitschrift, der „Neuen Sammlung“. Die angesehene Zeitschrift diskutiert die „gute Erziehung“ von Kindern. Die Wiederaufnahme Beckers ins Kollegium der Herausgeber erfolgt gegen den ausdrücklichen Protest dreier Kritiker. Über sie wird abgestimmt, als die Becker-Gegner Manfred Prenzel, Peter Fauser und Lothar Krappmann nicht anwesend sind. Anderswo nennt man so etwas Putsch. Auch jenseits der „Neuen Sammlung“ bleibt Becker publizistisch tätig. 2002 editierte er ein Heft, das sich um die Rolle des Körpers des Kindes drehte: „Reformpädagogen haben dem Kinderkörper zu mehr pädagogischer Beachtung verholfen“, schreibt er im Editorial.[22] Der Protest von Odenwaldschülern beim Friedrich Verlag wurde damals rüde zurückgewiesen.[23]

Allen aus der Szene war klar, wenn Gerold Becker vom besten Prediger der unbefleckten Heilslehre zum pädosexuellen Triebtäter herabgestuft wird, dann fällt auch Hartmut von Hentig in Ungnade, dann gerät eine ganze pädagogische Denkschule ins Wanken. Das Kraftfeld Hentig-Becker-Reformpädagogik funktionierte über Jahre hinweg wie ein Bermudadreieck: Der Kern der reformpädagogischen Szene wusste lange Bescheid über die Neigungen des Hentig-Freundes. Aus der sexuellen Gewalt, die von Gerold Becker ausging, machten gestandene Pädagogen aber einen Diminutiv: Allen war bekannt, „dass der Gerold auf kleine Jungs steht“. So heißt es heute über das Wissen von damals. Ist ein Alkoholiker Barmann, dann muss er sich einen neuen Job suchen. Wenn ein Pädagoge Päderast ist, dann heißt es unter seinen Lehrerkollegen: „Der arme Gerold!“ Ein Satz, der bei der ersten Aufklärungsveranstaltung an der Odenwaldschule im Jahre 2000 genau so fiel.

Doppelte Viktimisierung

Für viele Pädagogen ist es Loyalität und Menschlichkeit, dass Hentig derart unverbrüchlich zu seinem Freund hält. Kritische Beobachter freilich kennzeichnen das Vorgehen als typisches Muster eines Missbrauchssystems: Es besteht aus Täter, Täterlobby und Rechtfertigungsideologie.

Hartmut von Hentig nimmt im prominentesten Missbrauchsfall der vergangenen 25 Jahre eine prototypische Rolle ein: die des Paten. Hinter dem Täter steht ein angesehener Vertreter des Systems. Die betroffene Institution schenkt ihre Loyalität ohnehin meist dem Täter. Kommt es dennoch zum Verdacht, sorgt der Pate dafür, dass die Glaubwürdigkeit des Täters gestärkt – und die der Opfer geschwächt wird. In Hentigs erstem langen Brief nach dem Fall seines Freundes im Jahr 2010 (der dem Verfasser vorliegt) stehen wenige karge Sätze zu den Opfern. „Die Leiden der Opfer hatte und habe ich nicht zu beurteilen.“ Zu Becker hingegen schreibt Hentig ausführlich und in vielen Variationen, seine „segensreiche[n] Wirkungen sollten nicht so total verschwiegen werden, wie das jetzt geschieht.“

So lauten die schützenden Sätze von Protagonisten, die stets fallen, egal, ob ein Eishockeytrainer oder der Erzieher eines Kindergartens unter Verdacht gerät. Um den Täter herum bildet sich schnell eine Lobby, die ihn schützt – bewusst oder unbewusst.

Was für das Umfeld dem Rechtsstaatsprinzip „im Zweifel für den Angeklagten“ geschuldet ist, stürzt die Betroffenen in eine destruktive Situation. Psychologen und Therapeuten sprechen von der doppelten Viktimisierung. Erst zieht der Täter das Opfer in die Mitschuld. Gelingt es dem Opfer aus seinem Kokon von Scham und vermeintlicher Mitschuld endlich auszubrechen, stürzt es die zweifelnde Umwelt erneut zurück. Das Opfer bereut, jemals gesprochen zu haben. Es gibt Studien, die zeigen, dass das Nichtglaubenwollen ihrer Umgebung die Opfer noch stärker traumatisiert als die Tat selbst.[24]

Ausgerechnet die Reformpädagogik hat sich also schuldig gemacht, und zwar doppelt: Erst hat sie 20 Jahre lang gründlich weggesehen, als an ihrer Vorzeigeanstalt Kinder missbraucht wurden. Und heute weigert sie sich, die Ursachen für die sexuelle Gewalt gründlich aufzudecken.

„Wir brauchen Menschen, die sich mit Pädokriminalität auseinandersetzen“

„Man muss zuhören, den Betroffenen zuhören. Das ist das wichtigste.“ Christine Bergmann, die ehemalige Unabhängige Beauftragte gegen sexuelle Gewalt, hat das Zuhören zu ihrer Aufgabe gemacht. Statt der 150 Stunden, für die man sie zunächst als Beauftragte eingestellt hatte, hat sie als Anwältin der Opfer eineinhalb Jahre lang Vollzeit gearbeitet. Sie hat die Kampagne „Das Schweigen brechen“ und mehrere Studien in Auftrag gegeben.

Bergmann hat gezeigt, dass Missbrauch in der Gesellschaft ein schlafender Riese ist: Als sie mit Wim Wenders ihre Kampagne startete, stieg die Zahl der Anrufer ihres Notfalltelefons um das neunfache an. Bergmann versteht, dass das Tabu und der Schmerz der Menschen, sich grausame Fallgeschichten anzuhören, groß ist: „Man möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die so etwas mit Kindern macht. Man will nicht wahrhaben, dass sexuelle Gewalt geschieht, dass sie nicht verfolgt, geahndet und wirksam entschädigt wird.“[25]

Und sie forderte, ehe sie ihren Job an Johannes-Wilhelm Rörig weiter gab, dieses Tabu endlich zu brechen: „Wir brauchen Menschen, die sich mit Missbrauch und Pädokriminalität auseinandersetzen.“

 

 

[1] Vgl. Susanne Vieth-Entus, Schüler am Jesuiten-Gymnaisum jahrelang missbraucht, in: „Der Tagesspiegel“, 28.1.20100. 

[2] Vgl. Jörg Schindler, Missbrauch an der Odenwaldschule – Gemobbt, geschlagen, vergewaltigt, in: „Frankfurter Rundschau“ (FR), 6.3.2010.

[3] Claudia Burgsmüller und Brigitte Tilmann, Abschlussbericht über die bisherigen Mitteilungen über sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010, Wiesbaden und Darmstadt 2010.

[4] Vgl. Jörg M. Fegert u.a., Zweiter Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zur telefonischen Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern Dr. Christine Bergmann, Ulm 2010 sowie: Geschäftsstelle der Beauftragten (Hg.), Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann, Berlin 2011.

[5] Christian Pfeiffer, Erster Forschungsbericht zur Repräsentativbefragung sexueller Missbrauch 2011, www.rundertisch-kindesmissbrauch.de/downloads.htm.

[6] Vgl. Christian Füller, Das Schweigen ist zu Ende, in: „die tageszeitung“ (taz), 26.11.2010.

[7] Vgl. Ole Kröning und Eric Richard, Der böse Schaffner von der Wuhlheide, in: „BZ“, 10.10.2011. 

[8] Vgl. Merkel fordert volle Wahrheit über Missbrauchsfälle, www.spiegel.de, 17.3.2010.

[9] Vgl. z.B. den Fall von Norbert Denef, der den Namen seines Täters nicht nennen darf, weil ihm sonst eine Verleumdungsklage droht: Schluss mit dem Täterschutz, Interview in „Die Zeit“, 2.2.2012.

[10] Die Ablehnung des Gesetzes durch den Bundesrat hatte zwar andere Gründe als die Passagen zur sexuellen Gewalt. Aber sie zeigte den Opfern sofort ihre Machtlosigkeit: „Ihr“ erstes Gesetz war aufgehalten worden.

[12] Christian Bahls (Interview), „Es fehlt der Wille, Konsequenzen zu ziehen“, in: taz, 26.10.2011.

[14] Julia von Weiler im Interview mit dem Autor für die „Blätter“.

[15] Christian Füller, Sündenfall: Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln 2011, S. 108ff.

[16] Vgl. Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft: Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim 2011; Rainer Winkel, Wenn die Pädagogen versagen, in: „Die Welt“, 3.7.2011; Micha Brumlik, Reformpädagogik als internationale Bewegung, in: „Blätter“, 5/2010, S. 99-108.

[17] Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, Berlin [1926].

[18] Auf der 9. Pädagogischen Konferenz zu Religion und Ethik, Eisleben, 16.-18.11.2011.

[19] Vgl. Ulfried Geuter, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Frankfurt a.M. 1994; Thijs Maasen, Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1995; vgl. zur Idee des „pädagogischen Eros“ Hartmut von Hentig, Die Elemente der Erziehung, in: „Blätter“, 5/2010, S. 85-98.

[20] Vgl. Füller, a.a.O., S. 185.

[21] Vgl. Jörg Schindler, Der Lack ist ab, in: FR, 17.11.1999.

[22] Gerold Becker, „Unter verschärfter Beobachtung. Sehen und Gesehen-Werden“, in: Schüler 2002 – „Körper“, Seelze 2002.

[23] „Welche Neigungen die Herausgeber unserer Zeitschrift haben, interessiert mich nicht, solange sie nicht zu strafbaren Handlungen führen“, antwortete die zuständige Redakteurin des Verlags damals in einem Brief, vgl. Füller a.a.O., S. 242f.

[24] Susan Clancy, The Trauma Myth: The Truth About the Sexual Abuse of Children – and Its Aftermath. New York 2009.

[25] Christine Bergmann (Interview), „Missbrauch hört nie auf“, in: „taz“, 30.11.2011.

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