Ausgabe September 2013

Gezi oder: Das Imperium der Angst ist zerstört

Gut zwei Monate sind seit den Protesten auf dem Istanbuler Taksim-Platz vergangen. Die Philosophin Beril Idemen Sözmen hat an der Besetzung teilgenommen und bilanziert im Folgenden, was davon bleibt.

Im Türkischen gibt es ein bekanntes Schlagwort, das gut zu diesen Zeiten passt: „Ezber Bozmak“. „Ezber“ bedeutet „Das Auswendiggelernte“ und „Bozmak“ so viel wie „zerstören, brechen, auseinanderbringen“ – Ezber Bozmak ist also ein Prozess des Entlernens.

Noch wissen wir nicht genau, wie es zu den Ereignissen im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz kam und wohin diese führen werden. Die meisten Analysen sind daher zu Recht noch sehr vorsichtig. Was wir aber bereits wissen, ist, dass wir umdenken und lieb gewonnene Überzeugungen über Bord werfen müssen. Als unser Park noch die himmlische Utopie war, habe ich einmal gesagt, dass es eine Orgie des Ezber Bozmak ist. Denn es stimmte wirklich: Individuen und Gruppen, die man sich nie nebeneinander hätte vorstellen können, saßen zusammen, lernten sich kennen und halfen einander. So etwas habe ich bis dahin nicht nur noch nie erlebt, ich hätte es nicht einmal für möglich gehalten.

»Mein erster Irrtum: Ich bin allein, und alle anderen sind apolitisch, feige, egoistisch, kleinkariert.«

Wie also sah mein ganz persönliches, aber dennoch von vielen geteiltes Ezber aus – meine alte, falsche Überzeugung?

Mein erstes Ezber: Ich bin allein, und alle anderen sind apolitisch, feige, egoistisch, kleinkariert.

Ich hätte nie gedacht, dass ich so froh sein würde, mich zu schämen – besonders gegenüber „der Jugend“. Speziell diese hatten wir Älteren nämlich als apolitisch, unorganisiert und hoffnungslos verschlafen beschimpft. Wir hatten keinerlei Hoffnung, dass mit diesen Schnöseln, die vor dem Computer aufgewachsen sind und keine Ahnung von Geschichte und Politik haben, irgendetwas anzufangen sein könnte. Doch jetzt hat sich das Bild dramatisch geändert, so dass ich sogar ein wenig in Sorge bin, ob meine Studierenden im nächsten Semester nicht nur mit wohlverdientem Stolz und politischem Selbstbewusstsein auftreten werden, sondern sogar etwas arrogant und selbstverliebt.

Aber nicht nur die ganz Jungen haben mich beschämt (der Altersdurchschnitt im Park war wohl 28 Jahre, alle meine gleichaltrigen Freunde waren auch dabei). Ich war völlig erstaunt darüber, wie viel Einigkeit, Solidarität und effiziente Organisation in einer Gruppe von Leuten möglich ist, die sich nicht kennen und keine zentrale Führung haben.

Nie hätte ich gedacht, dass eine Gruppe von derart bunt zusammengewürfelten Menschen aller Altersgruppen und Identitäten es in kürzester Zeit schaffen könnte, nicht nur das Alltägliche zu organisieren, wie Ernährung, Gesundheitsversorgung oder Müllabfuhr, sondern auch eine Art von politischem Zusammenleben.

Wurde irgendjemand grantig, ob auf die Polizei oder auf jemand anderes, kamen sofort andere hinzu, die beschwichtigten und an Höflichkeit und Toleranz erinnerten. Brannte es irgendwo im Park, was hin und wieder geschah, entstanden sofort Menschenketten und schafften Wasser herbei, um das Feuer zu löschen, und bald hatten wir auch unsere eigene kleine Feuerwehr. Schoss die Polizei mit Tränengas, bildete man ebenfalls Ketten, die die Wege zu den zwei Krankenrevieren freihielten, damit die Liegen mit den Verletzten schnell durchkamen. An Tagen, an denen man sich nicht bedroht fühlte, besuchten uns viele Menschen, gerade auch ältere, und brachten uns etwas mit: von Früchten – „damit die Kinder endlich mal was Gesundes essen“ – über Selbstgebackenes bis zu Zigaretten. Und als der Gouverneur von Istanbul direkt die Eltern aufforderte, doch ihre Kinder aus dem Park zu holen, weil er nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren könne, da kamen die traditionell eher ängstlichen, überprotektiven Mütter in den Park, bildeten eine Menschenkette um die Demonstranten und riefen: „Die Mütter sind hier, wo ist Tayyip?“

Ich verstehe bis heute nicht, wie es möglich war, eine solch gut organisierte Sache herbeizuzaubern – ohne Zentrale, ohne Druck und ohne Geld. Denn außer bei den Straßenverkäufern, von denen einige bestimmt Zivilpolizisten waren, war Geld im Park verpönt. Jeder brachte etwas mit, und jeder nahm das, was er brauchte. Kein Wunder also, dass Erdogan behauptete, das alles sei schon vor Monaten heimlich und mit Hilfe fremder Kräfte organisiert worden.

»Man ist nicht kreativ? Auch mit diesem Vorurteil musste ich brechen.«

Mein zweites Ezber: Man ist nicht sonderlich kreativ.

Auch mit diesem Vorurteil musste ich brechen. Kaum hatte Erdogan oder einer seiner Truppe eine respektlose Bemerkung gemacht, gab es wenige Stunden später die passende Antwort: ein Lied, eine Karikatur, ein Videospiel, eine performative Protestaktion, Street-Art.

Einmal saß ich mit Freunden herum und wir jammerten, dass uns nichts einfällt. Und schon stand auf eine Wand gesprüht: „Mir fällt nix ein, aber ihr wisst schon, Anarchie und so ...“ Es war wirklich unfassbar.

Mittlerweile gibt es an die hundert Lieder, die entweder eigens komponiert wurden oder die entstanden, indem zu altbekannten Melodien neue Texte hinzugefügt wurden, und die meisten sind sehr, sehr gut.

Ganz wichtig ist dabei das Mittel des Witzes und der Satire. Humor ist in der Türkei genauso wichtig wie in Großbritannien. „Witz-Kämpfe“, also der gegenseitige Wettstreit mit Witz, Humor und Musik, waren über Jahrhunderte ein Volkssport. Seit über einem Jahrhundert gibt es wöchentliche Humorzeitschriften. Jeder, also auch die heutige Jugend, ist mit ihnen aufgewachsen. Sie sind sehr beliebt, traditionell links und werden nicht von den „alten“, erfahrenen Karikaturisten gemacht, sondern von ziemlich jungen Leuten.

Und kaum war der Park geräumt – und ich und ein Freund in den Fünfzigern stritten uns noch darüber, ob der Kampf auf der Straße weitergehen sollte oder ob neue Formen des Widerstandes gefunden werden müssen –, da fingen schon die ersten Nachbarschafts-Foren in verschiedenen Parks an und da demonstrierte schon der stehende Mann auf dem Taksim-Platz und Hunderte taten es ihm nach.

»Die letzten zehn Jahre hatten eine Art Tabula-Rasa-Effekt für all jene, die jetzt in ihren Zwanzigern sind.«

Mein drittes Ezber: Man muss politisch aktiv sein, um gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Von wegen! Mir hätte vor kurzem mal jemand versuchen sollen zu erklären, wie gut es ist, dass die neue Jugend so unpolitisch ist. Jetzt wissen wir, was wir nicht im Geringsten geahnt hätten, dass nämlich die letzten zehn Jahre eine Art Tabula-Rasa-Effekt für jene hatten, die jetzt in ihren Zwanzigern sind. Und dass dies absolut notwendig war für eine entscheidende Wende: weg von den alten Dichotomien und Formen der Politik, die auf unterschiedlichen Visionen von Gesellschaft und Staat aufbauen, hin zu einer Form von Sensibilität und Aktivität, die sich auf die Fundamente des individuellen Lebens (Freiheit und Respekt) konzentriert – und auf die Methoden gemeinsamer Entscheidungsprozesse.

Dazu gehört in entscheidender Weise das Internet. Und der Fußball! Gerade die „Hooligans“, die nach meinem Ezber immer nur brüllen und grölen, ihre Identität auf ihre Mannschaft gründen und in Anhängern anderer Mannschaften nur Rivalen sehen, kurzum: ihr Geld und ihre Zeit in ein dummes Spiel stecken und sich so politisch einschläfern lassen – diese Hooligans haben mit ihrer Protesterfahrung und Party-Laune nicht nur wertvolle Moral geliefert (anscheinend ist auch diese „Moral“ kein Klischee, sondern lebensnotwendig), sondern sie haben auch bei Straßenkämpfen oft ordentliche Arbeit geleistet, während wir als pazifistische Intellektuelle im Hintergrund die Utopie genossen.

Die Fußballfans haben aber auch, indem sie sich sofort zusammengetan haben, als Erste den Schritt zu einer allgemeinen Versöhnungsatmosphäre gemacht. Wären also der Fußball und das Internet nicht gewesen, hätten diese Jungs und Mädels nicht täglich Stunden am Computer verbracht, spielend, chattend und sich online vernetzend, dann wäre das alles nicht passiert.

Vieles, was wir Älteren als verheerend für Demokratie und Zukunft ablehnten, entpuppte sich als absolut notwendig für diese neue Art des Denkens und Handelns. Was genau das ist, kann heute noch keiner ganz verstehen. Aber gerade das ist ein weiterer Gewinn der letzten Wochen: Jetzt ist man halt viel offener, aber auch selbstkritischer und weniger selbstsicher. Denn was wussten wir schon?

»Es war die klügste und kreativste, dezentralisierteste und doch wohlgeordnetste Revolte, die man sich vorstellen kann.«

Es gibt natürlich viel, viel mehr, wovon ich berichten müsste (ich kann dafür nur Facebook und Twitter empfehlen). Seit Wochen denke ich oft an den Spruch von Charles Dickens: „It was the best of times, it was the worst of times“.

Es war die klügste und kreativste, dezentralisierteste und doch wohlgeordnetste, sprich: realistischste Revolte, die man sich vorstellen kann – und die ich nie im Leben erwartet hätte.

Und ich weiß jetzt auch, was für eine eigene und wertvolle Kultur der Demokratie in der Türkei herrscht. Als ich Anfang der 90er Jahre in Ankara zur Schule ging, haben wir täglich über Politik gesprochen, sowohl über Theoretisches als auch Alltägliches, mindestens genauso viel wie über Jungs (oder Mädels, je nachdem), Musik, Filme oder Feten. Jetzt spüre ich wieder, wie hingegeben die Menschen sind, was für ein realer, existenzieller Bestandteil ihres Lebens die Politik in der Türkei ist.

Aber auch das Schlechte geht weiter. Auf der anderen Seite sehe ich jetzt so deutlich wie noch nie, wie groß die üblichen Gefahren sind: der Populismus, die verlogenen Politiker und Medien, ihre großflächige Manipulation der Massen. Es fühlt sich an wie in einem Film: Die Fronten sind klar und deutlich voneinander getrennt und es stehen sich die beiden Seiten tatsächlich so explizit gegenüber, wie es oft vereinfachend und schematisierend dargestellt wird.

Im Moment läuft eine wahre Hexenjagd, und die „andere Seite“ ist so ungeheuer stark: Sie verfügt über Geld und Macht, die Gewalt des Staates und den Gehorsam mindestens der Hälfte der Medien und sie wird außerdem so stark durch rein ökonomische Interessen zusammengeschweißt, dass der Kampf gegen sie manchmal regelrecht hoffnungslos erscheint.

Trotzdem bin ich guter Hoffnung. Eine Wandinschrift auf dem Taksim-Platz bringt auf den Punkt, was passiert ist: „Korku Imparatorlugu yıkıldı” – „Das Imperium der Angst ist zerstört.“ Denn der Protest geht weiter, in anderen Formen zwar, weniger dramatischen, dafür aber hoffentlich länger andauernden.

Ein anderer Slogan könnte als das Hauptmerkmal der Bewegung verstanden werden: „Bu daha başlangıç, mücadeleye devam” – „Das ist erst der Anfang, weiter mit dem Kampf.”

Von dummem Romantizismus ist jedenfalls nicht viel zu spüren: Jeder weiß, dass die Anfangseuphorie nicht für immer reichen kann, dass auch die reinste Utopie irgendwie schmutziger werden muss. Darum ist der Fokus jetzt mehr auf das Langfristige, Alltägliche und politisch Umsetzbare gerichtet.

Doch eines vor allem bleibt von den Tagen der Besetzung: Wenn es auch nur das wäre, dass wir gemerkt haben, dass wir nicht nur nicht allein sind, sondern eine gewaltige und gewitzte Menge; dass wir bereit sind, unsere eigenen auswendig gelernten Feindseligkeiten zu begraben und einander zu verzeihen – das alleine wäre schon umwerfend.

Diese Katharsis, diese Wende, dieses „Aufwachen“ der Menschen – nicht nur gegenüber der großen Politik oder der Regierung, sondern in Selbstkritik, mit Mut und Solidarität –, all das kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Und was mich besonders gefreut hat: Diese Seite des toleranten, respektvollen, fürsorglichen Zusammenlebens war offenbar stark und sensibel genug, um an einem relativ frühen Zeitpunkt „Es reicht!“ zu sagen. Denn obwohl vieles schon seit Jahren schleichend daherkam, ist es relativ neu, dass die Regierung ihr wahres Gesicht zeigt – und ich bin erstaunt, beschämt und sehr glücklich zu sehen, wie schnell und deutlich dazu das „Nein“ kam.

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