Ausgabe Juni 2012

Grüner Netzausbau für schmutzigen Strom?

Der Jubel über den erfolgreichen Widerstand gegen die Atomenergie ist kaum verklungen, da kommt es erneut zu heftigen Protesten. Diese richten sich jedoch nicht gegen geplante Endlager oder neue Atommülltransporte, sondern gegen die Folgen der nun eingeleiteten Energiewende, genauer: gegen den Ausbau des Stromnetzes. 

Dieser ist nötig, weil das bestehende Stromnetz nicht ausreicht, die Windenergie von den Standorten an bzw. vor der norddeutschen Küste zu den Verbrauchszentren in Süd- und Westdeutschland zu transportieren. Rund 850 Kilometer Höchstspannungsleitungen sollen bis 2015 gebaut werden.

Doch gegen diese Pläne regt sich Protest: Zahlreiche Bürgerinitiativen und Umweltverbände befürchten, dass die Stromtrassen gesundheitliche Schäden verursachen. Zudem kritisieren sie, dass die Leitungen nicht nur grünen, sondern auch fossilen Strom transportieren sollen: Da an der Nordseeküste neue Kohlekraftwerke geplant sind, würden sie einen großen Anteil der angeblich für die Windenergie erforderlichen Netzkapazität beanspruchen.

Etliche Protestzüge mitgliederstarker Bürgerinitiativen, tausende Einwendungen gegen laufende Planungsverfahren und -beschlüsse sowie ein permanenter Schlagabtausch von Gutachten und Gegengutachten belegen, dass die Trassenpläne nicht nur von einzelnen Interessenverbänden – etwa aus der Tourismusbranche – torpediert werden. Vielmehr ist der Widerstand tief in den betroffenen Regionen verwurzelt.

Bislang können die Projektgegner ihre Forderungen jedoch nicht durchsetzen. Stattdessen haben die verhärteten Fronten im Streit um den Netzausbau inzwischen zu einer Pattsituation geführt. Derzeit befinden sich praktisch alle großen Ausbauvorhaben im Verzug, für die es laut Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) von 2009 einen „vordringlichen Bedarf“ gibt.

Wie aber ließe sich der festgefahrene Konflikt zwischen Energieunternehmen und Projektgegnern noch lösen?

Hochspannung tief legen: Die Argumente der Projektgegner

Selbst die Gegner der Stromtrassen bestreiten nicht, dass der Ausbau des Netzes notwendig ist. Niemand möchte als Verhinderer der Energiewende gelten, was durch die Namensgebung vieler Bürgerinitiativen zum Ausdruck kommt: „Pro-Erdkabel“, „Ab in die Erde“ oder „Hochspannung tief legen“.

Damit ist zugleich die wichtigste Forderung der protestierenden Bürger benannt: Wenn es schon neuer Leitungen bedarf, sollen diese wenigstens unterirdisch verlaufen. Erdkabel würden die Befürchtungen der Projektgegner entkräften, dass die Oberleitungen elektromagnetische Felder erzeugen, ihre Immobilien entwerten und Tourismusregionen verschandeln.

Verlegte man zumindest in besiedelten und touristischen Regionen Erdkabel anstelle von Freileitungen, würde der geplante Ausbau vermutlich um einiges leichter. Grundsätzliche technische Hemmnisse für diese Option bestehen offenbar nicht, die bisherigen Planungen enthalten ohnehin Kabelsegmente. Dennoch hält die für den Netzausbau (mit)verantwortliche Deutsche Energieagentur (DENA) wenig von der Erdkabellösung. Sie verweist auf mangelnde Wirtschaftlichkeit durch hohe Installations- und Wartungskosten sowie eine niedrigere Transportkapazität.

Dabei geht vielen Bürgerinitiativen selbst die Verlegung von Erdkabeln in einigen Streckenabschnitten nicht weit genug. Sie plädieren für eine weitergehende technische Alternative: und zwar für eine vollständige Erdverkabelung auf Gleichstrom- statt auf „herkömmlicher“ Wechselstrom-Basis. Dabei handelt es sich um eine relativ neue Technologie, die sogenannte Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ). Die Vorteile liegen auf der Hand: HGÜ-Leitungen verursachen keine elektromagnetische Strahlung und übertragen Elektrizität über große Strecken ab etwa 500 Kilometer zudem verlustärmer als die bestehenden Leitungen. Die Energie aus den Offshore-Windparks könnte mit HGÜ-Leitungen an die Küste und von dort direkt zu den Verbrauchern in Süd- und Westdeutschland transportiert werden, ohne einen Stau im überlasteten Wechselstromnetz zu produzieren.

Doch Netzbetreiber und DENA weisen die Forderung nach einer HGÜ-Leitung mit dem Verweis auf zu hohe Kosten zurück. Darüber hinaus sei die Übertragungstechnik nicht hinreichend erprobt – ein Argument, das jedoch nicht zutrifft: Hersteller wie ABB und Siemens liefern seit den 1980er Jahren hunderte Kilometer HGÜ-Kabel unter anderem nach China, Indien, Kanada und Südafrika.

Renaissance der Kohlekraft?

Zusätzlich heizt die DENA die Proteste mit ihrer rückwärtsgewandten Energiepolitik an. So befürwortet DENA-Geschäftsführer Stephan Kohler seit Jahren den Neubau von Kohle- oder Gaskraftwerken, „um eine sichere, risikoarme, günstige und nachhaltige Stromversorgung zu gewährleisten“.[1] Die DENA ist eng mit der etablierten, auf fossile Energien fixierten Stromwirtschaft verwoben. Ihre Netzausbaupläne beruhen maßgeblich auf einer Studie aus dem Jahr 2005, die vor allem von RWE, Vattenfall und Eon finanziert wurde.

Aufgrund der intransparenten Planung vermuten Kritiker, die geplante Netzerweiterung solle unpopuläre fossile Kraftwerke erhalten. Zudem bemängeln sie, dass die energiewirtschaftliche Notwendigkeit der neuen Leitungen nicht hinreichend belegt ist. Vielmehr sei das Ausbauvolumen auf Auslastungsspitzen der Windanlagen ausgelegt; auch technische Alternativen zum Bau neuer Leitungen oder die Verstärkung vorhandener Leitungen seien nicht berücksichtigt worden.[2]

So geht ein Gutachten der Universität Flensburg davon aus, dass selbst für einen beschleunigten Atomausstieg bis zum Jahr 2015 ausreichend Netzkapazität vorhanden ist.[3] Da bis heute im deutschen Teil der Nordsee nicht einmal 50 Windanlagen Strom produzieren, ist zudem völlig offen, wie umfangreich die Netze in den kommenden 10 bis 20 Jahren für die Offshore-Windenergie ausgebaut werden müssen.

Der Verdacht, dass „schmutziger“ statt grüner Strom durch die neuen Höchstspannungsleitungen geschickt werden soll, ist somit nicht aus der Luft gegriffen. In der Tat geht die oben genannte Ausbau-Studie davon aus, dass viele neue Kohlekraftwerke ans Netz gehen werden. Derzeit befinden sich rund 20 solcher Kraftwerke im Bau oder in der Planung. Sechs Standorte liegen nahe der Nordseeküste: Hamburg, Wilhelmshaven sowie Brunsbüttel und Stade (je zwei). Sie befänden sich somit zwischen den geplanten Offshore-Windparks der Nordsee und den nachfragestarken Regionen und erbrächten eine Gesamtkapazität von bis zu sieben Gigawatt. Für diese sind entsprechende Transportkapazitäten, sprich: Stromnetze, nötig. Zum Vergleich: 1400 große Offshore-Windanlagen (à fünf Megawatt) müssten gleichzeitig unter Volllast Strom produzieren, um die gleiche Netzkapazität zu beanspruchen. Das allerdings kommt nur selten vor. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, warum Kraftwerke gerade dort geplant werden, wo der erzeugte Strom nicht verbraucht wird. Denn je mehr Strom transportiert werden muss, desto mehr Trassen sind erforderlich. Umgekehrt würde sich der Bedarf an Stromleitungen verringern, würden die Kraftwerke in der Nähe der Verbraucher errichtet. Die Ausbauplanung müsste daher eigentlich einer Revision unterzogen werden.

Doch eine energiewirtschaftliche Fundierung des Netzausbaus findet im 2009 beschlossenen EnLAG nicht statt. Stattdessen haben sich die Betreiber von Atom- und Kohlekraftwerken durchgesetzt. Sie verfolgen mit dem vermeintlich „grünen“ Netzausbau ein weiteres, ganz eigenes Ziel: Bislang müssen die Betreiber ihre Kraftwerke – aufgrund des Einspeisevorrangs für erneuerbare Energien – bei Starkwind abregeln. Die neuen Leitungen sollen den überschüssigen „Graustrom“ nun stattdessen nach West- oder Süddeutschland bzw. zum Verkauf ins Ausland transportieren – und so den Profit zu Lasten der Energiewende sichern.

Neue Netze für erneuerbare Energien

Allerdings ist in der letzten Zeit zumindest ein wenig Bewegung in die Sache gekommen: Mit dem „Netzausbaubeschleunigungsgesetz“ und der Reform des „Energiewirtschaftsgesetzes“ wurde im Juli vergangenen Jahres das Netzausbau-Regime deutlich verändert. Dabei griff der Gesetzgeber auch einige Forderungen der Bürgerinitiativen auf, darunter die Offenlegung der Lastflussdaten sowie mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung bei der Planung. Doch zu einer konstruktiven Lösung der aktuellen Kontroverse werden diese Reformen nicht beitragen, da sie erst für zukünftige Ausbauvorhaben gelten.

Somit droht sich der Netzausbau angesichts der großen Widerstände weiterhin um Jahre zu verzögern. Der eigentliche Erfolg der Protestierenden liegt indes auch weniger in geringfügigen Zugeständnissen wie der Reform des EnLAG, durch welches die Bundesländer in die Lage versetzt werden, Erdkabelabschnitte festzulegen. Vielmehr ist es ihnen gelungen, den Raum für eine öffentliche Debatte zu schaffen. Das Zeitfenster sollten beide Seiten nun nutzen, um gemeinsam Lösungen zu finden, wie der erforderliche Netzausbau einvernehmlich gestaltet werden kann.

Angesichts des aufgeheizten Konflikts wäre zuallererst ein Moratorium für den Neubau von Kohlekraftwerken – zumindest der küstennahen Standorte – notwendig. Eine Alternative, die seit Jahren insbesondere von Umweltgruppen und den Grünen gefordert wird, ist die Förderung kleinerer flexibler Gaskraftwerke als Brückentechnologie. Sobald nachgewiesen ist, dass die neuen Leitungen ausschließlich oder größtenteils für erneuerbare Energien genutzt werden, dürften sie auch bei den Ausbaugegnern erheblich leichter auf Akzeptanz stoßen.[4] Zudem sollten die Trassen von Anfang an als HGÜ-Leitungen geplant werden. Zusätzlich könnten die Projekte durch die Erdverkabelung umstrittener Abschnitte beschleunigt werden. Eine solche Lösung müsste jedoch nicht nur gegen die Interessen mächtiger Energiekonzerne, sondern auch gegen die Bundesregierung durchgesetzt werden. Ebenjene Bundesregierung hat indes schon einmal einsehen müssen, dass der Streit um die Zukunft der Energieversorgung nicht gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger gewonnen werden kann, sondern nur mit ihnen. 

[1] Stephan Kohler, Pro: Brauchen wir neue Kohlekraftwerke?, in: SPW, 4/2008, S. 10. 

[2] Vgl. Lorenz Jarass, Windenergiebedingter Netzausbau – nicht zu viel und nicht zu wenig! In: „Energiewirtschaftliche Tagesfragen“, 10/2010, S. 22-27. 

[3] Vgl. Olav Hohmeyer, Sönke Böhm, Gesine Bökenkamp und Frauke Wiese, Atomausstieg 2015 und regionale Versorgungssicherheit. Kurzgutachten April 2011, S. 5. 

[4] Petra Schweizer-Ries, Irina Rau und Jan Zoellner, Umweltpsychologische Untersuchung zur Akzeptanz von Maßnahmen zur Netzintegration Erneuerbarer Energien in der Region Wahl-Mecklar (Niedersachsen und Hessen), Saarbrücken 2010, S. 10.

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In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

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