Ausgabe Januar 2012

Indien: Korruption als System

Ein Mann, der sich den großen Mahatma Gandhi zum Vorbild genommen hat, versetzte in den letzten Monaten nicht nur die indische Regierung, sondern den ganzen Subkontinent in Aufruhr. Anna Hazare protestierte mit einem Hungerstreik gewaltfrei gegen die weit verbreitete Korruption in Indien. Mit der Unterstützung seiner zahlreichen Anhänger, erzielte er eine gewaltige Medienaufmerksamkeit und setzte so die Parteien im Parlament erheblich unter Druck. Auch wenn der „große Bruder“ Anna Hazare seinen Hungerstreik Ende August beendete, nachdem die indische Regierung ein neues Anti-Korruptionsgesetz zugesagt hatte, geht die Bewegung unvermindert weiter. Zu ihren Forderungen zählen die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollbehörde, die alle Minister, Abgeordnete und Beamte überwacht, sowie die Ernennung von Ombudspersonen gegen Korruption in allen 29 Bundesstaaten.

Das Ansinnen der indischen Anti-Korruptionsbewegung ist ohne Zweifel berechtigt. Indiens Wirtschaft floriert trotz ineffizienter Regierungsführung und öffentlicher Misswirtschaft. Zugleich jedoch bergen Bestechung und Vetternwirtschaft – neben der großen sozialen und ökonomischen Ungleichheit – hohe Risiken für Indiens globalen Aufstieg. Denn sie gefährden eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, verschrecken ausländische Investoren und behindern die Armutsbekämpfung.

Im globalen Korruptionsindex 2010 der Nichtregierungsorganisation (NGO) Transparency International liegt Indien auf Rang 87 von 182 Staaten – und damit weit hinter den anderen aufstrebenden Wirtschaftsmächten Brasilien oder Südafrika. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Amtsmissbrauch, Schattenwirtschaft und Korruption schon lange ein allgegenwärtiges Problem auf dem Subkontinent darstellen.

Die Tradition der Korruption

Bereits die Briten klagten über die Korruption ihrer eigenen Behörden. Auch nach der Unabhängigkeit sah sich jede indische Regierung früher oder später mit dem Thema konfrontiert. Doch sowohl die Regierung in Neu-Delhi als auch die der Bundesstaaten scheinen unfähig, die Korruption in den Griff zu bekommen. Offenbar haben sich alle Seiten an die systematische Bestechung angepasst.

Heute durchzieht die Korruption die gesamte Gesellschaft, die Politik, die Verwaltung und auch die Justiz. Vor allem die Parteien gelten traditionell als zutiefst korrupt: Schon in Gandhis Kongresspartei oder Jinnahs Muslim League während der Unabhängigkeitsbewegung kam es immer wieder zu Bestechungsskandalen. Das politische Zentrum Indiens ist dabei genauso betroffen wie die Peripherie, die Stadt ebenso wie der ländliche Raum. Die Korruption dringt inzwischen auch tief in die moderne Geschäftswelt ein. Der durch die Liberalisierung der Ökonomie im Jahr 1991 entstandene Wirtschaftsboom hat das Problem eher noch vergrößert. Längst sind Bestechung und Vetternwirtschaft in den neuen Wirtschaftsbranchen wie Telekommunikation und Informationstechnologie Teil des Geschäfts.

In jüngster Zeit brachte eine Reihe aufsehenerregender Korruptionsfälle das Fass zum Überlaufen. Im Jahr 2009 kam es zu einem Eklat bei der Vergabe von Mobilfunklizenzen: 85 der 122 Lizenzen wurden damals illegal verkauft. Dem indischen Rechnungshof zufolge veruntreuten Behörden auf diese Weise Steuergelder in Höhe von rund 30 Mrd. Euro. Dieser Korruptionsskandal führte zwar zur Entlassung des zuständigen Ministers für Telekommunikation, Andimuthu Raja, wirksame Gegenmaßnahmen blieben jedoch aus. Die Regierungskoalition geriet deswegen unter politischen Druck und in eine handfeste Krise. Premierminister Manmohan Singh, der sogenannte Vater des indischen Wirtschaftsaufschwungs, verlor sein Image als vermeintlich sauberer Reformpolitiker.

Die Commonwealth Games im Jahr darauf wurden ebenfalls von zahllosen Korruptionsvorfällen heimgesucht, die dem internationalen Renommee des Landes enorm schadeten. Die Polizei nahm mehrere der Organisatoren wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten fest, darunter auch den leitenden Organisator der Spiele, Suresh Kalmadi, der kurz darauf aus der Kongresspartei ausgeschlossen wurde. Als zudem die Medien davon berichteten, dass indische Politiker und Geschäftsleute mehr als 1,4 Billionen US-Dollar ins Ausland, vor allem auf Schweizer Konten, verschoben hatten, wurde die Bekämpfung von Steuerflucht und Bestechlichkeit zu einem zentralen Wahlthema.

„Volksbewegung gegen Korruption“

Der indischen Gesellschaft sind die verschleppten Prozesse, die nachlässigen Untersuchungen und die mangelhafte Rechenschaftspflicht der Mächtigen schon lange ein Dorn im Auge. Größere Korruptionsvergehen werden selten mit einem angemessenen Strafmaß abgegolten. Unklare Gesetze und Regelungen sowie komplizierte administrative Verfahren tragen ebenfalls erheblich dazu bei, dass Angestellte des öffentlichen Diensts oder der Privatwirtschaft meist mit milden Strafen davonkommen. Korruption ist in Indien somit eine ziemlich risikoarme Angelegenheit. Gleichzeitig müssen einfache Bürgerinnen und Bürger bei Behördengängen zur Beschleunigung ihrer Anliegen immer wieder spezielle „Steuern“ entrichten, was den Unmut in der Bevölkerung verstärkt und zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber der indischen Demokratie führt.

Bereits vor 20 Jahren nahm Anna Hazare all dies zum Anlass, in seiner Gemeinde in Maharashtra die lokale „Volksbewegung gegen Korruption“ ins Leben zu rufen. Doch erst Anfang 2011 zog er von dort nach Delhi, um fortan im Herzen der indischen Politik für die Verabschiedung eines neuen Anti-Korruptionsgesetzes zu kämpfen. Das große öffentliche Interesse gab ihm Recht: Binnen kürzester Zeit mobilisierte seine Kampagne tausende neuer Anhänger. Sie stammen vornehmlich aus der modernen, steuerzahlenden Mittelklasse, finden sich aber auch unter Schülern und Studierenden. Insbesondere die jungen Unterstützer trugen Hazares Botschaft mithilfe neuer Medien in andere Großstädte. Rasch entstand eine landesweite Protestbewegung, die auch die Unterstützung weiterer prominenter Sozialaktivistinnen, wie Medha Patkar und Kiran Bedi, fand.

Allerdings regte sich auch Widerspruch: Kritiker warfen Hazare vor, kein legitimer Vertreter des Volkes zu sein und sich lediglich populistischer Stimmungen zu bedienen. Auch die Sensationslust der heterogenen Anhängerschaft wie auch der Medien prangerten sie an, da öffentliche Aufmerksamkeit allein noch keine Veränderungen erwirke.

Doch der Zuspruch war am Ende weit größer als die Kritik: Verschiedene Medien stellten sich – auch aus ökonomischem Eigeninteresse – auf die Seite der Protestierenden. Sogar ein selbst von Korruption betroffenes Mumbaier Medienhaus unterstützte Hazare. Im August dieses Jahres erlebte die Bewegung schließlich ihren Höhepunkt: Infolge der Verhaftung Hazares aufgrund seines Hungerstreiks kam es zu landesweiten Protestwellen. Diese veranlassten die Regierung schließlich, mit einem Komitee – dem Team Hazare – ein neues Anti-Korruptionsgesetz (Jan Lokpal Act) zu verhandeln.

Kampf gegen Windmühlen

Trotz dieses Erfolges ist bislang völlig offen, ob und wie die Politik gegen Bestechung und Vetternwirtschaft vorgehen wird. Gerade die politischen Institutionen und Parteien haben sich im Kampf gegen die Korruption bisher nicht bewährt, im Gegenteil: Sie stehen diesem in aller Regel noch immer im Wege.

In erster Linie bräuchte Indien daher eine Reform des Wahlrechts. Denn die Finanzierung der Parteien und ihrer Wahlkampfkampagnen ist in hohem Maße intransparent, was geradezu zu Korruption einlädt, anstatt sie zu verhindern. Indischen Medien zufolge haben rund 30 Prozent der Parlamentarier einen kriminellen Hintergrund und saßen wegen verschiedener Gesetzesvergehen teilweise auch schon hinter Gittern.

Infolge mangelnder Transparenz der politischen Institutionen erhalten die Bürgerinnen und Bürgern nur spärliche Informationen über die Kriterien, nach denen staatliche Behörden öffentliche Aufträge vergeben, Land zuweisen oder Grundstücke aus privater Hand erwerben.

Schließlich fehlt es auch an Einrichtungen, die Korruptionsbeschwerden aus der Bevölkerung entgegennehmen und Verdachtsfällen nachgehen. Eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Korruption müsste eigentlich dem Central Bureau of Investigation (CBI) zukommen, dem indischen Äquivalent des amerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI). Dessen Anti-Korruptions-Abteilung weist allerdings nicht nur veraltete Strukturen auf, sondern sie unterliegt obendrein politischer Kontrolle und ist massiv unterbesetzt. Im Vergleich zu den über 35 000 Beschäftigten des FBI verfügt das CBI darüber hinaus lediglich über 5100 Mitarbeiter – bei einer Gesamtbevölkerung von über 1,2 Milliarden Menschen allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Der indischen Regierung sind die unhaltbaren Zustände durchaus bekannt: CBI-Direktor Singh hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Buchhaltungs-, Finanz- und Steuerexperten fehlen, um erfolgreich gegen Kriminalität im Finanzsektor und Steuerflucht vorzugehen. Sein Vorgänger Raghavan unterstellte der Regierung gar, die Reform des CBI gezielt zu vernachlässigen, da ihr die Ineffizienz der Ermittlungsbehörde gelegen komme.

Trotz dieser kritischen Lage sind erste Schritte in die richtige Richtung zu erkennen, nicht zuletzt dank der Bewegung um Anna Hazare. Allerdings fehlt dieser bislang noch eine klare Vorstellung – und Verständigung – über das angestrebte Ziel: Reicht der Erlass neuer Strafgesetze oder geht es letztlich um eine ethische Neuordnung der zutiefst korrupten indischen Gesellschaft?

Vorangegangene überregionale Anti-Korruptionskampagnen führten in der Regel zu einem Rechtsrutsch im politischen Gemeinwesen Indiens – eine Gefahr, die durch den rechtgläubigen Ansatz Hazares, seine meist eher konservative Anhängerschaft aus der städtischen Mittelklasse sowie obendrein aus teils reaktionären, religiösen Kreisen derzeit noch verstärkt wird. Hier wird zugleich das entscheidende Manko der Bewegung deutlich: Bisher wird der Protest vor allem durch die Zivilgesellschaft und die Presse vorangetrieben. Was fehlt, ist der aktive Wille der Politik und Wirtschaft, die dunklen Ecken der Vetternwirtschaft tatsächlich auszuleuchten. Doch ohne eine kritische Masse an Politikern und Geschäftsleuten, die aktiv gegen korrupte Handlungen und Bestechlichkeit vorgeht, werden auch die von Hazare geforderten Institutionen und Ombudspersonen kaum etwas gegen die schier übermächtige Korruption ausrichten können. Erst wenn sich die Gesellschaft von der Vetternwirtschaft löst und der Staat die Korruption tatsächlich bekämpft, wird die indische Anti-Korruptionsbewegung am Ende erfolgreich sein.

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