Ausgabe August 2013

Inklusion: Das gebrochene Versprechen

Bild: nailiaschwarz / photocase.com

Mit der Unterzeichnung der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ hat sich die Bundesrepublik verpflichtet, für ein inklusives Bildungssystem zu sorgen. Während die Bundesländer die Zahl der inklusiv lernenden Kinder erhöhen, wird jedoch über die Frage, ob die konkrete Umsetzung den Kindern tatsächlich zugute kommt, zu wenig debattiert, kritisiert die Lehrerin Uschi Nienhaus-Böhm. 

Während Parteien und Verbände, Hochschullehrer, Pädagogikexperten und Journalisten intensiv über Inklusion diskutieren und Politiker deren möglichst kostengünstige Umsetzung fordern, ist es an meiner integrierten Gesamtschule seltsam still. Die Kolleginnen und Kollegen, die die Pläne am Ende ausführen sollen, verhalten sich abwartend. Das liegt nicht nur daran, dass die Politik offenbar keinen Wert darauf legt, unsere Meinung zu hören und unsere Erfahrungen in ihre Planungen und Debatten einzubeziehen. Die Gründe, warum sich das Lehrpersonal passiv verhält, sind vielfältig.

Manche Kolleginnen haben resigniert und sind davon überzeugt, dass sie sowieso keinen Einfluss auf die Politik und deren Umsetzung nehmen können. Andere sind durch den Schulalltag erschöpft und fühlen sich durch zusätzliche Debatten und Aktivitäten überfordert. Das ist nur allzu verständlich: Sie unterrichten viel zu große Integrationsklassen mit 26 Kindern und sind die Hälfte der Stunden auf sich allein gestellt, ohne sonderpädagogisch ausgebildet zu sein oder entsprechend bezahlt zu werden. Sie müssen fünf behinderte und all die anderen hilfsbedürftigen Kinder unterstützen und sollen gleichzeitig für eine ruhige Arbeitsatmosphäre sorgen. Während ihnen schon die Zeit für die „offiziell“ Behinderten fehlt, sind in den Klassen meist noch ein oder zwei weitere Kinder mit Lernschwierigkeiten, auch wenn ihnen kein Förderbedarf attestiert wurde. Außerdem verfügen nicht selten weitere sechs bis acht Kinder, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, nur über minimale Deutschkenntnisse und sind kaum in der Lage, einen einfachen Text selbstständig zu lesen und erst recht nicht zu formulieren. Ihnen soll ebenso geholfen werden wie dem Schüler, der sich und seine Mitschüler durch Aggressivität und ständigen Lärm vom Lernen abhält. Neben diesen förderungsbedürftigen Kindern gibt es schließlich noch eine kleine Gruppe leistungsstärkerer Schülerinnen und Schüler. Von denen jedoch besuchen einige nur deswegen diese Schule, weil sie verhaltensauffällig oder durch besondere Probleme belastet sind und die Grundschule hoffte, dass die Gesamtschule ihnen mehr Hilfe anbieten würde als ein Gymnasium.

Selbst wenn man zu zweit unterrichtet, ist der Alltag aufreibend, und es ist erstaunlich, wie viele Lehrer es dennoch schaffen, ein gutes und integratives, soziales Unterrichtsklima herzustellen. Gerade die engagierten Kolleginnen und Kollegen sind zusätzlich einem hohen moralischen Druck ausgesetzt, denn sie fühlen sich „ihren“ Kindern verpflichtet. Daher versuchen sie, offensichtliche Missstände durch erhöhten Einsatz sowie Mehr- und Sozialarbeit wettzumachen. Doch das schlechte Gewissen und das ständige Gefühl, den Kindern und ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, verlässt sie trotzdem nicht.

Aber auch „Pädagogikexperten“, die den Alltag an integrativen Schulen selbst oft nicht kennen, geschweige denn diesen bewältigen müssen, erteilen ihnen wohlfeile Ratschläge: Alles werde besser, wenn sie nur vielfältige didaktische Methoden einsetzten und den Unterricht richtig zu individualisieren verstünden. Es komme nur auf die richtige Haltung an, dann werde die Inklusion schon gelingen. Damit jedoch machen sie für pädagogische Misserfolge allein die Lehrer verantwortlich und lenken von den eigentlichen Ursachen der ständigen Überforderung und der schulischen Misere ab.

Zusätzlich stehen die Lehrerinnen und Lehrer ständig unter dem Druck, die Inklusion um jeden Preis als Erfolgsmodell darstellen zu müssen und fragwürdige Aspekte ihrer Arbeit nicht nach außen dringen zu lassen. Denn dadurch kämen sie schnell in den Verruf, Bedenkenträger oder Inklusionsgegner zu sein und damit ihrer Schule zu schaden. Wer daher kritische Fragen stellt oder die Meinung vertritt, dass ein edler moralischer Anspruch allein nicht ausreicht, um allen Kindern gerecht zu werden, sondern dass Inklusion nur unter guten Bedingungen zu erreichen ist, wird schnell missverstanden. Und wer von Beispielen einer nicht gelungenen Inklusion berichtet oder sogar bezweifelt, ob gemeinsamer Unterricht in einer zu großen Klasse immer und für alle das Beste ist, gerät leicht in den Verdacht, eine geschichtsvergessene oder rückständige Inklusionsgegnerin zu sein. Dabei gibt es gute Gründe anzunehmen, dass ein stark förderungsbedürftiges Kind manchmal in einer kleineren Gruppe mit Intensivbetreuung durch qualifizierte Fachkräfte wesentlich besser aufgehoben ist.

Doch leider ist nicht darauf zu hoffen, dass sich die Arbeitsbedingungen für Lehrer und die Lernbedingungen der Schüler verbessern werden. Im Gegenteil: Es steht zu befürchten, dass die illusionären Erwartungen an die Lehrerinnen und Lehrer noch weiter wachsen. Denn immer höheren Anforderungen stehen immer weniger finanzielle Mittel gegenüber.

»Es wird immer schwieriger, den Kindern gerecht zu werden, wenn man viel weniger Zeit hat.«

Schon in den letzten Jahren haben sich die Arbeitsbedingungen an unserer Schule aufgrund der Sparmaßnahmen der rot-grünen Regierung in NRW und damit die Lernchancen der Kinder stark verschlechtert: War zunächst von einer durchgängigen Doppelbesetzung die Rede und setzten sich unsere Integrationsklassen aus insgesamt 22 Kindern (18 + 4 behinderte Kinder) zusammen, schmolz die Doppelbesetzung bald auf nur noch 40 Prozent und die Klassengröße wuchs auf 26 Kinder (21 + 5) an.

Unterdessen diskutierte an unserer Schule ein hochkarätig besetztes Podium über Inklusion als qualitativ höheren Schritt der Integration. Schnell waren sich die Diskutanten einig: Über Anfangsschwierigkeiten müsse man hinwegsehen und öffentlicher Protest schade der ganzen Sache. Jetzt wird unsere Schule ministeriell für ihre integrative Arbeit gelobt und gleichzeitig mitgeteilt, dass die Klassenstärke im Namen der Gerechtigkeit und des Ausgleichs mit anderen Schulen auf 30 erhöht werden müsse. Doch es wird immer schwieriger, den Kindern gerecht zu werden, wenn man viel weniger Zeit für jedes Kind hat.

In Hamburg stieg die Zahl der an den Gemeinschaftsschulen angemeldeten Kinder mit einem Förderbedarf „Lernen und soziale Entwicklung“ (LSE) rapide an, allein im Zeitraum von 2011 auf 2012 von rund 30 auf 500. Bei ihnen soll künftig auf Diagnostik und auf sonderpädagogische Förderung verzichtet werden. Pädagogisch wohl klingend geht es angeblich darum, Kinder nicht länger als Sonderschüler zu etikettieren, tatsächlich wird gerade diesen Kindern der Anspruch auf eine qualitative Förderung genommen und auf ihre Kosten gespart. Stattdessen ist nur noch allgemein von Förderung die Rede. Die Förderstunden, die ihnen bisher zustanden, wurden zugleich gekürzt. Doch bloß weil man keinen Förderbedarf mehr attestiert, heißt das noch lange nicht, dass diese Kinder weniger Aufmerksamkeit benötigen als zuvor.

Zugleich werden im Interesse „allgemeiner Gerechtigkeit“ die Bedingungen an den bisherigen Integrationsschulen massiv verschlechtert und ein großer Teil ihrer bisherigen Ressourcen gestrichen. Von den 3,5 Sonderschullehrerstunden, die jedem LSE-Kind bisher zustanden, sollen nur noch 1,4 Stunden von fachlich ausgebildeten Sonderschulkollegen erteilt werden. Für die Lehrer bedeutet das, dass sie dann für insgesamt 19 Schülerinnen und Schüler in bis zu 5 Klassen zuständig sind.

In NRW fahren Sonderschullehrer bereits von Schule zu Schule. Unter diesen Bedingungen können sie weder eine stabile Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern noch zum jeweiligen Kollegium aufbauen. Ihre Arbeitsbedingungen verhöhnen damit jede sinnvolle Integrationsarbeit.

In Hamburg werden für die nunmehr eingesparten Stunden der Sonderpädagogen nun schlechter bezahlte und nicht spezifisch ausgebildete Erzieher oder Sozialpädagogen eingesetzt. Doch was noch viel gravierender ist: Diese werden nicht aus dem Etat der Stadt Hamburg bezahlt, sondern aus dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung. Den bedürftigen Kindern von Hartz-IV- und Sozialhilfeempfängern wird damit das eigentlich für andere Unterstützungsmaßnahmen vorgesehene Geld entzogen und anderweitig umverteilt.

Darüber hinaus wird den Förderschulen Geld für den Sprachförderunterricht genommen und an die neuen Inklusionsschulen umverteilt. Die therapeutische Arbeit läuft so Gefahr, aus der Schule ausgelagert und privatisiert zu werden. Das jedoch könnte dazu führen, dass gerade die wenig durchsetzungsfähigen Eltern sozial und emotional gestörter oder lernbehinderter Kinder ihre Ansprüche oft nicht verwirklichen können.

»Es geht um ein kostengünstiges Sparmodell und um ein besseres Image der Regierungen, nicht aber um bessere Lernbedingungen für alle Kinder.«

Die Hauruck-Einführung von Inklusion in allen Schulen zeigt, dass es eher um ein kostengünstiges Sparmodell und ein besseres Image für die Regierungen, nicht aber um bessere Lernbedingungen für alle Kinder geht. Denn wenn Inklusion erfolgreich sein soll, müssen die Rahmenbedingungen vorab präzisiert, müssen positive und negative Erfahrungen evaluiert und die Lehrer unbedingt einbezogen werden. Stattdessen versucht man nun, hastig und unter Druck dafür zu sorgen, die schlechte Integrationsstatistik der Bundesrepublik zu verbessern und die Maßgaben der UN-Konvention formal zu erfüllen, ohne jedoch zu fragen, ob dieses Vorhaben auch tatsächlich den Namen Inklusion verdient.

Wenn wir Lehrer nicht gefragt werden, dann sollten wir uns einmischen. Wir sollten sehr deutlich sagen, unter welchen Bedingungen Inklusion gelingen kann und wann sie scheitern muss. Wenn wir weitere Verschlechterungen hinnehmen, dann werden bislang erfolgreich arbeitende integrative Schulen und das Engagement der Lehrerinnen und Lehrer als Feigenblatt missbraucht, um anderen Schulen zu beweisen, dass Inklusion auch unter unzureichenden finanziellen und pädagogischen Bedingungen möglich ist. Dazu aber darf es nicht kommen.

Was wir brauchen, ist eine offene Inklusionsdebatte, in der auch gefragt wird, was schulische Inklusion in einer Gesellschaft bedeutet, die immer stärker ausgrenzt und es zulässt, dass ein großer Teil der Kinder mit der Erfahrung von Armut, Arbeitslosigkeit und geringen Aufstiegschancen aufwächst.

Können wir in einer Gesellschaft der Exklusion überhaupt von Inklusion sprechen? Und wie kann man ein Schulsystem, in dem Bildungschancen von Kindern in besonders starkem Maße vom sozialen und Bildungsstatus der Eltern abhängen, überhaupt inklusiv nennen?

Im Frühjahr 2012 wurde bekannt, dass die Stadt Köln die Neugründung etlicher inklusiver Gesamtschulen und Sekundarschulen plant, die Gymnasien aber von diesen Planungen unangetastet lässt.[1] Auch in Hamburg besuchen nur ganz wenige behinderte Kinder ein Gymnasium. Daran zeigt sich deutlich, dass die Inklusion behinderter Kinder ausschließlich die Aufgabe der Gesamt-, Sekundar- oder Gemeinschaftsschulen und der dort lernenden Kinder sein soll.

Ein Gymnasium mag sich als inklusiv verstehen, wenn ein behindertes Kind aus gutem Haus und mit guten Voraussetzungen es besucht. Doch ändern diese Einzelfälle nichts an der Tatsache, dass die Inklusion behinderter Kinder ganz offensichtlich zu Lasten jener Kinder geht, die selbst häufig sehr große soziale und schulische Probleme haben. Sie benötigen selbst dringend passende Lernbedingungen, um überhaupt eine Chance auf einen guten Schulabschluss zu haben.

»Die selbst von sozialer Exklusion bedrohten Kinder sollen die behinderten Kinder integrieren.«

Zugespitzt formuliert: Die selbst von sozialer Exklusion bedrohten Kinder sollen die behinderten Kinder integrieren. Während man an ihnen und ihren Schulen spart und Kinder überfordert, die eine ruhige Arbeitsatmosphäre und besonders viel Unterstützung nötig haben, sollen Gymnasien mit integrativem Lernen nicht weiter behelligt werden.

Das aber ist eine äußerst unsoziale Form der Inklusion, denn sie hält den Kindern der Besserverdienenden und traditionell Gebildeten den Rücken frei und verhindert das gemeinsame Lernen aller Kinder. Die bereits durch ihren sozialen Status Privilegierten sichern sich so alle Chancen im Kampf um die besten Arbeitsplätze und den sozialen Aufstieg, mit dem Ergebnis, dass sie letztlich die „Inkludierten“ abermals auch auf dem Arbeitsmarkt verdrängen. Wer nicht über die Absurdität von Inklusion im Rahmen einer ausgrenzenden Schulstruktur sprechen will, sollte über gesellschaftliche Inklusion gänzlich schweigen.

Äußerst fragwürdig ist es darüber hinaus, wenn Inklusion gesagt und Sparpolitik auf Kosten der ohnehin von Ausgrenzung Bedrohten gemeint ist. Wenn sozial oder emotional besonders hilfsbedürftige Kinder, die oftmals bereits Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung erlebt haben, am Ende auch die therapeutische Unterstützung und intensive Betreuung verlieren, die ihnen derzeit noch zusteht, dann wäre das eine gänzlich falsch verstandene Inklusion.

 

[1] Vgl. „Kölner Stadtanzeiger“, 26.4.2012.

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