Im 19. Jahrhundert war Spionage in England verpönt. Sie galt als französische Unsitte. Voller Abscheu sprach man über das Spitzelsystem, das Joseph Fouché als Polizeiminister nach der Großen Revolution unter wechselnden Regimes installierte. Auch in der Blütezeit des Empire wurde zwar spioniert, das Sammeln von Geheiminformationen war entscheidend für den Zusammenhalt des Weltreichs. Aber man schwieg. Erst Rudyard Kiplings Indien-Roman Kim (1901) machte das Metier literaturfähig. Es half, dass Kipling es „The Great Game“ nannte und so an den Sportsgeist appellierte.
Seither hat die Spionage im Vereinigten Königreich eine große literarische und filmische Tradition generiert, die auf zwei komplementären englischen Obsessionen
ischen Obsessionen beruht: Geheimniskrämerei und Lust an der öffentlichen Entlarvung. Das Unterbewusstsein einer Nation, sagt der enttarnte Maulwurf am Ende von John Le Carrés Dame, König, As, Spion, spiegelt sich in nichts so deutlich wie im Geheimdienst. In Frankreich verfügt das Sujet zwar über eine schmalere Tradition, über die Gefühlslage der Nation gibt es aber ebenso Aufschluss.Le Carré lässt in jenen Romanen, die er nach dem Kalten Krieg geschrieben hat, das Verkennen der eigenen geopolitischen Bedeutung, die post-imperiale Selbstüberschätzung Großbritanniens kenntlich werden. Auch Frankreich hat zwar seine Kolonien eingebüßt, den Einfluss der eigenen Kultur veranschlagt die Nation aber nach wie vor hoch. Noch immer versteht es sich als Schutzmacht der frankofonen Länder; zumal in Afrika. Keine Kinofigur verkörpert diesen Hochmut so treffend wie der eitle Geheimagent OSS 117, den Jean Dujardin in einer Serie ulkiger Genreparodien spielt.Eine Frage der MoralIm französischen Thriller Die Möbius-Affäre von Éric Rochant wagt Dujardin nun einen ernsten Gegenentwurf zu seiner Paraderolle. Er verkörpert einen russischen Spion, der eine risikofreudige Traderin (Cécile de France) einspannen soll, um einem Oligarchen (Tim Roth) das Handwerk zu legen. Die französische Kritik hielt Rochants Film vor, er würde sich zu sehr an angloamerikanischen Vorbildern orientieren. Der Vorwurf traf schon seinen ambitionierteren Spionagefilm Les Patriotes (Staatsauftrag: Mord, 1994) über einen jüdischstämmigen Franzosen, der in den Dienst des Mossad tritt. Dagegen muss man Rochant verteidigen. Sein Erzählrhythmus und seine moralische Fallhöhe sind weit entfernt von Hollywoods Sensationsdramaturgie. Suspense-Szenen sind altmodisch sorgfältig eingefädelt; im Kern ist Die Möbius-Affäre ein romantischer Thriller. Wie im französischen Gangsterfilm ist das Handeln der Spione zuerst eine Frage persönlicher Moral. Ihr Idealismus wird weniger oft als naiv desavouiert als in angloamerikanischen Filmen. Das liegt auch daran, dass die französischen Geheimdienste ihre modernen Wurzeln in der Résistance sehen.Das lässt ihre Agenten nicht weniger rücksichtslos erscheinen. Das französische Kino betrachtet sie mit paranoider Hellsicht, sucht stets die Zeitaktualität. Die Komödie Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh mit Pierre Richard führt grimmig vor Augen, welch zersetzenden Terror ein kalter Überwachungsapparat ausübt. Wer den Film gesehen hat, wundert sich nicht, dass Frankreich beim systematischen Ausspähen moderner Kommunikationsmittel gehörig mitmischt. Unrühmliche Aktionen – etwa die Ermordung des marokkanischen Oppositionspolitikers Ben Barka oder die Versenkung des Greenpeace-Schiffs „Rainbow Warrior“ – schlugen sich bald in Filmen nieder. Arnaud Desplechin reagiert 1992 in La Sentinelle (Die Wache) unmittelbar auf den Legitimationsverlust der Geheimdienste nach dem Mauerfall und zeichnet das intime Stimmungsbild einer Übergangszeit. Die Möbius-Affäre nun reagiert auf die Finanzkrise, seine Heldin war angeblich – es kann ebenso gut eine Legende sein, die ihr der Geheimdienst angehängt hat – schuldhaft in den Lehman-Brothers-Skandal verstrickt.Im Gegensatz zu Großbritannien, dessen bedingungslose Ankopplung an die USA John Le Carré stets spöttisch schildert, stellt sich Frankreich in der Regel als widerspenstiger Bündnispartner dar. Das Kino folgt hier Charles de Gaulles Diktum, Staaten hätten keine Freunde, sondern nur Interessen. In L’affaire Farewell (2009), der in den Achtzigern spielt, macht Ronald Reagan mehrfach seinem Ärger Luft, die letzten französischen Wahlen seien nicht nach Wunsch verlaufen: Mitterand hat gar die Dreistigkeit besessen, Kommunisten in sein Kabinett zu berufen. Der sowjetische General, der in Moskau eine Liste von Doppelagenten an einen französischen Ingenieur weitergibt, tut dies nicht zuletzt auch aus Liebe zur französischen Kultur.In Les Patriotes ködert ein Mossad-Agent einen Informanten aus der NSA; Éric Rochants Film war 1993 einer der ersten, der diesen Dienst als den weit mächtigeren zeigt und die CIA links liegen lässt. In Agents Secrets – Im Fadenkreuz des Todes (2004) von Frédéric Schoendorffer stehen beide Mächte auf feindlichen Seiten. Und in Die Möbius-Affäre erscheinen die alten KGB-Kader nun sympathischer als ihre Gegenspieler bei der CIA. Edward Snowden wird das womöglich verstehen.