An die Friseurinnen hat die Union offenbar nicht gedacht, als sie sich gestern zu aller Überraschung mit ihrer Schwester CSU über den Mindestlohn einigte. Auch nicht an all die anderen, meist weiblichen Berufstätigen, die zu unzumutbaren Stundenlöhnen Dienst an der Gesellschaft tun. Denn soweit Tarifverträge den schlechten Status quo besiegeln, will das von Ursula von der Leyen vorgelegte Konzept überhaupt nicht eingreifen.
Vielmehr wird die Arbeitsministerin nicht müde zu betonen, „keinen politischen Mindestlohn“ auf den Weg bringen zu wollen, sondern nur eine „marktwirtschaftlich organisierte Lohnuntergrenze“ in all jenen Branchen, in denen es keine tarifvertraglich festgelegte Vergütung gibt. Ausgehandelt werden soll sie von Arbeitgebern und den Gewerkschaften, und zwar orientiert an den bereits bestehenden Grenzen von 6,89 Euro im Osten und 7,79 Euro im Westen; wobei im Jahr 23 nach der Deutschen Einheit niemand wirklich zu erklären vermag, warum selbst in diesem Fall das nationale „Lohnabstandsgebot“ zwischen Ost und West noch Bestand haben soll.
Dass ein Mindestlohn in dieser Höhe unzureichend ist, betonen nicht nur die Gewerkschaften. Der DGB fordert wie die SPD einen Mindestlohn von 8,50 Euro, und zwar flächendeckend für alle Branchen. Es ist auch nicht sonderlich erstaunlich, dass die Unternehmen von der ganzen Aktion nichts halten und die FDP in ihrem harten Widerstand unterstützen. Bemerkenswerter ist schon, dass die Grünen den Geringverdienern auch nur 7,50 Euro zugestehen wollen. Und am meisten überrascht, dass die Kanzlerin den Mindestlohnstreit mit der CSU ausgerechnet jetzt schlichtet, kurz vor zwei entscheidenden Landtagswahlen und inmitten der Querelen mit der FDP. Hat die Union mit ihrem Koalitionspartner mit Vorratsdatenspeicherung, Frauenquote und Betreuungsgeld nicht schon genügend Zoff am Hals? Was reitet die Kanzlerin, ihn nun noch einmal derart zu brüskieren?
Aufgefrischte Morgenluft
Ein Hinweis findet sich in Saarbrücken: Dort wurde etwa zeitgleich die große Koalition mit einem Vertrag besiegelt, der unter anderem auch den Umgang mit dem Mindestlohn thematisiert. Die Landesregierung, heißt es darin, wolle sich „einer Verbesserung des Status quo nicht verweigern“ und eventuelle Neuregelungen im Bund im Bundesrat unterstützen. Da scheint doch vom äußersten Westen eine großkoalitionär aufgefrischte Morgenluft via Berlin zu ziehen. Der Zwergenstaat übt schon mal ein, was bald auf uns kommt.
Angela Merkel hat innerhalb ihrer politischen Experimentalsysteme, soweit sie sich nicht auf globale Versuchsanordnungen wie Bankenkrise und Staatsbankrotte bezogen, immer überraschend erfolgreich agiert. Verfehlt die FDP den Einzug in die beiden Landtage – insbesondere aber in NRW –, ist die Koalition eigentlich nicht mehr zu halten. Schafft es der zur Hoffnungsikone stilisierte Christian Lindner aber wider Erwarten doch, ist bei den Freidemokraten ein kleines Erdbeben programmiert, mit ungewissem Ausgang auch für die Regierungskoalition. Fällt Rösler als FDP-Vorsitzender in den Abgrund, ist er auch als Wirtschaftsminister nicht mehr zu halten. Solchen Szenarien baut die Kanzlerin vor, indem sie die Autobahn zur SPD planiert. Ein Teilstück heißt dabei Mindestlohn. Wenn sich Unternehmen und Gewerkschaften gar nicht einigen können, will es der Entwurf von der Leyens, wird per Losverfahren ein Schlichter eingesetzt. Es scheint so, dass das Koalitionszerwürfnis nur noch durch den wählenden Souverän geschlichtet werden kann. Wer da dann welches Los zieht, ist tatsächlich offen.