Ausgabe Juni 2014

Macht ohne Rechenschaft: Der globale Lobbyismus

Es gibt Formen der Macht, die keinerlei Rechenschaftspflicht unterliegen, über deren Aktivitäten niemandem Bericht erstattet werden muss und die schwer zu durchschauen sind. Aus diesem Grund fällt es ebenso schwer, ihnen entgegenzuwirken. Weil diese illegitime Macht oft unterschwellig daherkommt, ist sie schwer zu greifen. Sie heißt nicht „Macht“, resultiert nicht aus förmlichen Beschlüssen und wird von denen, die sich ihr – wissentlich oder nicht – unterwerfen, häufig gar nicht als Unterdrückung wahrgenommen. Die illegitime Macht, von der ich hier spreche, meint nicht Tyranneien, Diktaturen, autoritäre Einparteiensysteme, afrikanische Statthalter oder dergleichen. Im Folgenden geht es um die Macht der ganz großen Konzerne, wobei ich, dem Sprachgebrauch der Vereinten Nationen folgend, die Bezeichnung „transnationale Konzerne” oder TNC der Rede von „multinationalen” Konzernen oder „Multis” (MNC) vorziehe.

Die Liste der Beispiele für illegitime Machtausübung wächst unaufhörlich und könnte viel länger ausfallen als im vorliegenden Artikel. Nichtsdestotrotz hoffe ich veranschaulichen zu können, dass und wie illegitime Konzernmacht mittlerweile auf jeder Ebene der Regierungstätigkeit zunehmend Platz greift, die internationale Sphäre eingeschlossen; dass sie der Demokratie schweren Schaden zufügt und unsere Länder, unseren Lebensalltag verändert, ganz besonders, wenn wir in westlichen Demokratien leben.[1]

Tatsächlich lässt sich empirisch belegen, dass illegitime Machtausübung um sich greift und dass die Demokratie allmählich der Infektion durch die neoliberale Ideologie erliegt. Immer mehr Funktionen einer legitimen Regierungsausübung gehen an nicht legitimierte, nicht gewählte, undurchsichtige Akteure und Organisationen über. Dies geschieht auf allen Ebenen, der nationalen ebenso wie der regionalen und der internationalen.

Beginnen wir mit der einfachsten Form, ja geradezu dem Ursprung unternehmerischer Einflussnahme: mit dem sogenannten Common bzw. Garden Lobbying. Ihren Namen erhielt diese Praxis von der Lobby des britischen Unterhauses, in der Männer mit spezifischen Interessen und oftmals mit dicken Briefumschlägen herumlungerten, um sich den hereinkommenden oder hinausgehenden Abgeordneten aufzudrängen.

Die Offensive der Konzerne

Diese Praxis ist bereits Jahrhunderte alt, und heute gehören ihre nicht gewählten Vertreter im politischen Geschäft wie selbstverständlich dazu. Sie kennen sich mittlerweile bestens aus und treten als quasi-legitime Akteure auf. Ihre Büros belegen ganze Stadtviertel in Washington (etwa in der K Street) ebenso wie im Brüsseler EU-Quartier. In vielen Fällen sind sie durch die „Drehtür” gekommen und wissen deshalb nach einer Karriere in der Politik besser als irgendwer sonst, an wen man sich wenden muss und wie man Kommissare oder Parlamentarier umstimmt. Sie haben ihre Methoden verfeinert, werden besser denn je bezahlt und können Ergebnisse vorweisen. Und Lobbyismus lohnt sich: Eine Untersuchung der Sunlight Foundation in den Vereinigten Staaten ergab, dass US-Firmen, die in Lobbyaktivitäten investiert hatten, im Vergleich zu anderen weniger Steuern zahlten.

Immerhin müssen Lobbyisten in den USA ihre Tätigkeit anmelden, sich in ein Kongress-Register eintragen lassen und offenlegen, was sie verdienen und wer sie bezahlt. In Brüssel ist die Registrierung indes „freiwillig” – wahrlich ein Witz, wenn man bedenkt, dass im Umfeld der EU-Institutionen 15-20 000 Lobbyisten herumgeistern und tagtäglich nonstop auf Kommissionspersonal und Parlamentarier einreden. Britischen Boulevardblatt-Reportern gelang es einmal, ein paar osteuropäische Abgeordnete des EU-Parlaments zur Annahme von Bestechungsgeldern zu verleiten, die angeblich dem Kauf ihrer Stimmen dienten. Als dann die Aufmerksamkeit des lesenden Publikums geweckt war, machten die betreffenden Parlamentarier sich umgehend aus dem Staub.

Um seine Reputation besorgt, forderte das Europäische Parlament in der letzten Legislaturperiode EP-Präsident Martin Schulz auf, eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag einzurichten, das völlig unzureichende europäische „Transparenzregister” zu überarbeiten. Mitte 2012 wurde diese Gruppe auch in aller Form gegründet, doch danach geschah weiter nichts. Warum diese Transparenz-Gruppe so gar nicht vorankam, wurde seinerseits transparenter, als das deutsche Wochenmagazin „Der Spiegel” im Oktober 2013 enthüllte, der Gruppenvorsitzende Rainer Wieland, ein deutscher Christdemokrat im EP, sei als Mitglied einer Brüsseler Rechtsanwaltssozietät nebenbei selbst Lobbyist. Die Lobbyarbeit in Brüssel besteht heutzutage nicht bloß aus Public Relations – die Stadt wird von Rechtsanwaltsfirmen geradezu überlaufen, die für ihre Kundschaft vorteilhafte Gesetzentwürfe und Rechtsstrategien austüfteln. Und diese Firmen verabscheuen eine Registrierung nachweislich ganz besonders. Kein Wunder, dass Wieland nichts dafür tat, sie umzustimmen.

Das Kombi-Abo der »Blätter«

Derzeit ist noch offen, welche Konsequenzen Martin Schulz aus den Erkenntnissen zieht. Fest steht indes, dass nach und nach das zweifelhafte, um nicht zu sagen lächerliche Manövrieren der Kommission und der Mitgliedstaaten aufgedeckt wird. Der Schleier der Geheimhaltung, der die Aktivitäten der Lobbyisten umhüllt, erweist sich langsam als fadenscheinig. Selbst einigen der Firmen, die sich registrieren ließen, wurde inzwischen nachgewiesen, dass sie ihre tatsächlichen Aktivitäten und Einnahmen um den Faktor zehn untertrieben gemeldet haben. „Le ridicule tue“, sagen die Franzosen – Lächerlichkeit tötet. Man kann nur hoffen, dass das Lobbyisten-Register bald nicht mehr als Gegenstand des Gespötts herhalten muss.

Wachstumsbranche Lobbyismus

Weniger bekannt als die Lobbyarbeit einzelner TNCs sind die branchenübergreifenden „Institute“, „Stiftungen“, „Zentren“, „Räte” oder „Councils” für unterschiedliche Produktgruppen, deren Zahl rasch wächst und die ihren Sitz oft in Washington haben, manchmal aber auch weltweit operieren. Sie konzipieren im Auftrag von Konzernen neue Gesetze und beseitigen jegliche rechtliche Regelungen, die deren Interessen zuwiderlaufen. Zu diesem Zweck rechtfertigen sie Alkoholika, Tabak, Junkfood, Chemikalien, Pharmazeutika, Emittenten von Treibhausgas etc. Anders als die klassischen Lobbyisten bedienen sie sich oft ideologischer Waffen: Sie engagieren willfährige Wissenschaftler, die keinesfalls je einen Interessenkonflikt offenlegen, und lassen sie „Untersuchungen“ oder populärwissenschaftliche Artikel mit dem Ziel schreiben, die Öffentlichkeit zu verunsichern – selbst im Hinblick auf bestens belegte Erkenntnisse der Wissenschaft. Sie behaupten, gewisse Forschungsergebnisse seien „umstritten“, auch wenn diese in Wahrheit unstrittig sind – oder die angebliche Debatte von den Lobbyisten selbst künstlich angezettelt wurde.[2]

Die Lobbyeinrichtungen gründen vorgebliche Graswurzel- oder Bürgerinitiativen mit dem Auftrag, ihre Produkte oder Ideen zu verfechten. Zumeist behaupten sie, die „freie Wahl“ der Verbraucher sei bedroht durch den „vormundschaftlichen Staat“: Dieser versuche für die Bürger zu entscheiden. Um bestimmte Maßnahmen zu rechtfertigen oder abzuwehren, lancieren sie Petitionen und sammeln Unterschriften, wobei diese bei näherem Hinsehen vor allem von Firmenmitarbeitern stammen, deren Stellen davon abhängen, dass sie unterschreiben. Sie wenden Einschüchterungstechniken an, etwa nach dem Muster „Dieses Gesetz wird die Produktionskosten steigern und zu höheren Preisen und/oder Arbeitsplatzverlusten führen.“ Sie verstehen sich auch darauf, Themen so aufzubereiten, dass sie als echte „Nachrichten” durchgehen können, obwohl es sich de facto um Propaganda handelt.

So gelang es etwa dem Center for Consumer Freedom unter der Leitung des versierten PR-Gurus Richard Berman, Vorschriften gegen das Rauchen in öffentlichen Räumen auf Jahre hinaus aussetzen zu lassen. Derselbe Berman hat sich auch für die Hersteller alkoholischer Getränke und von Junkfood in die Bresche geworfen sowie gewerkschaftsfeindliche Kampagnen für große Konzerne konzipiert. Die Leugner des Klimawandels arbeiten mit den gleichen Methoden. Eine ihrer von Öl- und Autoindustrie finanzierten Organisationen verkündete nach dem Scheitern der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen auf ihrer Internetseite sogar, da sie ihren Zweck erfüllt habe, werde sie sich nunmehr auflösen. Tatsächlich haben diese Leute in vieler Hinsicht ihr Ziel erfüllt – der Klimawandel findet heute weit weniger Medienaufmerksamkeit und beunruhigt die Öffentlichkeit – zumindest in den Vereinigten Staaten – deutlich weniger als vor 2009.

Kurzum: Man muss sorgfältig prüfen, wer eine auf den ersten Blick gemeinwohlorientierte und seriöse Einrichtung finanziert, bevor man irgendetwas von dem glaubt, was sie verkündet. Für Normalbürger ist das durchaus keine einfache Aufgabe.[3]

Der Triumph der Banken und Finanzdienstleister

Für die Finanzbranche ergibt sich ein ähnliches Bild. Seit Mitte der 90er Jahre haben sich die größten Bank-, Kredit-, Versicherungs- und Accounting-TNCs der USA zusammengetan und, mit 3000 eigens zu diesem Zweck eingestellten Fachkräften, fünf Mrd. US-Dollar dafür verwendet, sich alle unter Roosevelt in den 30er Jahren in Kraft gesetzten New-Deal-Gesetze vom Hals zu schaffen – also ebenjene Gesetze, die der amerikanischen Volkswirtschaft über 60 Jahre hindurch Schutz geboten hatten. Dieser kollektive Lobby-Kraftakt verschaffte ihnen die uneingeschränkte Freiheit, alle verlustbringenden Posten aus ihren Bilanzen zu löschen und in Schattenbanken zu verschieben. Sie erlangten die Freiheit, toxische Finanzderivate im Nennwert von hunderten Milliarden Dollar zu erfinden und zu verkaufen, ganze Bündel fauler Hypotheken beispielsweise – ohne einer Regulierung zu unterliegen.

Die Folgen waren, wie jedermann weiß, verheerend. Doch die Demokratie blieb außen vor und bot keine Antworten. So haben seit 2007 an die zehn Millionen Familien in den Vereinigten Staaten ihre Häuser verloren. Dass es die Bank oder die Hypothekenfirma war, die ihnen ihr Haus nahm und sie auf die Straße setzte, wissen sie nur allzu gut. Doch die meisten haben keine Ahnung, wie es tatsächlich zu der Krise kam – oder warum der Kongress nichts unternahm, sie zu verhüten oder nach ihrem Ausbruch Abhilfe zu schaffen. Zwar gab es im Kongress mehrere Gesetzesinitiativen, die solchen Leuten hätten helfen können, in ihren Häusern zu bleiben. Keiner dieser Vorschläge wurde jedoch umgesetzt. Bedauerlicherweise gab es auch keine kollektive Organisation zur Verteidigung der neuen Obdachlosen, deren Druck die Politik zum Handeln gezwungen hätte.

Der nächste große Crash

Derweil dürfen Banken und Anleger weiter verfahren wie bisher. Wenig oder gar nichts ist seit dem Absturz von Lehman Brothers geschehen, das Finanzwesen zu re-regulieren. Im Gegenteil macht der Derivatehandel mittlerweile sogar an die 2 300 000 000 000 Dollar (2,3 Billionen) Umsatz pro Tag – ein Drittel mehr als vor der Krise. Das ultraschnelle Flash Trading, also der automatisierte Devisenhandel, der gänzlich über Computer und Algorithmen abgewickelt wird, liegt sogar um die 50 Prozent über dem Vorkrisenniveau. Die Laissez-faire-Attitüde der Finanzindustrie gegenüber schürt die Glut der nächsten Krise. Diese wird, das lässt sich sicher voraussagen, noch schlimmer ausfallen als die letzte. Tatsächlich ist mathematisch belegt, dass uns das Schlimmste erst noch bevorsteht und dass die Konzerne eben dabei sind, die nächste Krise auszubrüten. Drei Mathematiker vom Polytechnischen Institut der Technischen Hochschule Zürich, Spezialisten der Komplexitätstheorie, haben eine bemerkenswerte Untersuchung mit dem Titel „The Network of Global Corporate Control” vorgelegt. Diese zeichnet die Verbindungen tausender Transnationaler Konzerne untereinander akkurat nach. Ausgehend von den Daten zu 43 000 Unternehmen arbeiten sie schrittweise die Eigentumsbeziehungen heraus. Es ergibt sich eine „Kerngruppe” aus 147 Firmen, die 40 Prozent des wirtschaftlichen Gesamtwerts aller erfassten Unternehmen kontrolliert. Die graphische Darstellung sieht wie eine astronomische Karte des Nachthimmels aus, mit schwach leuchtenden Galaxien und strahlenden Sternen, aber auch einigen Supernovae. Verbindungslinien führen zu Dutzenden ebenfalls kartierter Sterne. Um zur Kerngruppe zu zählen, muss ein Unternehmen mindestens 20 Verbindungen besitzen.

Die schockierende Schlussfolgerung dieser Mathematiker[4] findet sich im Anhang ihrer Studie. In ihm sind die 50 am engsten miteinander verflochtenen Unternehmen aufgelistet, welche das von den Forschern sogenannte Knife-Edge Property verkörpern – also sozusagen für einen Balanceakt auf Messers Schneide stehen. Die dichte Verflechtung bedeutet nämlich zugleich „Anfälligkeit für systemische Risiken“. Das wiederum heißt: „Während das Netzwerk in guten Zeiten robust erscheint, geraten diese Firmen in schlechten Zeiten alle zugleich in Gefahr.” Von den 50 am engsten miteinander verbundenen und infolgedessen risikoanfälligsten Unternehmen der Züricher Liste sind 48 Banken, Hedgefonds oder andere Finanzunternehmen. Mit anderen Worten: Der nächste große Crash ist – auch dank des erfolgreichen Agierens der TNCs – nur eine Frage kürzester Zeit.

Dieser nächsten großen Krise wurde nicht zuletzt in Brüssel der Weg geebnet. Hier treffen tagtäglich Dutzende mit TNC-Spitzenleuten besetzte „Expertenkomitees” mit Kommissionsbeamten zusammen – praktisch ohne jede Beteiligung von Umwelt- oder Watchdog-Organisationen. Sie sind beauftragt, für jeden erdenklichen Politikbereich detaillierte Gesetzentwürfe auszuarbeiten.

Über der Myriade von „Sachverständigengruppen“ steht, obwohl durchaus mit ihnen vergleichbar, das International Accounting Standards Board (IASB), das zweifellos 99 Prozent der EU-Bürger gar nicht kennen dürften. Das Board geht auf ein Gremium zurück, das die EU vor ihrer Erweiterung auf 27 Mitgliedstaaten ins Leben rief. Konfrontiert mit dem Albtraum von 27 verschiedenen Aktienmärkten und einer Vielzahl von Bilanzierungsregeln suchte sie die Hilfe einer Ad-hoc-Gruppe von Beratern aus den vier großen transnationalen Accounting-Firmen.

In den Folgejahren mutierte diese Gruppe geräuschlos zu einer amtlichen Agentur, dem IASB eben. Nach wie vor mit Talenten der Großen vier besetzt, bestimmt sie seither die Regeln für 55 Mitgliedstaaten, für ganz Europa, aber auch für Australien. Amtliche Würden erlangte der IASB aufgrund der Bemühungen eines nicht gewählten EU-Kommissars, eines neoliberalen Iren namens Charlie MacCreevy, auch er ein gecharterter Berater. Der ganze Vorgang unterlag keinerlei parlamentarischer Überprüfung. Falls jemand nachzufragen wagte, erfuhr er lediglich, dass diese Agentur „rein technischer” Natur sei. Was könnte auch langweiliger sein als Bilanzierungsregeln und -verfahren?

Tatsächlich aber ist das IASB inzwischen eine mächtige Institution, die unter anderem verhindert, dass die Steuerschlupflöcher geschlossen und Steueroasen der TNCs trockengelegt werden. Um effektiv Steuern einziehen zu können, müssen die Finanzbehörden jedes einzelnen Landes die Umsatz- und Beschäftigtenzahlen, Gewinne und entrichtete Steuern kennen. Bis heute müssen transnationale Konzerne ihre Geschäftsberichte jedoch nicht „Land für Land” ausgeben. Das erlaubt es ihnen, ihre Gewinne in Ländern mit Niedrigsteuersystemen oder ganz ohne Steuern und ihre Verluste in Hochsteuerländern zu platzieren. Sie können dies nur tun, weil die Regeln maßgeschneidert dafür sind, die Offenlegung dieser Daten zu vermeiden.

Die Folge: Kleine, an ihr Heimatland gebundene Unternehmen und Privathaushalte mit nationaler Anschrift werden die Hauptträger der Steuerlast bleiben oder schlicht ohne die staatlichen Leistungen zurechtkommen müssen, die eine gerechte Besteuerung der TNCs ermöglicht hätte. So gut wie überall sind diese Konzerne Trittbrettfahrer: Polizei und Feuerwehr schützen ihren Besitz, ihr Personal wird in den Schulen des jeweiligen „Standorts” ausgebildet und in seinen Krankenhäusern betreut; Fabrik oder Büro erreicht es mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf öffentlichen Straßen – und zu nichts von alledem leistet der Konzern seinen Beitrag oder – wenn doch – weit weniger, als die Gerechtigkeit es erfordern würde.

Auf meine Anfrage beim IASB, ob sie eine Umstellung auf Land-für-Land-Geschäftsberichte in Betracht zögen, antwortete man mir höflich, dergleichen sei nicht geplant. Kein Wunder: Den vier großen Firmen, deren Mitarbeiter und Freunde die Regeln machen, würden viele Millionen entgehen, wenn sie ihre Kunden nicht länger beraten könnten, wie sie am besten Steuerzahlungen vermeiden. Die gewöhnlichen Bürger werden weiterhin die Steuerlast tragen müssen. Steueroasen hingegen, in denen reiche Privatleute und Konzerne nach zuverlässigen Schätzungen um die 32 Billionen US-Dollar versteckt haben, werden weiterhin florieren.

TTIP: Die Ermächtigung des Privatsektors

Das IASB ist bei weitem nicht das einzige Gremium in der EU, das sich für die Interessen der transnationalen Konzerne einsetzt. Im Juli 2013 begannen die Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitions-Partnerschaft TTIP. Dieses Abkommen wird den größten Teil der Regeln festlegen, welche für die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts gelten sollen – nämlich das US-amerikanische und das europäische BIP zusammengenommen. Schon seit 1995 befindet es sich in Vorbereitung – seit die größten TNCs beiderseits des Ozeans den Trans-Atlantic Business Dialogue (TABD) aufnahmen, um Sektor für Sektor alle Details der Regulierungspraxis in Vertragsklauseln zu gießen.

Das Corporate Europe Observatory konnte nachweisen, dass zur Vorbereitung der TTIP, also des geplanten transatlantischen Freihandelsabkommens, „mindestens 119 Treffen mit großen Konzernen und ihren Lobbygruppen hinter verschlossenen Türen” erfolgt waren, aber „nur eine Handvoll mit Gewerkschaften und Verbraucherorganisationen. Als die Verhandlungen im Februar 2013 bekannt gemacht wurden, hatte noch kein einziges dieser Treffen mit gemeinwohlorientierten Gruppen stattgefunden, wohl aber Dutzende mit Unternehmenslobbyisten.“[5]

Dieses Ungleichgewicht besteht bis heute fort: So sind wichtige Teilnehmer der laufenden TTIP-Verhandlungen die Handelskammern und, in Europa, der European Roundtable of Industrialists (ERT); zu ihm gehören rund 50 Unternehmensvertreter, allesamt geschäftsführende Vorstandsmitglieder. Der ERT sei „mehr als eine Lobbygruppe“, äußerte Peter Sutherland, ein ehemaliger EU-Kommissar, früherer WTO-Chef und Exdirektor von British Petroleum und Goldman Sachs. „Jedes ERT-Mitglied“, erläuterte Sutherland, „hat Zugang zu den höchsten Regierungsstellen.“ Von europäischen Regierungen dazu ersucht, trägt der ERT erheblich zu deren Politikentwicklung bei. Die TTIP-Unterhändler stützen sich jetzt auf Entwürfe, welche TABD, ERT und ihre amerikanischen Pendants bereitgestellt haben.

Der Trans-Atlantic Business Dialogue, der den geheim gehaltenen Vertragstext entwarf, benannte sich später in Transatlantic Economic Council (TEC) um und beschreibt seine Aufgabe als „Abbau von Regulierungsmaßnahmen zwecks Ermächtigung des Privatsektors“. Tatsächlich dreht sich die TTIP ausschließlich um dieses eine Vorhaben: Sie soll staatliche Regulierung in allen Bereichen reduzieren, die öffentlichen Dienste so weit irgend möglich privatisieren und nichttarifäre Handelshemmnisse beseitigen, Regelungen also, welche die TNCs als „Handelsstörungen” betrachten. Der TEC bezeichnet sich selbst als „politisches Gremium“, und sein Direktor verkündet stolz, zum ersten Mal habe hier „der Privatsektor eine offizielle Rolle bei der Festlegung der EU/US-Politik” gespielt.

Der TTIP-Vertrag, der bis 2015 abgeschlossen werden soll, wird Änderungen bei den Sicherheitsbestimmungen für Lebensmittel, Pharmazeutika, Chemikalien etc. beinhalten. Er wird das letzte Wort über Vorschläge zur finanziellen Stabilisierung haben und Investoren die Freiheit verschaffen, ihr Kapital ohne Vorankündigung abzuziehen. Er kann die Einführung neuer Steuern wie beispielsweise der Finanztransaktionssteuer blockieren und die staatlichen Möglichkeiten des Klimaschutzes, etwa durch schärfere Bestimmungen für schadstoffausstoßende Industrien, einschränken. Es wird den Staaten verboten sein, einheimische Unternehmen bei Beschaffungsvorhaben (die einen wesentlichen Bestandteil jeder modernen Volkswirtschaft ausmachen) gegenüber ausländischen zu bevorzugen. Der ganze Aushandlungsprozess wird dabei hinter verschlossenen Türen stattfinden, ohne jegliche Bürgerbeteiligung.[6]

Kernstück aller Handels- und Investitionsschutzverträge ist heute jene Klausel, die es Unternehmen gestattet, souveräne Staaten auf Schadensersatz zu verklagen, wann immer sie glauben, eine staatliche Maßnahme werde ihre Gewinne, ja sogar ihre „Gewinnerwartungen” beeinträchtigen. Natürlich bleibt abzuwarten, wie viele Investor-to-State-Streitfälle die TTIP, falls sie zustande kommt, auslösen wird. Allerdings sind bereits unter den Bedingungen Hunderter schon ratifizierter bilateraler Handelsabkommen über 560 Konzernklagen gegen Staaten eingereicht worden, 62 neue Fälle allein im Jahre 2012. In mindestens einem Drittel dieser Klagen belaufen sich die Schadensersatzforderungen der betreffenden Konzerne auf 100 Mio. US-Dollar oder mehr. Dabei gilt nicht etwa das Prinzip der Gegenseitigkeit, denn Regierungen können nicht ihrerseits Unternehmen auf Schadensersatz verklagen, wenn diese die Öffentlichkeit oder öffentliches Eigentum schädigen. Und es sind keine regulären Gerichte, die über derartige Klagen entscheiden, sondern spezielle Schiedsgerichte mit Anwälten und Richtern, die von führenden Anwaltskanzleien, Privatfirmen also, gestellt werden, zumeist britischen und amerikanischen. Solche Anwälte berechnen durchschnittlich 1000 US-Dollar die Stunde, Schlichter verlangen 3000 Dollar pro Tag. Bislang wurde in der Mehrzahl der Fälle zugunsten der Unternehmen entschieden. Über ein Drittel der Entscheidungen bewirkte Entschädigungszahlungen von mehr als 100 Mio. Dollar, und für diese Zahlungen haben zwangsläufig die Steuerzahler des betroffenen Landes aufzukommen.[7]

Die UNO im Visier der Konzerne

Die TNCs haben allerdings nicht nur die USA und die EU, sondern auch die Vereinten Nationen im Visier – und dort wird ihre Präsenz ebenfalls begrüßt. So gibt es bei der UNO mittlerweile unter dem Namen „Global Compact” eine eigene Sektion für Unternehmen, die vor etwa 15 Jahren von Kofi Annan und dem seinerzeitigen Nestlé-Chef gegründet wurde. Um dort Mitglied zu werden, muss ein Unternehmen lediglich 15 Grundsätzen in den Bereichen Menschen- oder Arbeitnehmerrechte und Umwelt beipflichten. Obwohl von ihnen erwartet wird, dass sie Tätigkeitsberichte vorlegen, werden diese von den Vereinten Nationen nie überprüft. Hingegen ist sichergestellt, dass in jeder der großen UN-Agenturen wie FAO, WHO oder UNESCO ein hochrangiger Beamter sich um koordinierte und erleichterte Zusammenarbeit mit den betreffenden Unternehmen kümmert.

Die dem Global Compact angehörenden Konzerne, die Mitglieder des World Business Council for Sustainable Development sowie diverse weitere Unternehmervereinigungen und Handelskammern fanden sich zuhauf bei dem Spektakel ein, das die UNO im Sommer 2012 als Umweltkonferenz Rio+20 veranstaltete. Manchen Berichten zufolge wurde die Konferenz von diesen Leuten regelrecht übernommen. Die Unternehmerseite stellte die größte Delegation und veranstaltete das größte Event, passenderweise „Business Day” genannt. Der Ständige Vertreter der Internationalen Handelskammer bei den Vereinten Nationen – dieser firmiert tatsächlich wie der Ständige Vertreter eines Mitgliedslandes! – erklärte dort unter tosendem Applaus: „Wir sind [...] die größte Wirtschaftsdelegation, die je an einer UN-Konferenz teilnahm. [...] Die Wirtschaft muss die Führung übernehmen, und wir übernehmen die Führung.“ Die TNCs fordern jetzt ihre förmliche Beteiligung an den UN-Klimaverhandlungen.

Und die Sache kommt gut voran, kein Zweifel. Die UN-Klimakonferenz 2013 in Warschau im November des vergangenen Jahres war regelrecht zugepflastert mit den Logos zahlreicher Erdöl- und Bergbaukonzerne und ebenso von Firmen wie der Fluggesellschaft Emirates oder führenden Autoproduzenten wie General Motors und BMW; diese UN-Konferenz unter dem Titel COP 19 oder 19. Vertragsstaatenkonferenz war die erste, die Konzerne als Sponsoren einlud und willkommen hieß. In Polen basiert die Energieerzeugung zu 80 bis 90 Prozent auf Kohle, und die polnische Regierung nutzte die Gelegenheit – nicht sonderlich subtil –, parallel zu einer Konferenz der World Coal Association einzuladen. Dort hielt Christiana Figueres, Spitzenverantwortliche der UN-Klimakonferenz, eine Grundsatzrede. Erfolgreicher hätte es aus Sicht der TNCs nicht laufen können.

Wer regiert heute?

Umso mehr jedoch die illegitime Macht der Konzerne über alle Grenzen hinaus anwächst, desto mehr nimmt die demokratische Legitimität ab. In einer Demokratie herrscht Volkssouveränität, die Zustimmung der Regierten. Die Letztentscheidung liegt demnach bei den Bürgerinnen und Bürgern. Sie brauchen nicht nur gewählte Volksvertreter, sondern müssen auch das Recht und die Möglichkeit haben, zur Politik der Regierung ebenso gut „Nein” sagen zu können wie „Ja“.

Dieses Recht untergraben die TNCs gezielt. Dabei ist es keine sonderlich neue Erkenntnis, dass Regierungen seit jeher im Sinne bestimmter Klasseninteressen gehandelt haben. Etwas ganz anderes aber ist es, diesen Interessengruppen zu gestatten, die Gesetze selbst zu schreiben und die Politik direkt in die Hand zu nehmen – die Haushalts-, Steuer-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Umweltpolitik eingeschlossen – und sich so an die Stelle der gewählten Parlamentarier und öffentlichen Bediensteten zu setzen. Und es ist gleichfalls etwas durchaus anderes zuzulassen, dass Privatunternehmen vorsätzlich täuschen und Lügen verbreiten können und so das Recht der Öffentlichkeit auf Wahrheit aushöhlen.

Die Ursache für diesen Wandel liegt auf der Hand: Die Demokratie hat mit dem Tempo der Globalisierung nicht Schritt gehalten. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene wird heute Macht ohne die Zustimmung der Regierten ausgeübt. Man gesteht den Menschen kaum die Mittel zu, die es ihnen ermöglichen könnten zu verstehen, wer tatsächlich entscheidet – und was. Regierungen können von den Wählern bestraft, politisch Verantwortliche aus ihren Ämtern entfernt werden. Konzerne hingegen üben Macht aus, ohne entsprechenden Rechenschaftspflichten zu unterliegen. Wirtschaftsunternehmen operieren nicht nur außerhalb der Reichweite öffentlicher Kontrolle durch Wahlen, sie verschaffen sich sogar Privilegien wie den Rechtsstatus „natürlicher Personen“ in den USA (personhood) oder die Quasi-Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen.

Dabei sind es nicht allein ihre Größe oder ihr enormes Geld- und Sachvermögen, die die TNCs zu einer Gefahr für die Demokratie machen. Vielmehr stellen auch ihre Konzentration, ihr Vermögen, Regierungen zu beeinflussen und oft regelrecht zu infiltrieren, eine Gefahr dar, ebenso wie ihre Fähigkeit, als eigenständige internationale Gesellschaftsklasse zu handeln, die private Geschäftsinteressen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen versucht.

Jene, die nach Ausübung illegitimer Macht streben, zielen dabei zum einen auf eine neuartige Legitimität für das alternative, ganz von ihnen selbst bestimmte System ab; zum anderen liquidieren sie Konzepte wie das des öffentlichen Interesses, des öffentlichen Dienstes, des Sozialstaats und des Gemeinwohls. Davon versprechen sie sich Zugewinne sowohl an Geld als auch an Macht für die Konzerne sowie für deren Zwecke maßgeschneiderte Regeln. Am Ende könnten sie die Verfassungsformel von der Regierung „des Volkes durch das Volk und für das Volk” ersetzen durch eine Regierung „der Konzerne durch die Konzerne und für die Konzerne“. Bürgerinnen und Bürger, denen an der Demokratie liegt, können diese Entwicklung nicht straflos ignorieren.

* Dieser Text basiert auf dem Beitrag „State of Corporations – The rise of illegitimate power and the threat to democracy“ in dem diesjährigen Jahresbericht „State of Power“ des Transnational Institutes (www.tni.org). Die Übersetzung stammt von Karl D. Bredthauer.

 

[1]  So besteht alle Veranlassung, die Legitimität/Illegitimität von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission zu untersuchen, die sich jetzt in der sogenannten Troika miteinander verbunden haben und vielen europäischen Ländern harsche, dabei kontraproduktive Austeritätsmaßnahmen auferlegen. Das würde allerdings den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen.

[2] Das Corporate Europe Observatory, das in vielen Fragen mit dem Transnational Institute (TNI) – dem Herausgeber des Jahrbuchs „State of Power” – zusammenarbeitet, führt seit vielen Jahren Buch über die Aktivitäten von Lobbyisten. Auf seiner Internetseite www.corporateeurope.org finden sich zahlreiche gute – allerdings für gewöhnlich wenig erbauliche – Geschichten.

[3] Vgl. zur Situation in Deutschland: Werner Rügemer, Die unterwanderte Demokratie. Der Marsch der Lobbyisten durch die Institutionen, in: „Blätter“, 8/2013, S. 67-76. – D. Red.

[4] Vgl. Stefania Vitali, James B. Glattfelder und Stefano Battiston, The Network of Global Corporate Control, in: „Public Library of Science ONE“, 10/2011, S.1-36.

[5] Derartige Fakten gehen aus internen Dokumenten hervor, die unter den Bedingungen der komplizierten Access-to-Information Rules der EU beschafft wurden. Sie stehen in schroffem Gegensatz zu dem, was die Kommission in ihren öffentlichen Fact Sheets behauptet. Darin heißt es: „Die Auffassungen der Zivilgesellschaft spielen eine entscheidende Rolle” bei den TTIP-Verhandlungen der EU. Das stimmt jedoch nur, wenn man die „Zivilgesellschaft” als ziemlich exklusiv auf Geschäftsinteressen beschränkt versteht.

[6] Vgl. Michael Krätke, TAFTA: Das Kapital gegen den Rest der Welt, in: „Blätter“, 1/2014, S. 5-9. – D. Red.

[7] Vgl. Pia Eberhardt, Konzerne versus Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie, in: „Blätter“, 4/2013, S. 29-33. – D. Red.

 

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