Mahlzeit Vor allem günstig sollte es sein, das Menü in der Betriebsküche. Und sonst? Zurzeit streitet man um die Forderung nach einem „Veggie Day“. Unser Lexikon kocht auf
Arbeitsunfall Wo fängt Privates an, wo hört Berufliches auf? Ein Geschäftsessen kann man als professionell abstempeln. Das tägliche Essen in der Werkskantine dagegen ist Privatsache. So jedenfalls hat das Sozialgericht Heilbronn entschieden, nachdem ein Daimler-Mitarbeiter geklagt hatte. Er war in der Werkskantine auf Salatsoße ausgerutscht und hatte sich dabei den Arm gebrochen. Daimler wollte das nicht als Arbeitsunfall anerkennen. Das Gericht gab dem Konzern recht. Nahrungsaufnahme sei dem privaten Lebensbereich zuzurechnen, so die Begründung. Der Arbeiter wiederum empfindet es als unzumutbar, anderswo zu essen als in der Kantine. Benjamin Zimmermann
B
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ch war es als Kind in der DDR ein Fest, wenn mein Vater mich zum Mittag in die Kantine in seinem „Betrieb“ eingeladen hat. Ich kam mir vor, als säße ich an einem sehr wichtigen Platz, an den nicht jeder kommt. Das Essen war mir egal. Ein halbes belegtes Brötchen kostete in der Betriebskantine zwischen 30 und 40 Pfennigen. Mittags gab es einfache Wahlessen, und man konnte sich wie in der Schule kostenlos Nachschlag holen. Den Ausfall zahlte meist das Werk. Das Volk sollte günstig satt werden. Meist wurden die Gerichte in Essenskübeln transportiert, mit großen Kellen wurden Gulasch, Makkaroni mit Ketchupsoße oder Soljanka auf die Plasteteller verteilt. Und es gab die Theaterkantinen, die von Brecht am Berliner Ensemble, die der Volksbühne in Berlin. Sie existieren noch immer, fast unverändert. Man kann noch die Durchsagen hören, die die Schauspieler zur Probe rufen und die Tontechniker zum Einsatz. Man fühlt sich basisnah und ein bisschen wie Boheme. Maxi LeinkaufBillig Da schlägt das Elternherz höher: Frisches Gemüse in der Schulkantine, am besten aus der Region und Bio, und dazu saftige Koteletts vom Schlachter um die Ecke. Ihr Nachwuchs ist ihnen lieb und teuer, doch bezahlen wollen die Eltern fürs Schulessen: so wenig wie möglich.Deswegen sind die Kartoffeln oft zerkocht, die Bohnen matschig und das Kotelett so zäh wie Schuhsohlen. In Thüringen zum Beispiel darf ein Essen maximal 1,90 Euro kosten. Für die Lebensmittel bleibt bei einem solchen Preis ein Budget von weniger als 60 Cent. Das können keine guten Zutaten sein. Zumal die Caterer angesichts des Kostendrucks das Essen zentral in Großküchen zubereiten und anschließend in Thermoboxen zu den Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern karren. Das ist schlecht für Nährstoffe – und sehr gut für Keime. In Berlin beschloss der Senat aus diesem Grund eine Erhöhung des Portionspreises von durchschnittlich 2 Euro auf 3,25 Euro. Das soll die Qualität des Essens verbessern. Doch viele Eltern waren dagegen. Mark StöhrDDesign Kantinen haben ihr eigenes Flair, zwischen ungemütlich im negativen und funktional im positiven Sinne. Selten sind sie so außergewöhnlich wie die Kantine des ehemaligen Hamburger Spiegel-Verlagshauses, gemeinsam mit der gesamten Inneneinrichtung des Gebäudes 1969 von der dänischen Design-Koryphäe Verner Panton entworfen. Der psychedelische Pop-Art-Traum in Orange, Rot und Violett wäre fast der neuen Nüchternheit der 1990er Jahre zum Opfer gefallen, hätte nicht eine Bürgerinitiative für den Erhalt gekämpft. So wurde der mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Speiseraum in das Museum für Kunst und Gewerbe übersiedelt. Das in Kantinen beliebte Komponentenessen wurde auf Menütellern serviert. Manche sind hübsch geraten, sodass man sie fast als Designklassiker bezeichnen kann. Sophia HoffmannGGorki Es gibt in der Freitag-Redaktion Gorkigänger und Gorkiverweigerer. Ich nehme fast täglich den Hintereingang des Maxim-Gorki-Theaters, kurzer Blick zum Pförtner, der per Knopfdruck die Tür öffnet. An den rauchenden Technikern im Gang vorbei. Wir schauen dann auf die Tafel an der Wand, wo drei Tagesgerichte draufgekritzelt sind: Schnitzel mit Pommes, Leberkäse mit Spiegelei, Pasta – und etwas Fleischloses. Da bin ich dann Verweigerer. Als im vergangenen Sommer die griechische Köchin, mitten in der Krise, nach Hause zurückkehrte, um sich selbstständig zu machen, schwenkte die Gorki-Kantine auf Gourmet um. Es gab selbst gemachte Quiche, Gazpacho, Schweinemedaillons oder eine Forelle an Blumenkohlgratin. Und vegan! Die Preise zogen an, aber ich verlor den Appetit. Hab es mit Suppenküche versucht. Oder mit Sushi. Vor ein paar Tagen bekam ich Sehnsucht, und in der Kantine war es wie früher. Bauernfrühstück! Mit Speck. Es kostet jetzt aber einen Euro mehr. MLLLebensmittelskandal Zuletzt war es eine „Pute Tandoori“, die für Aufregung sorgte. Das aus Rumänien stammende Geflügelfleisch war mit hohen Dosen Antibiotika belastet. Bis die Sache aufflog, waren schon 13 Tonnen Pute in mehreren Großküchen nach indischer Art mariniert worden. Noch mehr Schlagzeilen machten mehr als 11.000 Menschen – darunter Kinder und Jugendliche –, die im September 2012 an Brechdurchfall erkrankten. Ein Caterer hatte aus China importierte verdorbene Erdbeeren für den Nachtisch verwendet und etliche Kindergärten und Schulen in Ostdeutschland mit Noroviren verseucht. Oft sind Kantinen die Schauplätze von Lebensmittelskandalen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat ermittelt, dass im Jahr 2011 von fünfzig untersuchten „lebensmittelbedingten Krankheitsausbrüchen“ jeder dritte in Großküchen auftrat. Ursache ist zumeist der Preisdruck. Der Händler mit dem günstigsten Angebot erhält den Zuschlag, egal wo er lokalisiert ist. MSMMensa Die Universitäts-Mensen bilden mit bis zu 12.000 ausgegebenen Mahlzeiten täglich die Königsdisziplin der Gemeinschaftsverpflegung. Neben sogenannten Wahlessen gibt es meist ein bis zwei besonders günstige Stammessen, also Tagesgerichte, die oft weniger als vier Euro kosten. Dies ist nur durch staatliche Subventionen möglich. So legendär wie wilde Studentenpartys war bisher auch die miese Qualität des Mensa-Essens. Studenten in Furtwangen begannen aus den Überbleibseln ihrer Speisen Kunstwerke zu basteln und veröffentlichten sie unter dem Namen MensaFigures im Internet. Hätte es besser geschmeckt, wäre wahrscheinlich gar nichts übrig geblieben. Doch es hat sich einiges getan. Das Unicum-Magazin schreibt einen jährlichen Wettbewerb aus, an vielen Orten gibt es seither Salat-Bars. SHSSchulessen Zu geringe finanzielle Mittel werden als Grund für fade Fertigprodukte genannt, wie man sie häufig in Schulküchen findet. Starkoch Jamie Oliver engagiert sich in Großbritannien bereits seit Jahren für eine ausgewogenere Schulspeisung, und auch hierzulande wird das Thema zunehmend medial diskutiert.Im vergangenen Jahr erregte der Fall der schottischen Schülerin Martha Payne Aufsehen, die ihr Schulessen fotografierte, darüber bloggte und die Nahrung auf einem „Food-o-meter“ bewertete. Martha wurde berühmt und nutzte diese große Aufmerksamkeit, um für ein karitatives Projekt zu werben, das Schulessen in afrikanische Schulen bringen soll. Auf der Webseite neverseconds.blogspot.co.at posten mittlerweile Kinder aus aller Welt ihr Schulessen. SHStatistik 18 Millionen Deutsche nehmen täglich Gerichte zu sich, die in Großküchen hergestellt werden. Laut der Erhebung eines Cateringunternehmens rangiert auf Platz 1 der Lieblingsspeisen in den Kantinen, man glaubt es kaum, die Currywurst. Überhaupt ist Fleisch allen Warnungen von Politikern und Ernährungswissenschaftlern zum Trotz weiterhin der Platzhirsch im Menüplan der Mensen. 60 Gramm Fleisch pro Tag werden empfohlen, die Deutschen essen dreimal so viel. Vor allem Männer, vor allem in der Betriebskantine.Verlässliche Zahlen über die genauen Fleischmengen, die in Großküchen verarbeitet werden, und ihre Herkunft sind rar. Die Welt am Sonntag fand heraus, dass 90 Prozent des Geflügelfleischs aus Thailand und Brasilien stammten, mithilfe von billigen Arbeiterinnenhänden schon auf die passende Grammzahl und Form kalibriert. Für die Caterer ist die Massenabspeisung trotz des Preisdrucks ein lohnendes Geschäft: Sie machten 2012 einen Umsatz von 151 Millionen Euro. MSUUrsprung Unser Begriff Kantine geht auf das italienische Wort cantina zurück, das ursprünglich einen Keller bezeichnete, in dem Wein oder getrocknete Fleischwaren wie Salami gelagert wurden. Während der stark italienisch geprägten Renaissance verbreitete sich der Begriff in ganz Europa, doch während die Franzosen die Keller der Marketender cantine nannten, war für die Spanier eine cantina eine simple Arbeiterbar, wie man sie in der Nähe von Baustellen oder Verkehrsknotenpunkten finden konnte. In Mexiko und den USA sind cantinas von Männern frequentierte Bars, in denen Frauen und Kinder eher unerwünscht sind. Hier in Deutschland sind Kantinen die betriebseigenen Gaststätten großer Unternehmen oder öffentlicher Einrichtungen, die für die Verköstigung der Mitarbeiter in den Arbeitspausen zuständig sind. Mit einem Weinkeller hat das nichts mehr zu tun. SHVVeggie Day Welch eine Aufregung! Die Grünen sind für einen Wochentag, an dem in den Kantinen nur vegetarische Gerichte angeboten werden. Die Position ist nicht neu, sie wurde schon im April ins Wahlprogramm geschrieben. Doch jetzt hat die Bild-Zeitung das Thema ausgegraben, und Politiker von Union und FDP schlachten es genüsslich aus. Dabei wird schon mal vergessen, dass selbst das CSU-geführte Ernährungsministerium einen freiwilligen Veggie Day unterstützt. Und die Grünen pochen darauf, dass sie das Fleischessen weder verbieten wollen noch können. Es geht vielmehr um die (finanzielle) Unterstützung solcher Vegetarier-Initiativen. Aber warum löst das Thema überhaupt solche Beißreflexe aus? Wenn es beim übermäßigen Fleischkonsum nur um ungesunde Ernährung ginge, wären die Essgewohnheiten tatsächlich eine private Angelegenheit. Es geht aber um Tierquälerei, um den Hunger auf der Welt, um den Klimawandel. Das Essen muss endlich politisch werden! Felix WerdermannZZahlsystem In einer Hamburger Grundschule nahm neulich eine von der Schulleitung beauftragte IT-Firma von allen Kindern die Fingerabdrücke, als gewissermaßen erkennungsdienstliche Maßnahme für die Essensverteilung. Der Crashkurs in Biometrie kam nicht gut an, vor allem, als durchsickerte, dass jene Kinder kein Essen bekamen, die sich geweigert hatten, ihre Fingerkuppen abscannen zu lassen. Ein Teil der Eltern hatte sich vorher nämlich ausdrücklich für die Chipkarte und gegen den Fingerprint als Bezahltechnik ausgesprochen. Sie fanden es befremdlich, dass ein in der Kriminalistik und bei Zugangskontrollen gängiges Verfahren bei der Ausgabe von Fanta und Fischstäbchen angewandt wird. In den Kantinen der Erwachsenen aber verdrängt der Fingerabdruck mehr und mehr die Essensmarke und den Chipausweis. MS
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