Ausgabe Februar 2012

Mit Interkultur gegen Rassismus

Es waren bloße Zufälle, die im November 2011 zur Aufklärung der von Medien wie Behörden jahrelang als „Döner-Morde“ bezeichneten Mordserie führten. Tatsächlich hatte die Polizei über zehn Jahre in nur eine – und zwar die falsche – Richtung ermittelt. Bei den Sicherheitskräften bestand offenbar von vornherein Konsens darüber, dass es sich um einen Fall von organisierter „Ausländerkriminalität“ handeln müsse. Organisierter Rechtsradikalismus kam niemandem in den Sinn.

Immerhin hat die Politik das „Versagen“ der Behörden mit deutlichen Worten angesprochen; im Vergleich zu den 1990er Jahren hat sie sensibel auf die Situation der Angehörigen und der anderen Betroffenen reagiert. Doch sind die anvisierten Verbesserungen in der Sicherheitsarchitektur nichtsdestotrotz hauptsächlich im Bereich der Methodik angesiedelt – eine konsequente inhaltliche Debatte über die eigentlichen Gründe für das „Versagen“ findet nach wie vor nicht statt.

Die Reaktionen auf die Ermittlungsfehler von Polizei und Verfassungsschutz bei der Mordserie von Neonazis zeigen vor allem eines: Noch immer hat eine inhaltliche Debatte über Rassismus nicht stattgefunden. Völlig zurecht haben eine Reihe von Initiativen im Zusammenhang mit neonazistischer Gewalt in einem Aufruf gefordert, der gesellschaftliche Rassismus müsse endlich beim Namen genannt werden: „Es ist unbegreiflich, dass im Zusammenhang mit den NSU-Morden von ‚Fremdenfeindlichkeit’ die Rede ist. Die Ermordeten waren mitnichten ‚Fremde’, ‚Türken’ oder ‚Griechen’, sondern repräsentieren die Mitte unserer Gesellschaft“.[1]

Zweifellos gibt es aufgrund der Geschichte Deutschlands eine besondere Sensibilität dafür, Rassismus vor allem im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu sehen. Auch deshalb wird der Begriff Rassismus erst bei „extremen“ Phänomenen wie Gewalt oder Neonazismus angewandt. Doch Ersatzbegriffe wie „Fremdenfeindlichkeit“ treffen den Kern nicht: Es geht nicht um Animositäten zwischen Gruppen auf einem Territorium, es geht um die Produktion einer Spaltung zwischen „uns“ und „ihnen“ innerhalb einer Bevölkerung, also darum, wie „Fremde“ überhaupt erst erzeugt und mit bestimmten Eigenschaften belegt werden. Nicht die Vorurteile oder moralischen Verfehlungen Einzelner, sondern strukturelle Formen der Diskriminierung bei der Zuteilung von Ressourcen und Dienstleistungen sowie allgemein verbreitete, schnell abrufbare Formen „rassistischen Wissens“ müssen dabei in den Fokus gerückt werden.[2]

Trotz der Fortschritte bleibt ein Unbehagen

Zwar könnte man – trotz der grauenhaften Mordserie – mit einem gewissen Optimismus in die kommenden Jahre gehen, denn fest steht: Die Einwanderer sind – 50 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei – definitiv angekommen, ihre Einbeziehung in die gesellschaftlichen Strukturen findet statt und der existierende Rechtsradikalismus wird durchaus ernst genommen. Ohne Zweifel hat sich in den letzten zehn Jahren in Bezug auf die Einwanderungsgesellschaft mehr getan als in den vier Jahrzehnten zuvor. Die Anwesenheit und Zugehörigkeit von Einwanderern steht nicht länger zur Disposition – gestritten wird vielmehr über den Umgang mit den Folgen der Migration. Dennoch bleibt dabei ein ziemliches Unbehagen.

Aus den „Ausländern“, die sich angeblich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, sind nach 1998 „Personen mit Migrationshintergrund“ geworden. Diese Personen werden als Teil der Gesellschaft anerkannt, sie sind aber keineswegs in allen Dimensionen gleichgestellt.

Diese Kluft soll mithilfe von „Integration“ geschlossen werden. In den letzten Jahren haben der Bund, die Länder und die Kommunen so unzählige Integrationskonzepte entwickelt, oft im Austausch mit Migrantenselbstorganisationen oder der ganzen Bevölkerung. Diese haben durchaus einen Prozess des Kennenlernens befördert, der trotz vieler Widerstände und Trägheiten mittlerweile nachdrücklicher gesteuert wird denn je. Dass auf diese Weise explizite Konzepte formuliert werden, wie die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten wäre, ist grundsätzlich begrüßenswert. Die Schwierigkeiten liegen jedoch im Begriff der „Integration“ selbst.

Tatsächlich stammt die Bezeichnung aus den 1970er Jahren und bezieht sich auch weiterhin auf die Agenda der Vergangenheit. Doch während man im nationalen Rahmen mit großer Verzögerung die Folgen des „Gastarbeiter-Systems“ behandelt, hat sich die Gesamtlage längst verschoben: Durch die Globalisierung hat sich ein völlig verändertes Mobilitätsschema etabliert, dem der Begriff Integration längst nicht mehr gerecht wird.

Obgleich es in den letzten Jahren eine pragmatische Wende hinsichtlich des Verständnisses von „Integration“ gegeben hat, transportiert die Bezeichnung weiterhin implizit normative Vorstellungen. Diese besagen, dass eine Bevölkerungsgruppe existiert, die zu „uns“, der Mehrheitsgesellschaft dazu kommt und bestimmte Defizite aufweist. Betrachtet man die Debatten der letzten
40 Jahre, dann erweisen sich diese angeblichen Defizite als erstaunlich konstant – stets geht es um Sprachprobleme, patriarchale Familienverhältnisse oder um „Ghettobildung“ bzw. „Parallelgesellschaft“. Diese Defizite sollen schließlich in Sonderprogrammen neben dem Regelbetrieb behoben werden, so dass alle Personen zu einer gewissen „Stunde Null“, etwa dem Schuleintritt, der Norm entsprechen. Diese Vorgehensweise hat zur Entstehung einer regelrechten „Integrationsindustrie“ geführt, zumeist auf Projektbasis, die allein durch die parallele Förderstruktur darauf angewiesen ist, das Bild vom hilfsbedürftigen Migranten zu erhalten.

Im kleineren Rahmen geben viele Politiker durchaus zu, dass sie Zweifel an der Integrationsidee haben. Für Unternehmen haben die traditionellen Vorstellungen ohnehin keinen Sinn mehr. Martin Kind etwa, Unternehmer und zudem Präsident des Fußballvereins Hannover 96, erklärte unlängst, er halte den Begriff der Integration nicht nur für überholt, sondern gar für „stigmatisierend“.[3]

Gesellschaft und Politik stehen somit in Sachen Migration vor zwei zentralen Herausforderungen: Einerseits gilt es, eine offene Debatte über Rassismus zu führen, und andererseits, die Konzepte für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft neu zu justieren.

Struktureller Rassismus

Das Thema Rassismus wird in Deutschland weiterhin verschämt diskutiert. Zwar gibt es insbesondere auf kommunaler Ebene Versuche, das Problem auch auf der Alltagsebene deutlich anzusprechen – das zeigt beispielsweise die Tatsache, dass Städte Veranstaltungen über Rassismus organisieren und die jeweiligen Oberbürgermeister diese persönlich eröffnen –, aber in der Öffentlichkeit dominiert weiterhin ein Diskurs der Leugnung, der selbst bei eindeutig rassistisch konnotierten Morden nicht bereit ist, richtig hinzuschauen.

Das nämlich zeigte sich beim „Versagen“ der Sicherheitsbehörden im Falle der Neonazi-Mordserie: Es ist ein guter Anlass, das Problem des strukturellen Rassismus bei der Polizei aufzuwerfen. Die Einmütigkeit, mit der in Richtung der organisierten Kriminalität von „Ausländern“ ermittelt wurde, zeigt nämlich nicht in erster Linie die berüchtigte „Blindheit auf dem rechten Auge“. Die Stoßrichtung belegt vielmehr Routinen in der Polizeiarbeit, die Delinquenz bestimmten Personengruppen schematisch zuordnen. Solche Routinen haben dafür gesorgt, dass die Fälle aus dem deutschen Rahmen entfernt wurden und die Opfer selbst in den Verdacht gerieten, durch kriminelle Handlungen die Verbrechen mit verursacht zu haben.

Der ehemalige Leiter der zeitweise zuständigen Mordkommission in München, Josef Wilfling, bestätigte im Interview, dass er bei den Taten „als Erstes“ an ein „organisiertes Verbrechen“ gedacht habe. Und schickt hinterher: „Es gab in verschiedenen Fällen Hinweise auf einen Kontakt ins Drogenmilieu, und es gab zahlreiche Hinweise auf Inkassokriminalität, Glücksspiel und Geldwäsche“.[4] Die hier erwähnten Vergehen wie etwa Geldwäsche muten seltsam an angesichts der geschäftlichen Tätigkeiten der ermordeten Personen: Gemüsehandel, Änderungsschneiderei, Imbiss, Schlüsseldienst. Offenbar waren die Ermittlungen dazu angetan, solche „Hinweise“ geradezu hervorzubringen. Die schließlich in Mittelfranken eingesetzte Sonderkommission trug sogar den Namen „Bosporus“, womit deutlich vermittelt wurde, dass diese Verbrechen offenbar außerhalb der Bundesrepublik verortet wurden.

Institutioneller Rassismus

Angesichts dieses Szenarios erscheint die Ignoranz gegenüber einer rechtsradikalen Motivation eben nicht intentional, sondern strukturell bedingt: Das rechtsradikale Umfeld konnte angesichts der routinisierten Verdachtsstruktur gegenüber Personen mit Migrationshintergrund gar nicht ins Blickfeld kommen. Es geht also nicht um das Fehlverhalten einzelner Beamter oder das „Versagen“ der Sicherheitsbehörden – selbstverständlich wollten die Sicherheitskräfte jene Fälle aufklären und sind teilweise von den jüngsten Entwicklungen geradezu geschockt. Man kann die Vorgehensweise aber zweifellos in den Kontext eines „institutionellen Rassismus“ stellen – so wie es im Vereinigten Königreich während der 1990er Jahre getan wurde.

Als im Jahr 1993 im Süden Londons der 18jährige schwarze Brite Stephen Lawrence aus rassistischen Motiven erstochen wurde, leugnete die Polizei rassistische Motive, nahm Freunde des Opfers als Zeugen nicht ernst und behandelte seine Eltern ohne jegliche Sensibilität. Aufgrund dieser Stümperhaftigkeiten konnte 18 Jahre lang niemand für die Tat verurteilt werden. Erst Anfang dieses Jahres befand die Jury eines Londoner Gerichts die beiden Briten und ehemaligen Mitglieder einer weißen Gang, den heute 36jährigen Gary Dobson und den 35jährigen David Norris, auf Grundlage neuer Beweisverfahren wegen Mordes an Stephen Lawrence für schuldig.

Aber dies kam nicht aus dem Nichts: Über Jahre hinweg hatte die britische Öffentlichkeit den Fall eingehend verfolgt, in den schwarzen Communities brodelte es. Zahlreiche Beschwerden verliefen im Sande, bis das Innenministerium 1997 eine unabhängige Untersuchung anregte. Nach zwei Jahren schließlich veröffentlichte der ehemalige Lordrichter William Macpherson einen Bericht, den man durchaus als Meilenstein der britischen Rechtsgeschichte bezeichnen kann.[5]

Denn er stellte fest: In der Polizei des Vereinigten Königreiches existiert institutioneller Rassismus. Macpherson gab sich nicht damit zufrieden, dass die betreffenden Polizeibeamten in allen Befragungen gegen Rassismus Stellung bezogen und spürte die unbewussten Prozesse der Diskriminierung auf. Diese fand er in bestimmten Routinen der Ungleichbehandlung von Minderheiten und vor allem auch in der impliziten, aber höchst wirksamen „Kultur“ der Polizei, die maßgeblich von „weißen“ Erfahrungen und Perspektiven geprägt war. Rassismus wurde im Macpherson-Report nicht als Verfehlung Einzelner betrachtet, sondern als strukturelles Problem: Gesetze, Verhaltensweisen oder Praktiken können völlig neutral wirken, im Ergebnis jedoch diskriminierend sein. Macpherson beendete seinen Bericht mit 70 Empfehlungen, viele von ihnen wurden in der Folge umgesetzt. So hat sich der Personalbestand der Polizei verändert, Anti-Diskriminierungs- und Diversity-Programme wurden aufgelegt. Als einzige in Europa kennt die britische Polizei heute Maßregeln gegen das sogenannte racial profiling. Allerdings lassen die anlässlich der Ausschreitungen in britischen Städten 2011 geäußerten Vorwürfe an die Polizei deutliche Zweifel zu, ob die Maßnahmen in der Praxis tatsächlich umfassend greifen. Die ursprüngliche Stoßrichtung der Interventionen jedoch war angemessen: Es muss überprüft werden, ob das „Versagen“ als Zufall gewertet werden kann oder ob Routinen des alltäglichen „Betriebs“ zu den Fehlern geführt haben – die Institution muss auf den Prüfstand.

Auch in der deutschen Polizei – wie in der Gesellschaft insgesamt – ist eine Debatte über „institutionellen Rassismus“ dringend geboten. Dabei sollte der moralische Zeigefinger unten bleiben – nötig sind nicht die Art Schulungen, in denen praxisferne „gute“ Dozenten den potentiell „bösen“ Beamtinnen und Beamten ihre „falsche“ Wahrnehmung unter die Nase reiben. Um die Praxis selbst geht es, um die Routinen, in denen alle funktionieren, ohne die Motive ihres Handelns zu hinterfragen, Routinen, die längst nicht mehr der Realität einer Einwanderungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts entsprechen.

Leben in der Parapolis: Die neuen „Parallelgesellschaften“

Damit sind wir bei der Frage, wie die Einwanderungsgesellschaft heute gestaltet werden kann. Denn wenn Personen mit Migrationshintergrund dazu aufgerufen werden, sich zu „integrieren“, dann stellt sich die Frage, in welches Gebilde sie sich eigentlich eingliedern sollen. Traditionell war das der Nationalstaat. Doch schon seit geraumer Zeit reicht dieser als Bezugsgröße für Einwanderung nicht mehr aus – seine Autonomie wird sowohl im Rahmen einer globalisierten Urbanität als auch einer sich vor allem in städtischen Räumen abspielenden Globalisierung ausgehöhlt.

Das aktuelle Mobilitätsgeschehen ist vor allem durch wachsende Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. Insofern lohnt sich ein intensiverer Blick auf die Städte. Dort gibt es eine zunehmende Anzahl von Personen, deren Status in Bezug auf den nationalstaatlichen Rahmen aus unterschiedlichen politisch-ökonomischen Gründen nicht eindeutig festzulegen ist. Heute leben in deutschen Städten „Ausländer“ mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von fast 19 Jahren; „Pendler“, die im Durchschnitt für ein halbes Jahr bleiben; „Geduldete“, deren Aufenthaltsperspektive nach einem Jahrzehnt oft immer noch bei einem halben Jahr liegt, „Papierlose“, die als Touristen eingereist sind und deren Existenz von der offiziellen Statistik ganz geleugnet wird. Man findet zahlreiche Studierende aus anderen Ländern, die eine bestimmte Zeit in der Stadt bleiben, „Expatriates“ jeglicher Couleur, die wegen Arbeit, Liebe oder einer neuen Lebensperspektive in die betreffende Stadt gezogen sind, Zweitwohnungsbesitzer, deren Familie in einer anderen Stadt lebt oder auch Touristen, die mit ihren wiederholten Wochenendtrips und ihrem Szenewissen auf eine zuvor unbekannte Weise ins Gewebe der Stadt eindringen.

Diese Personengruppen stellen sämtlich eine „anwesende Abwesenheit“ dar – sie sind da, aber gleichzeitig auch noch an einem anderen Ort. Diese neue Mobilität hat die geographischen Verhältnisse von Nähe und Ferne, aber auch von Nachbarschaft völlig verändert. So existieren in der Stadt Räume, die nur noch lose mit ihrer direkten Umgebung korrespondieren. In den Niederlassungen transnationaler Unternehmen beispielsweise ist die Umgangssprache Englisch, der Kommunikationsraum global und die Mitarbeiter stammen aus vielen verschiedenen Ländern und werden vielleicht schon bald an einen anderen Ort versetzt.

Tatsächlich handelt es sich dabei um so etwas wie „Parallelgesellschaften“. Die erwähnten Personengruppen dürfen einerseits an ihren aktuellen Lebensmittelpunkten nicht am Leben der Polis und ihrer Gestaltung teilnehmen, ist doch die Ausübung von Rechten immer noch an Staatsangehörigkeit und Sesshaftigkeit geknüpft. Andererseits geben die Einwanderer ihre Bindungen an das Herkunftsland nicht mehr auf – schnelle Flugverbindungen, der dauerhafte Besitz von Wohneigentum und das Internet haben für stabile Netzwerke über Grenzen hinweg gesorgt. Diese diasporischen Geflechte bilden zum einen die Grundlage für weitere Einwanderung und zum anderen in zunehmendem Maße die Basis für unternehmerisches Handeln – in diesem Sinne titelte der „Economist“ im November 2011 „The world economy: the magic of diaporas“ und sprach sogar von einem rare bright spark – einem ungewöhnlich hellen Funken – im weltweiten wirtschaftlichen Geschehen.[6]

Im Grunde macht es daher wenig Sinn, die Urbanität wie in traditionellen Vorstellungen der Polis weiterhin am Maßstab der Sesshaftigkeit zu messen und eine vollständige Eingliederung in das Leben der Gemeinschaft zu fordern – vielmehr könnte Mobilität als neue Grundlage für Urbanität gelten, denn: Die traditionelle Polis ist längst auseinandergefallen, sie hat sich zu einer vielgliedrigen Parapolis entwickelt – das Wort bezeichnet die vage, quasi illegitime „para“-Version der Polis. Aber zudem verbirgt sich in dem Wort „para poli“, was „sehr viel“ heißt: Man könnte also von einem Ort des „sehr viel“ sprechen.[7] Dieser neue Ort beruht maßgeblich auf Bewegung und Uneindeutigkeit. Daher sollten bereits allein an das „Da-Sein“ von Personen in der Parapolis bestimmte Rechte gekoppelt werden, die so etwas ermöglichen wie eine Teilhabe im Vorübergehen, das „Recht auf einen Ort“.

Seitdem die deutsche Statistik auch das Kriterium des Migrationshintergrunds erfasst, ist auch der durchaus dramatische demographische Wandel ins Bewusstsein vorgedrungen – Kinder mit einer Einwanderungsgeschichte sind bei den unter 6jährigen in deutschen Städten bereits durchweg in der Mehrheit, in Frankfurt oder Nürnberg stellen sie einen Anteil von über 60 Prozent.[8]

Und angesichts des allgegenwärtigen Mangels an Fachkräften ist zu erwarten, dass in Zukunft weitere Einwanderung ermöglicht und sogar nachdrücklich gefördert wird. Denn in den Jahren zuvor war der gesamtdeutsche Saldo bekanntlich negativ – mehr Personen haben die Bundesrepublik verlassen als hinzu gezogen sind. Darüber hinaus muss es darum gehen, die Potentiale der vorhanden Bevölkerung zu entwickeln und auszuschöpfen. Das geht aber nur dann, wenn vorhandene Mechanismen der Privilegierung eines bestimmten Bevölkerungsteils und der Diskriminierung eines anderen bekämpft werden.

Auf der einen Seite stellt sich hier die Frage der Partizipation. Gerade angesichts der Finanzknappheit ist es insbesondere für die Kommunen überlebenswichtig, mehr Einwohnerinnen und Einwohner an der Gestaltung des urbanen Geschehens zu beteiligen. Dazu braucht es ein „Recht auf einen Ort“, Formen einer anational citizenship (Dora Kostakostopoulou).[9] Zum anderen stellt sich in Bezug auf die gesamte institutionelle Infrastruktur der Gesellschaft die Frage der Gerechtigkeit auf eine neue Weise. In der Parapolis müssen alle Gestaltungsansätze von der „Vielheit“ der Bevölkerung im urbanen Raum ausgehen: Inwiefern sind das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung, die Verwaltungen, die Kultureinrichtungen etc., aber auch die zivilgesellschaftlichen Träger wie Verbände oder Vereine von Fußball bis Karneval auf „Vielheit“ eingestellt? Tatsächlich ist das für die Organisation der Gesellschaft eine Überlebensfrage geworden.

Die „Vielheit“ der Gesellschaft und das „Programm Interkultur“

Die gängige Integrations-Praxis jedenfalls hat nicht nur wenig Erfolge gezeitigt, sie entspricht auch nicht mehr der aktuellen Situation: Was zum Beispiel ist die Norm, wenn zwei Drittel der Kinder einen Migrationshintergrund haben? Zudem haben etwa die sogenannten Sprachstandserhebungen gezeigt, dass keineswegs nur die nichtdeutschen Muttersprachler Mängel in der deutschen Sprache aufweisen, sondern auch über ein Viertel der Kinder aus Familien deutscher Herkunft – Entwicklungsrückstände lassen sich also nicht primär aus dem Migrationshintergrund ableiten, sondern vermutlich eher aus dem gesellschaftlichen Milieu.

Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass im deutschen Bildungssystem eine „institutionelle Diskriminierung“[10] existiert, eine selbstverständliche Bevorzugung von Kindern aus intakten bürgerlichen Kleinfamilien. In diesem Sinne muss sich die Blickrichtung umkehren. Es geht nicht länger um die kompensatorische Korrektur von Gruppen mit Defiziten, sondern um die „barrierefreie“ Umrüstung der Institutionen im Hinblick auf die „Vielheit“ der Gesellschaft – im Sinne des von mir vorgeschlagenen „Programms Interkultur“. [11] Es handelt sich dabei um einen strategischen Ansatz zur Veränderung von Institutionen und Einrichtungen, der im Gegensatz zu den herkömmlichen Vorstellungen von Integration nicht auf die „Korrektur“ einer angeblich problembeladenen Bevölkerungsgruppe zielt, sondern auf einen Wandel im Regelbetrieb. Dabei müssen im demokratischen Sinne Individuen im Mittelpunkt stehen, Individuen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, Hintergründen und Referenzrahmen.

Die Veränderung des Personalbestands in den öffentlichen Institutionen, aber auch in der Privatwirtschaft, ist dafür ein erster Schritt. In einer Stadt wie Frankfurt a. M., in der 40 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund haben, ist es nicht hinnehmbar, dass ihr Anteil in der städtischen Verwaltung bei nur zwei Prozent liegt. Dieses Ungleichgewicht ist inzwischen immerhin auch als Problem erkannt worden. In den großen Städten fanden oder finden in den Verwaltungen erstmals Erhebungen statt, um überhaupt ein Bild der herrschenden Verhältnisse zu erhalten. Im Ausbildungsbereich ist die Anzahl der Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte durch eine Reihe von Maßnahmen teilweise bereits stark angestiegen. In vielen Bundesländern und Kommunen wird von Seiten der Politik ein mehr oder minder expliziter Druck auf alle Einrichtungen ausgeübt, sich in Richtung einer interkulturellen Öffnung oder eines Diversity Managements zu orientieren. Waren ähnliche Bemühungen in den letzten Jahrzehnten zumeist Lippenbekenntnisse, handelt es sich aktuell um deutlich ernsthaftere Anstrengungen.

Das zeigt auch das Beispiel der Polizei: Gerade auf Landesebene sind bereits einige Polizeibehörden auf dem richtigen Weg. In den bevölkerungsstarken Bundesländern werben sie sehr bewusst Beamte mit Migrationshintergrund an – in Hessen etwa liegt ihr Anteil mittlerweile bei 17 Prozent. Die Behörden haben erkannt, dass Vertrauen – eine höchst relevante Ressource der Polizeiarbeit – nur dann hergestellt werden kann, wenn Beamte und Bevölkerung „übereinstimmen“. In einer Stadt wie Frankfurt kann eine Polizei nicht mehr funktionieren, die fast ausschließlich aus Beamten deutscher Herkunft besteht.

Vom „Modell Neukölln“ zum „Modell Stuttgart“

Eine solche Veränderung des Personalbestands kann jedoch nur ein Schritt auf dem Weg zur Lösung des Problems sein. Denn der Nutzen und die innovative Energie einer solchen flexibleren „Passung“ bleiben gering, wenn sich nicht auch die Organisationskultur der Institution oder Einrichtung ändert. Ändert sich das Personal eines Betriebes, ohne dass die Verteilung zwischen jenen, die schon immer „drin“ und damit die „Richtigen“ waren, und jenen, die „hinzu gekommen“ sind, aufgebrochen wird, dann bleibt der Betrieb statisch und die „Neuen“ passen sich wahlweise an oder scheiden schnell wieder aus. Um auf das Beispiel der Polizei zurückzukommen: Der bereits erwähnte ehemalige Leiter der Münchener Mordkommission meinte im Interview, für die Recherchen im lange verdächtigen „Milieu“ der Kleinunternehmer türkischer Herkunft seien auch „türkische Polizeibeamte“ eingesetzt worden.[12] Es handelt sich also seiner Auffassung nach nicht um deutsche Beamte, die türkisch sprechen, sondern um „türkische Beamte“. Diese kommen offenbar primär dann zum Einsatz, wenn es notwendig erscheint, die Sprache von Delinquenten zu verstehen. Die Wahrnehmungsroutinen bleiben dabei jedoch völlig intakt: Es ist klar, welche Personengruppe unter Verdacht steht, und die Beamten nichtdeutscher Herkunft gehören eigentlich zu einem „ausländischen“ Kontext („Bosporus“) und werden entsprechend für einen bestimmten Zweck instrumentalisiert.

Nun ist dieses Beispiel keineswegs auf alle Polizeibehörden verallgemeinerbar. Dennoch zeigt es die Notwendigkeit, auch den Wandel der Organisationskultur aktiv anzugehen: Nötig ist eine differenziertere Wahrnehmung und mehr Individualisierung im Betrieb. Personen, die sich reduziert und instrumentalisiert fühlen, sind eben nicht in der Lage, ihr Potential voll auszuschöpfen und suchen sich schnell ein anderes Betätigungsfeld – das kann nicht im Interesse der Institutionen liegen.

Indem sich die angestrebte Veränderung der Regelstrukturen auf ein „barrierefreies“ Umfeld richtet, kommt sie am Ende der ganzen Bevölkerung zugute. Die vorhandenen Strukturen der Defizitbekämpfung in Sachen Integration sollten dabei keineswegs schlicht abgebaut werden, sondern das in diesen Strukturen erworbene Know-How muss in die Arbeit des Regelbetriebs eingehen. 

Ein solches Programm „Interkultur“ ist nicht in erster Linie eine Frage des Geldes – im Vordergrund steht der Wille, eine neue Realität zu akzeptieren, alte Strukturen zu verändern, vorhandene Arbeitsfelder neu zu vernetzen und zu koordinieren.

Dieser politische Wille kann sich etablieren, wenn man neue, funktionierende Modelle für die Einwanderungsgesellschaft findet. Heute wird Einwanderung in Deutschland gerne am „Modell Neukölln“ diskutiert – unter Betonung der negativen Konsequenzen. Aber Berlin-Neukölln ist ein sehr spezieller Fall. Die meisten Städte mit einem hohen Anteil an Einwohnern mit Migrationshintergrund sind dagegen wirtschaftlich erfolgreich. Man sollte daher auch häufiger über das „Modell Stuttgart“ sprechen.

Fest steht: In der Vielheit der Urbanität liegen die Bedingungen für einen Prozess, der eine neue Gemeinschaftlichkeit der Zukunft erst ermöglicht. Der Nationalstaat mit seiner Fixierung auf die Vergangenheit hat dagegen als einheitlicher Bezugspunkt für die Einwanderungsgesellschaft ausgedient.

 

[1] „Gegen Neonazis: was jetzt zu tun ist“, in: „die tageszeitung“, 21.11.2011, dokumentiert auch auf www.blaetter.de.

[2] Vgl. Mark Terkessidis, Psychologie des Rassismus, Opladen 1998, S. 83 ff.

[3] „Ist Vielfalt besser?“, Podiumsdiskussion im Historischen Museum Hannover am 14.11.2011.

[4] „Zu viele sind zuständig“, in: „die tageszeitung“, 16.11.2011.

[5] Vgl. William Macpherson, The Stephen Lawrence Inquiry, Februar 1999, www.archive.official-documents.co.uk/document/cm42/4262/4262.htm.

[6] In: „The Economist“, 19.11.2011. Vgl. auch Robert Guest, Borderless Economics. Chinese Sea Turtles, Indian Fridges and the New Fruits of Global Capitalism, New York 2011.

[7] Tom Holert und Mark Terkessidis, Fliehkraft – Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen, Köln 2006.

[8] 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin 2010, S. 54.

[9] Dora Kostakostopoulou, The Future Governance of Citizenship, Cambridge 2008.

[10] Vgl. Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskriminierung, Opladen 2002.

[11] Vgl. dazu Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin 2010.

[12] „Zu viele sind zuständig“, in: „die tageszeitung“, 16.11.2011.

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