Moral, für bare Münze genommen

»Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Pop ist Puderzucker auf Problemen. So lehrt Pop die Politik, wie man die Welt pudert. Mit Musik jenseits der K(r)ampflieder - etwa von Lady Gaga, als der First Lady einer Welt ganz aus zynischer Leichtlebigkeit. Die Show ist der Austragungsort für die Dinge der entscheidenden Art. Entscheidend ist nur, wer die Musik bezahlen kann. Die Musik für den Tanz ums Goldene Kalb, die Musik für den Totentanz. Claire Zachanassian kann bezahlen, sie gibt den Ton an, und sie singt immer wieder: Lady Gaga, begleitet von Thies Mynther, live am Klavier in der Seitenloge. Claire singt für alle, denn in dieser Welt sind alle gleich, ob oben oder unten - noch wer sich nach der Decke streckt, will den Platz an der Sonne. Claire ist die Besitzerin aller Plätze. Sie spielt Sonne. Allen wird bald ein Licht aufgehen.

Milliardärin Claire Zachanassian, einst Kläre Wäscher, kehrt in ihren heruntergekommenen Heimatort Güllen zurück. Sie wird dem maroden Ort eine Milliarde schenken - wenn einer Alfred Ill tötet, ihren einstigen Geliebten, der sie verführte, der seine Vaterschaft leugnete und die mittellose Kläre ins Dasein einer Nutte trieb. »Die Welt machte mich zu einer Hure, jetzt mache ich sie zu einem Bordell.« Natürlich wird niemand Ill töten - man hat ja Ehre. Vorläufig noch. Keiner verfällt der Verlockung durch Geld. Jedenfalls nicht gleich - Kredite freilich nimmt man schon mal eifrig auf. Alle stehen hinter Ill - um ihn absehbar in die Arena des Aburteils zu stoßen.

»Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt am Deutschen Theater Berlin, Regie: Bastian Kraft. Die alte Dame, das sind hier fünf Grazien der generösen Gier, der gierig bleibenden Generosität: Margit Bendokat, Barbara Schnitzler, Olivia Gräser, Katharina Matz, Helmut Mooshammer. Mephistophelisch rotperückt, die Kleider glitzernde Schwarz-Weiß-Variationen zwischen Raffinement und ordinärem Varieté. Lauernder, listiger, lasziver, ludernder, lümmelnder Chor-Geist. Man spielt Staffelrennen: Die Melancholische übergibt an die Mütterliche, die Machtvolle an die Menschelnde, die Matadorin an die Müdgewordene - ein Reigen aber der unerbittlichsten Regel: dass Gerechtigkeit eine Ware ist wie alles. Die Fünf spielen auch Güllens gesellschaftliche Elite, den Bürgermeister, den Pfarrer, den Lehrer, das ganze äffische Personal der flotten Verwandlung - von Menschen in Mörder. Der Markt richtet’s, und der Mensch richtet hin.

Fast sechzig Jahre alt ist Dürrenmatts Parabel, und immer wurde Güllen zum Projektionsort eines aktuellen Notstandes, sei es in irgendeiner wirtschaftlich abgehängten Westprovinz oder zuletzt im verkaufsoffenen Bruchland der Ex-DDR. Bastian Kraft errichtet im Bühnenbild von Simeon Meier, zwischen expressionistisch gezackten Linien, eine Parade zeitloser Reflexe, die noch in jedem Rest einer menschlichen Regung von der Barbarei der fühllosen Rechnungslegung erzählt.

Ulrich Matthes als Alfred Ill kommt aus dem Publikum. Ein Fremder auf der Bühne des kurzen Prozesses. Ein Ungläubiger vorm Altar seiner eigenen Opferung. Als habe man einen Zuschauer ins Scheinwerferlicht gebeten, und er darf sich nun verwundert umsehen in seltsamen Vorgängen, die ihn nichts angehen. Aha, so also geht Theater. Und Matthes sieht sich um, er ist wahrlich ein Verwunderter - es dauert, bis er sich als Verwundeten begreift. Es ist eine Wunde zum Tode hin, gar nicht seine, sondern das gebrochene Herz seiner einstigen Geliebten. Es schlägt schon lange nicht mehr, aber es schlägt zurück. Es wird Alfred gleichsam erschlagen. Und dessen eigenes Herz? Klopft ihm die letzte Wahrheit zu, die ihn nun einholt: dass Herzversagen keine Todesart, sondern eine Lebensweise ist.

Der Mut des Schauspielers in dieser Inszenierung liegt in der ausdauernden Kraft, lange Zeit gar nicht anwesend zu sein in dem, was auf ihn zurollt. Er lächelt noch immer versonnen in die Vergangenheit der Jugendliebe hinein, da doch längst beschlossen ist, dass er keine Zukunft hat. Nicht, dass Matthes nichts spielt, er spielt Nichts, und das wird diesen Alfred besiegen. Matthes nimmt sich geradezu kühn zurück, der einzige, der sich nicht inszeniert. So steht der Mensch ahnungslos unter dem, was sich über ihm zusammenbraut.

Knallhart grotesk wird das abgespult. Schaurig schnell. Konsequent untraurig. Hemmungslos beschwingt. Fatalistisch flink. Bilderbogen. Moritat. »Cabaret« lässt grüßen, und Dürrenmatt hat absolut das Zeug zum Brechtschen Lehrstück. Die Lehre von der unabweisbaren Leere: Der Terror der Erinnerung bleibt immer gegenwärtig, die Last des Unvergessenen liegt immerdar auf uns. Von den Gespenstern wissen wir nichts, bis sie in stiller Nacht an die Wand klopfen. Oder aus einem Zug steigen wie Claire. Es ist das Verdrängte, das eines Tages dasteht und sagt: Mich gibt’s noch. Matthes spielt sparsamst verblüfft eine grundlegende Wahrheit: Wir gewinnen an Bewusstsein, was wir an Existenz verlieren.

Dieser Alfred trägt einen irgendwie mausgrauen Anzug, ausgewaschen hell das T-Shirt, mausgrau, ausgewaschen auch das Gemüt. Immer öfter bleibt ihm der Mund offen stehen. Irgendwann - die nächste Stufe kühner Zurücknahme - schaut Alfred nicht mehr um sich, sondern nur noch in sich hinein. Entdeckt sich als wesenlos, beurkundet sich als verpfuscht. Da eine Geste der moralischen Empörung, dann ein Schrei der Gegenwehr, mal die Wut der Ohnmacht, mal die Hysterie der Ausweglosigkeit oder das Brüllen der Angst, es bleibt jeweils nur eine kurze Übergangsphase ins Einverständnis - mit dem Tod. Es ist ihm ein erlösendes Einverständnis, aber es ist zugleich ein erzwungenes; Güllens Bürger assoziieren die Inquisition des Kollektivismus, der Recht spricht, indem er falsche Selbstanklagen herauspresst. Alfred Ill sitzt auf seinem Sarg, fragt noch einmal hoffend, ob nicht doch alles nur ein Spiel sei. Nein. Die Kulissen geben jetzt den weißen Rundhorizont frei, das Damenquintett schminkt sich ab, das nackte unschöne Gesicht der Abrechnung, die Fünf werfen die Perücken weg, umringen maskenlos Alfred Ill, so, wie eine fleischfressende Pflanze ihre Blütenkelche ums Opfer schließt.

Beängstigende Beiläufigkeit. Knapp, ohne jene sanft absteigenden Stufen, die erst am Ende eine Fallhöhe ergeben werden, ohne psychologische Zwischenschritte, in denen sich der Kampf zwischen Solidarität und Gier hochtouren und steigern und eine Tragödie offenbaren kann, also ohne jede Verzögerung jagt diese Inszenierung aufs Grundgesetz zu: Moral ist eine Frage des Preises, sie wird in dieser Welt, unserer Welt treulich ernst genommen, besser gesagt: Sie wird für bare Münze genommen. Alles Sein ist falsch, allein der Schein, der knistert, trügt nicht. Besuch der alten Wahrheit, der das Leben nicht ausgeht.

Nächste Vorstellungen: 29. April, 6. Mai.

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