Die irrationalste Regung

Musik Aktuelle Musik und Liebeslieder – geht das überhaupt zusammen? Das Ensemble Recherche hat es ausgetestet
Ausgabe 17/2014

Die Idee des Ensemble Recherche überzeugt sofort: Wer Komponisten aktueller Musik bittet, Liebeslieder zu komponieren, rührt an einen wunden Punkt. Erstens ist „Liebe in Zeiten des Serialismus schwer vorstellbar“, wie die Musiker aus Freiburg im Beiheft zu ihrer CD schreiben: Wie kann sich „zwischen Fibonacci-Reihe und Klangsynthese die wohl irrationalste aller menschlichen Regungen breit machen“? Zweitens liegt ein Tabu auf dieser Regung, die man mit „Harmonie, Wohlklang, happy end“ assoziiert, was nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gut möglich schien. Im Schlager konnte man das machen, aber nicht im Konzertsaal, dessen Besucher sich irgendwie als Repräsentanten gesellschaftlicher Werte fühlen.

Nun liegt das Ergebnis der Anfrage des Ensemble Recherche in zwei CDs vor, und es haben sich namhafte Komponisten wie Enno Poppe, Jörg Widmann und Hans Zender beteiligt. Man ist zunächst erstaunt, dass nur „Lieder ohne Worte“ bestellt worden sind. Aber es war richtig, denn so fällt es leichter, die verschiedenen musikalischen Ansätze zu vergleichen. Außerdem hatten die Komponisten mehr Freiheit, ihre ganz individuellen Gefühle einzubringen. Man könnte auch sagen, sie waren mehr gezwungen, ihre Haltung zum erwähnten Gefühls-Tabu zu offenbaren.

Was herauskam, 30 Einsendungen, lässt sich kaum auf einen Nenner bringen. Aber zwei Tendenzen fallen auf. Da gibt es welche, die sich im Sinn des Bibelsatzes „Gott ist Liebe“ auf Liebe im universellen oder eschatologischen Sinn zurückziehen. So Walter Zimmermann, bei dem schon der Titel darauf hinweist: AFUGAPE, worin FUGA steckt, die musikalische Form, und AGAPE, das altgriechische Wort, das die Bibel für die himmlische statt irdische Liebe verwendet. Was wir hören, ist denn auch in kalte Ferne gerückt wie der Engel in Rilkes Duineser Elegien. Diese Ferne war der seriellen Musik eigen, weshalb man denkt, sie kannte niemals Liebeslieder. Das stimmt nicht: Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Dieter Schnebel haben welche komponiert.

Die andere Tendenz ist, dass irdische Liebe, Eros statt Agape, sich jugendlich zeigt, ohne aber recht dem verwendeten musikalischen Material zu entsprechen. So gibt es Tanz- und andere erotische Klänge bei Lucia Ronchetti, die ganz sicher ihre eigene Lebendigkeit ausstellt, es aber doch nur so komponieren kann, dass es wie eine Persiflage klingt. Desgleichen bei Jörg Widmann, obwohl er umgekehrt die gewohnte Musiksprache der Avantgarde hervorkehrt. Wenn er aber die Violine singen oder Leidenschaft ausbrechen lässt, wirkt auch das wie Ironie. Nur einmal gelingt es, Eros und Agape zusammenzubringen. Hans Zenders Stück Alfabet (Kamasutra) ist das bedeutendste der Sammlung. Die Idee ist im Titel angedeutet: Nicht nur Neue Musik klingt ungewohnt und fordert logische Strenge, auch sinnliche Liebe will gekonnt sein und setzt die liebenden Körper unerwarteten Erfahrungen aus. Zender fordert daher den Instrumentalisten Spielweisen ab, die kaum zu bewältigen sind. Was die Agape angeht, sind wir bestenfalls beim Üben.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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