Die Linie im Diagramm der Künstlerhitparade Artfacts, der Handelsplattform für Kunst im Internet, zeigt steil nach oben. Kontinuierlich steigt die Fieberkurve der Beachtung, die Liga der oberen Zehntausend ist erreicht.
Erstaunlich für einen, der sich nicht rund um die Uhr und hauptberuflich um seinen Ruf als bildender Künstler kümmert. Andreas Seltzer ist der Phänotyp des leidenschaftlichen Dilettanten. Er ist Psychotopografiker, Kartograf, Sammler und Archivar von Trivial- und Alltagsmythen. Zeichner, Schriftsteller und Journalist. Oberbegriff: Künstler. Status: kultivierter Outsider.
1943 in Danzig geboren, studierte Seltzer Typografie, Grafikdesign und Malerei an der Kunsthochschule in Berlin. Das war, bevor er Fahnenträger eines wilden und assozia
r eines wilden und assoziativen Denkens wurde, geboren aus der Wut auf ein exklusives bourgeoises Bildungsbürgertum, mit seinem festen Wertekanon aus Hoch- und Populärkultur.Mit Volksfoto. Zeitung für Fotografie gaben Andreas Seltzer und Dieter Hacker von 1976 bis 1980 dem allgemeinen Unbewussten, westdeutschen und Berliner Empfindsamkeiten eine medienanalytische Form. Volksfoto systematisierte geknipste, an die Redaktion geschickte sowie gefundene Fotos, kombinierte diese mit öffentlichen Bildern, eigenen und fremden Texten. Wenn Opa Kl. Sch. aus B. sich nackt als Leserliebling auf dem Sofa räkelte, Christel Burmeier von ihrem ersten Mal als Aktmodel berichtete oder den Graffitispuren des Sendermanns nachgegangen wurde, dann geschah dies im Namen des Volkes. So ist Seltzer (mit Hacker) neben Klaus Theweleit (Männerphantasien), Dieter Roth (Zeitschrift für Alles) und Hans-Peter Feldmann (Bilder) ein weiterer Säulenheiliger, was den (ver)öffentlich(t)en Umgang mit Bild-und Textmaterial betrifft. Seltzer und Hacker schufen mit ihren Publikationen eine Folie für eine fröhlich vergleichende Bildwissenschaft, wie Fanzines sie in den Siebzigern und Achtzigern bundesweit nutzten.Satt macht das nichtIn den Achtzigern folgte Dieter Hacker dem Erfolg versprechenden Ruf der wilden Malerei. Andreas Seltzer aber blieb ein Netzwerker zwischen Bild und Wort. Beide in Berlin. Jetzt sind zwei neue Publikationen von Andreas Seltzer erschienen. Ausgehend vom Pariser Hitzesommer 2003, mit mehreren tausend Toten, entwirft Andreas Seltzer ein literarisches Szenario. In mattschwarzes Leinen gebunden, mit schwarz lackiertem Prägedruck und kunstvoll versetzten Schmucklinien ist dies zunächst ein haptischer Genuss. Der Titel Die Hitze in Paris in roter Fraktur-Schrift erinnert an Hitlers Mein Kampf. Innen dann Texte, von Tommaso Campanellas Sonnenstadt aus dem 17. Jahrhundert bis zu Georges Bataille und der Hitze der Nacht, der sich der Schriftsteller nackt angleicht. Seltzer rekurriert auf Gustav Flauberts Traurigkeit heißer Sommertage und Ferdinand Célines biologischen Offenbarungseid bei Hitze und streift von dort weiter ins 21. Jahrhundert zu Jennifer Bennett und ihrer Übermalung von Stadtplänen.Die Texte mäandern assoziativ durch die Pariser Straßen des Umsturzes, die Plätze der Verzweifelung, Dachkammern der Wissenschaft und Ladeflächen des Sexus. Vereint in der Katastrophe einer lebensbedrohenden Erderhitzung. Das Wort Klimakatastrophe wird hier in seiner literarischen Dimension ausgelotet und von Fotos, fotografierten Fundstücken, Handschriftlichem, Paris-Karten, Wissenschaftsfotos, Zeichnungen und Piktogrammen begleitet. Das Buch macht nicht satt, aber neugierig.Im Appendix befindet sich eine Tasche mit drei reproduzierten Zeichnungen – ein weiteres Standbein von Andreas Seltzer. Seine bis zu 122 mal 88 Zentimeter großen Paris-Zeichnungen können als innere Stadtpläne des Künstlers gelesen werden, aufgeladen durch seinen manisch intensiven, kugelschreiberfarbenen Pointillismus. Da wimmelt es zwischen rot gerädertem Wegenetz von miniaturhaften Architekturen, Masken, tierischen und menschlichen Szenerien. Dazu eine Legende, die kein Mensch lesen mag – hier spricht einzig die Form: durchgearbeitet-manisch-faszinierend.In der Städtischen Galerie Waldkraiburg wurden gerade 160 Zeichnungen aus seinem Jules-Verne-Zyklus Die Reise zum Mittelpunkt der Erde gezeigt, dazu ist ein Katalog erschienen. Diese Verne-Arbeiten sind den Paris-Zeichnungen in der Machart ähnlich, werden aber durch handschriftliche Text-Strukturen miteinander verknüpft, die wiederum von schematischen Aufschnitten und diagrammartigen Grafiken durchbrochen werden.Damit liegt Seltzer irgendwo zwischen der Comicwelt eines Marc Beyer und den Rebus-Zeichnungen von Heinz Emigholz. Auch hier konkurriert die Linearität von Schrift – Jules Vernes handschriftlich transkribierte Textfragmente – mit der Fläche der bildlichen Darstellung. Wenn blaue Kino-Sitzplatzaufsichten von gelben Sprechblasen durchbrochen und von roter Schrift umrandet werden, Textfelder sich mit Schnee- und Wolkenstrukturen, pflanzlichen und organischen Wucherungen verweben, dann verlangen die miteinander konkurrierenden Darstellungsformen die ganze Aufmerksamkeit des Betrachtes und ziehen ihn so in ihren Bann. Es sind kleine (21 mal 30 Zentimeter) Meisterwerke im Sinne einer Art-Brut-Kunst.„Der Genius des Forschers beseelte mich. Ich vergaß die Vergangenheit und verachtete die Zukunft“, heißt es in Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde. Eine rauschhafte Selbstvergessenheit, wie sie auch beim intensiven Zeichnen auftritt. Andreas Seltzer zeichnet persönliche Pläne und Karten für uns – und um sich diese selbst auszulegen. So verschafft er sich einen Überblick. Und kennzeichnet den schmalen Grat zwischen privat und persönlich. Seine Kritik, sich nicht von (volkstümelden) Bildern beherrschen zu lassen, indem man sie neu zusammenstellt und betextet, ist eine Seite. Die andere: sich selbst ein Bild zu machen, indem er selbst (zeichnend) Hand anlegt. So zeigt er vorbildlich, wie man sich Übersicht verschafft im Herstellen psychotopografischer Karten – und als Lektor von Volks- und Trivialmythen.