Es ist meist ein aufschlussreicher Moment, wenn diejenigen, die von anderen die Achtung bestimmter Regeln fordern, beim Bruch derselben ertappt werden. Dies gilt in doppelter Hinsicht: Es untergräbt die Stellung derer, die eben noch den Zeigefinger erhoben haben, wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf die Regeln selbst und lässt fragen: Was sind das für Prinzipien, warum werden sie geltend gemacht? Sind sie wirklich so unumstößlich?
Der Rücktritt der niederländischen Regierung gibt Anlass zu solchen Fragen. Denn gescheitert ist das Kabinett von Premier Mark Rutte an einem Sparpaket, das vorrangig einem Zweck dienen sollte: die Neuverschuldung unter die Drei-Prozent-Marke zu bringen, wie das die EU-Stabilitätskriterien vorgeben. Gescheitert ist es ebenso an der Duldung durch einen Populisten wie Geert Wilders von der fremdenfeindlichen Freiheitpartei, der das Weite sucht, wenn es unpopulär wird.
Vom Kurshalten in schwierigen Zeiten sprach der abgetretene Regierungschef noch im vergangenen Herbst, als er mit Amtskollegen im Europäischen Rat über die Euro-Rettung verhandelte. Nur strikte Haushaltsdisziplin könne den Euro erhalten, so die Botschaft aus den Niederlanden. Rutte und sein Finanzminister Jan Kees de Jager waren mit Kanzlerin Merkel die forschesten Bannerträger der Austerität.
Diese Vehemenz hat mit der Demission der Regierung deutlich an Glaubwürdigkeit verloren, zumal für die Opposition der Fiskalpakt längst nicht in Stein gemeißelt ist. Auf der politischen Bühne in Den Haag spielen sich Szenen ab, wie sie aus anderen Euro-Staaten gut bekannt sind. Man verweist auf Ausnahmen beim Stabilitätsdogma und sucht nach Hintertürchen, um dem Bußgeldbescheid aus Brüssel wegen der neuen Schulden zu entgehen. Noch Ende 2011 hatte sich Premier Rutte freilich für einen EU-Finanzkommissar eingesetzt, der mehr Rechte brauche, um Sanktionen gegen Defizitsünder zu verhängen. Ein halbes Jahr danach laufen die Protagonisten dieses Strafsystems „ins eigene Messer“, wie ein Abgeordneter in der Krisen-Debatte im Parlament anmerkte.
Die Regierung Merkel büßt durch die Haager Turbulenzen einen der treuesten Partner ein. Die Rolle eines Zuchtmeisters der Austerität wird Berlin bis auf weiteres allein spielen müssen. Ohne ihren Sidekick Rutte ist Merkels Position dabei objektiv geschwächt, auch weil die niederländische Regierungskrise einem Offenbarungseid gleichkommt: Augenscheinlich müssen immer mehr Mitgliedsländer der EU nach den Anstrengungen multipler Bankenrettungen vor den jetzigen Sparauflagen kapitulieren. Zieht man aus diesem Umstand andere Konsequenzen, als auf Austerität zu beharren?
Der Absturz der Haager Regierung lässt auch das Vorurteil wanken, wonach die verluderten EU-Südländer ihre Finanzmisere sich selbst und ihrem lässigen Lebenswandel zu verdanken hätten. Nun aber sind, um im Duktus der Stereotype zu bleiben, ausgerechnet die strebsamen niederländischen Calvinisten ins Straucheln geraten. In Den Haag werden dieser Tage Forderungen laut, in der Haushaltspolitik andere Kriterien zu setzen. Langfristige, nachhaltige und nicht zuletzt soziale. Der anstehende Wahlkampf gibt Raum und Zeit, ihnen Gehör zu verschaffen.
Ins eigene Fleisch
Tobias Müller über das Scheitern der niederländischen Regierung