Ausgabe April 2012

Normiertes Studieren

Die vermarktete Hochschule

Rund 2,4 Millionen Studentinnen und Studenten gibt es derzeit in der Bundesrepublik – so viele wie nie zuvor. Allein im vergangenen Jahr nahmen rund 517 000 Menschen ein Studium auf, 16,2 Prozent mehr als noch 2010. Diesem Ansturm sind die Universitäten immer weniger gewachsen, angesichts des hohen Spardrucks seitens der Politik und infolge der europäischen Vereinheitlichung des Hochschulbetriebs. Die Leidtragenden sind in erster Linie die Studierenden: Franziska Grell und Fabian Raith weisen nach, wie das Effizienzdenken das Lehrangebot mehr und mehr aushöhlt und zugleich den Leistungsdruck um ein Vielfaches erhöht.

Darüber hinaus geht der universitäre Wettbewerb aber auch immer mehr zu Lasten kritischer Wissenschaft, worauf bereits Andreas Fischer-Lescano in der März-Ausgabe der „Blätter“ für die Rechtswissenschaften hingewiesen hat. Tim Engartner analysiert im Folgenden die herrschende Personalpolitik an den deutschen Universitäten, deren chronische Unterfinanzierung die Zahl der befristeten und schlecht bezahlten Stellen dramatisch hat ansteigen lassen – mit fatalen Folgen. – D. Red.

Die bundesdeutschen Hochschulen stecken in einer tiefen Krise. Eine der Hauptursachen dafür ist der wachsende Konkurrenzdruck zwischen den Universitäten. Darüber hinaus ist der Unibetrieb vielerorts bereits von Finanzspritzen externer Geldgeber abhängig. Unabhängige Forschung und Lehre werden damit zunehmend zur Luxusware. Den ökonomischen Druck bekommen insbesondere die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu spüren.

Für diese Entwicklung stehen exemplarisch die jüngsten Reformen am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität in Berlin. Ein 2010 veröffentlichtes Peer-Review-Gutachtenverglich das hierzulande größte politikwissenschaftliche Institut mit einem „Gemischtwarenladen“, dessen langfristige Finanzierung nur durch eine Straffung des Lehrangebots gewährleistet werden kann. Dieses Gutachten bildete die Grundlage für die neue Studienordnung des OSI. Die Folgen der Reformbemühungen konnten dramatischer kaum ausfallen: Das Lehrangebot wurde erheblich reduziert; die Einsparungen treffen dabei die Grundlagenausbildung, vor allem im Bereich der ideengeschichtlichen Theorie, der kritischen Ökonomie und der Afrikaforschung. Auf diese Weise manifestiert sich auch an dem renommierten Berliner Institut ein bundesweiter Trend, in dessen Folge die „permanente Antizipation der durch Macht, Markt und Geld bestimmten ‚gesellschaftlichen Interessen‘“[1] das akademische Denken und Handeln bestimmt. Dabei unterwerfen sich die Hochschulen den Regeln des universitären Wettbewerbs, in dem Rankings der entscheidende Maßstab sind. Zugleich reduzieren sie ihre gesellschaftliche Funktion darauf, ökonomisch verwertbares Wissens zu produzieren. Die marktförmigen Anpassungen kommen indes weniger den Studierenden, sondern vielmehr den Unternehmen zugute, die in den Hochschulen vor allem eine Ausbildungsstätte für die Arbeitnehmerschaft von Morgen sehen.

Die Ökonomisierung der Hochschulen nahm bereits in den 1990er Jahren ihren Anfang. Angesichts knapper Kassen räumte die Politik den Universitäten damals mehr inhaltliche und wirtschaftliche Freiheiten ein. Im Zuge dieses Prozesses wurden die inneruniversitären Organisationsstrukturen reformiert. Dabei setzte man zum einen sogenannte Hochschulräte ein, deren Aufgabe die engere Verzahnung von Hochschulen und Gesellschaft war. Zum anderen fand ein Paradigmenwechsel im Finanzierungsmodell der Universitäten statt: So beschloss die Kultusministerkonferenz 1994 unter dem Titel „11 Thesen zur Stärkung der Finanzautonomie der Hochschulen“ eine stärker leistungsbasierte Finanzierung der Universitären.[2] Damit erfolgte die Umstellung von einem inkrementalistischen Finanzierungsmodell – das eine relativ stabile Förderung garantierte – auf ein indikatorbasiertes Vertragsmodell zwischen dem jeweiligen Land und der einzelnen Hochschule.

Ursprünglich sollten die Hochschulräte die Präsidien hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung und ihrer Wirtschaftlichkeit beraten. Allerdings etablierten sie sich rasch als einflussreiche Beratungs- und Kontrollgremien. Gesetze wie das niedersächsische „Hochschulfreiheitsgesetz“ haben den Hochschulräten gar die Form von Aufsichtsräten gegeben und ihnen weitreichende Kompetenzen eingeräumt.

Ob die Räte dabei ihrem eigentlichen Anspruch – der Vertretung gesamtgesellschaftlicher Interessen bei der Hochschulentwicklung – nachkommen können, ist angesichts ihrer Zusammensetzung jedoch überaus fraglich: In den Gremien bilden die Hochschulmitarbeiter mit 41 Prozent zwar die größte Gruppe, ein Drittel der Mitglieder stammt jedoch aus Unternehmen und lediglich ein Prozent wird von Gewerkschaften entsandt.[3] Entsprechend frohlockte das „Handelsblatt“: „Manager erobern Kontrolle an den Unis.“[4]

Die erweiterte Autonomie der Hochschulen hat darüber hinaus zu einem massiven Demokratieabbau innerhalb der Universitäten geführt. Bei wichtigen Entscheidungen werden Hochschulgremien der akademischen Selbstverwaltung zunehmend umgangen – insbesondere bei der Bewilligung von Drittmitteln. Gerade diese bilden jedoch ein Einfallstor für Partikularinteressen. Mehr noch: Inzwischen sind zahlreiche Hochschulen sogar darauf angewiesen, durch externe Forschungsaufträge Gelder zu akquirieren – mit der Folge, dass wirtschaftsfreundliche Forschung bevorzugt wird, die zudem eher der Bestätigung gewünschter Ergebnisse denn wirklichem Erkenntnisgewinn dient.

Um so erstaunlicher ist es, dass die zunehmende Drittmittelförderung – abgesehen von umstrittenen Sponsoringaktionen wie der Eröffnung des ALDI-Hörsaals in Würzburg – kaum in der öffentlichen Debatte präsent sind. Dieses System, das die Wissenschaftsfreiheit an den Hochschulen unterhöhlt, wird von den Bundesländern de facto sogar subventioniert. Denn das erfolgreiche Einwerben von Drittmitteln gilt längst auch als Indikator für die leistungsabhängige Mittelverteilung – und wird mit weiteren Zuschüssen aus den öffentlichen Haushalten belohnt.

Von einem solchem Bonussystem profitieren darüber hinaus vor allem die größeren und ohnehin finanzstarken Universitäten. Sie sind im Kampf um Wirtschaftsförderung besser aufgestellt als kleinere Universitäten mit vergleichsweise wenigen Studierenden. So geht beispielsweise die erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln der Universität Jena zu Lasten anderer Thüringer Hochschulen, die zumeist in strukturschwachen Gebieten liegen und dringend auf zusätzliche finanzielle Unterstützung angewiesen wären.

Wie ein Katalysator wirkt in dieser Hinsicht auch die Exzellenzinitiative des Bundes, die ausgewählte Hochschulen zu Spitzenunis aufbauen soll. Als entscheidendes Kriterium für die weitere öffentliche Förderung gilt hier ebenfalls eine möglichst hohe Summe an eingeworbenen Drittmitteln.

Die „autonomen“ Hochschulen

Allerdings schränkt nicht nur die neue Abhängigkeit von Drittmitteln die Autonomie der Universitäten massiv ein. Sogenannte Zielvereinbarungen zwischen Land und Universität zwingen die Hochschulen zudem, ihre Kapazitäten zu „managen“. Längst müssen sich Universitäten auch daran messen lassen, wie hoch die Zahl der ausgebildeten Akademikerinnen und Akademiker ist. Diese Quote ist der zweite feste Bestandteil jedes Indikatormodells zur Hochschulfinanzierung. Sie soll auch bei finanziellen Kürzungen möglichst hoch ausfallen.

Den Universitäten bleibt vor diesem Hintergrund kaum eine andere Wahl, als die weniger nachgefragten Studiengänge und Lehrstühle – allen voran die sogenannten Orchideenfächer – zu streichen und die so freigesetzten Finanzmittel auf andere Studiengänge umzuschichten. Auf diese Weise werden die Lehrangebote der Universitäten reihenweise ausgedünnt. Allerorten lautet die Devise: Verengung der Lehre statt wissenschaftlicher Breite, Popularität statt Nische. In Erfurt fiel diesem Trend jüngst die Hauptstudienrichtung Romanistik zum Opfer, in Leipzig steht das pharmazeutische Institut vor dem Aus und in Göttingen wird der Studiengang Medienwissenschaft abgewickelt.

Besonders hart trifft es die Politikwissenschaften. An der FU Berlin erfolgte die Streichung der Rechtsextremismusforschung – eine dramatische Fehlentscheidung angesichts der jüngsten Erkenntnisse um die Mordserie der Zwickauer Zelle. Auch andernorts droht eine massive Verengung: Der Studiengang „Internationale Beziehungen“ an der TU Dresden steht nur noch wenigen Auserwählten offen. Jedes Jahr siebt die Hochschule aus über 700 Bewerbern gerade einmal 35 Studierende mit einem 1,0-Abitur aus. Andere Hochschulen sind auf diesen Zug aufgesprungen und richten entsprechende Elite-Studiengänge ein. Ein „angenehmer“ Nebeneffekt für die Unis: Studienangebote wie „Internationale Beziehungen“ können sich zumeist fast vollständig mit Hilfe eingeworbener Mittel aus Wirtschaft und Politik finanzieren.

Kolonialisierung der Universitäten

In der Regel geht der Ausbau „populärer“ Fachrichtungen zu Lasten der theoretischen Grundausbildung, da sich die Hochschulen zugleich auf die praktische Ausrichtung der Studiengänge konzentrieren. Die Ökonomisierung der Hochschulfinanzierung hat zudem zur Folge, dass kanonisierte Denkschulen Einzug in die Vorlesungssäle halten. Damit hat sich eine Abwärtsspirale der „Kolonialisierung [der Universitäten] durch Politik und Ökonomie“[5] in Gang gesetzt, die kaum noch aufzuhalten scheint.

Besonders die Studierenden kämpfen derzeit mit den Folgen dieser Entwicklung. Neben der Verschulung der Studiengänge verschlechtert sich das Betreuungsverhältnis an den Hochschulen, gerade in den wirtschaftlich weniger relevanten Fachrichtungen. Hatte ein Professor der Sprach- und Kulturwissenschaften beispielsweise 1980 durchschnittlich 49 Studierende zu betreuen, so stieg diese Zahl bis 1999 auf 65 an und betrug im Jahr 2010 bereits 78 Studierende.[6] Darüber hinaus nimmt der Leistungsdruck zu, dem die Studierenden angesichts überfüllter Seminare und Vorlesungen kaum noch Stand halten können – zumal eine ernsthafte Beschäftigung mit den Studieninhalten einer geradlinigen „akademischen“ Laufbahn im Wege stünde.

Bislang regt sich an den Universitäten nur wenig Widerstand. Kein Wunder, in ihrer Situation bleibt den Studierenden nur wenig Raum, die eigene Bildungssituation zu reflektieren, geschweige denn Widerstand zu organisieren. Zwar kommt es hin und wieder zu Protesten. Doch wenn der Einzelne dann vor der Frage steht, eine Hörsaalbesetzung zu unterstützen, obsiegt oftmals die Furcht, dem engen Lehrplan nicht mehr nachkommen zu können. Langfristig ist daher zu befürchten, dass statt kritischer Wissenschaftler vor allem karrierekonforme Absolventen die Hochschulen verlassen.

Ironischerweise könnten die Unternehmen den Impuls zu einer bildungspolitischen Wende herbeiführen. Sie begreifen allmählich, dass den Studierenden in einer sechssemestrigen, praxisorientierten Hochschulausbildung keine Zeit bleibt, das erlernte Wissen zu vertiefen, und dass der Rückbau der akademischen Lehrangebote ihren eigenen Interessen zuwider läuft.[7]

Damit sich an den Universitäten wieder gesellschaftliche Kriterien etablieren können, ist eine grundlegende Debatte über den sozialen Wert von Wissenschaft erforderlich – mit anderen Worten: eine Politisierung der Effizienzkriterien.[8] Die Rolle der Wissenschaft sollte darin bestehen, gesellschaftliche Probleme kritisch zu analysieren und über Alternativen nachzudenken. Nicht nur an all jene, die sich in dieser kritischen Wissenschaftstradition verorten, sendet die schleichende Abschaffung gesellschaftskritischer Forschung und Lehre jedoch ein fatales Signal aus. Auch die Gesellschaft sollte sich fragen, ob sie auf das kritische Potential der Universitäten verzichten kann. Denn mit Effizienz allein können wir die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit nicht bewältigen.

 

[1] Torsten Bultmann, Die standortgerechte Dienstleistungshochschule, in: „Prokla“, 104/1997, S. 329-355.

[2] Vgl. Anke Burkhardt und Gunter Quaiser, Leistungsorientierte Mittelverteilung im Spiegel der Landeshochschulgesetze, 15.3.2005, http://www.hof.uni-halle.de/steuerung/lhg_budget.htm.

[3] Vgl. Werner Nienhüser, Wer besetzt die Hochschulräte deutscher Hochschulen? Eine empirische Analyse der Zusammenhänge zwischen Hochschulratsstruktur und Merkmalen der Hochschule. In: Volker Epping u.a. (Hg.), Alle Macht den Hochschulräten...?, Weimar 2008, S. 81-98.

[4] Barbara Gillmann, Manager erobern Kontrolle an den Unis, in: „Handelsblatt“, 12.10.2007.

[5] Vgl. Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der „Sieg der Wissenschaft“?, in: „Blätter“, 2/2012.

[6] Vgl. Statistisches Bundesamt, Nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen, https://www.destatis.de.

[7] Barbara Gillmann, Bachelor-Absolventen enttäuschen die Wirtschaft, in „Handelsblatt“, 18.1.2011.

[8] Vgl. Torsten Bultmann, a.a.O. 

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema