Schlussstrich? Schlussstrich!

NS-Zeit Der IGH hat mit seinem Entschädigungsurteil die Staatensouveränität gestärkt. Das geht zulasten der Opfer und beflügelt eine seltsame Normalitätsdebatte

Sie wurden überfallen, als Geiseln genommen, gefoltert, verschleppt. In Deutschland mussten sie unter grausamsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten, um dem verbrecherischen NS-Regime doch noch zum Sieg zu verhelfen. Viele starben und konnten selbst keine Wiedergutmachung mehr fordern. Die dazu noch in der Lage waren, mussten warten. Nicht ein Jahr, nicht zehn Jahre, nein, teilweise 40 Jahre und mehr, bis sich die deutsche Industrie dazu bequemte, einen Bruchteil dessen zu erstatten, was die Unglücklichen an Profit gebracht hatten.

Die Zwangsarbeiterentschädigung ist nur eines der vielen unwürdigen Kapitel der so genannten Wiedergutmachung von NS-Verbrechen. Auch viele Sinti und Roma, Zwangssterilisierte oder Homosexuelle warten bis heute auf Entschädigung. Berechtigte Ansprüche wurden zunächst geleugnet, ignoriert oder verschleppt, bis sich das „Problem“ biologisch erledigte.

Nun geht die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zur Entschädigung italienischer Verfolgter und Zwangs­arbeiter erneut zu Lasten der Opfer. Es ging um Ansprüche von Menschen, die bei Massakern der Wehrmacht und der SS hingemetzelt oder als Zwangsarbeiter verschickt wurden, sowie deren Angehörige. Lange galt ihr Leid als abgegolten mit der pauschal zwischen Deutschland und Italien ausgehandelten Wiedergutmachungsleistung von 1961 – selbst wenn einzelne Opfer dabei leer ausgegangen waren. Nach über 60 Jahren erst erklärten italienische Gerichte ihre individuellen Forderungen für rechtens und ermöglichten außerdem Klagen von Opfern außerhalb Italiens.

Keine individuellen Ansprüche

Dagegen klagte die Bundes­regierung Ende 2008 vor dem IGH in Den Haag – zu Zeiten der Großen Koalition mit Beteiligung der Sozialdemokraten, deren Großeltern oft genug selbst von den Nazis verfolgt worden waren. Deutschland sah die „Staatenimmunität“ verletzt. Gut drei Jahre später gab der IGH unter dem japanischen Vorsitzenden Hisashi Owada jetzt der Klägerin Recht: Deutschland muss die Opfer nicht individuell entschädigen. Die entsprechenden italienischen Urteile sind unwirksam, und die Gerichte dürfen auch keine entsprechenden Klagen mehr annehmen.

Damit stärken die Richter das Prinzip der Staatenimmunität. Das heißt, Privatpersonen können über ihren Staat keinen anderen Staat vor Gericht bringen und belangen. Das diene dem Rechtsfrieden, sagen Völkerrechtler. Hätte sich nämlich Italien vor dem IGH durchgesetzt, könnte künftig jedes Opfer von Völkerrechtsverletzungen seine Ansprüche gegen einen anderen Staat geltend machen, was, wie Juristen fürchten, eine nicht abreißende Klagewelle nach sich zöge. Was wiegt schon das Leid des Einzelnen gegenüber dem Schutz der Staaten­gemeinschaft?

Geradezu zynisch muss es den klagenden Opfern erscheinen, wenn Außenminister Guido Westerwelle meint, das Urteil richte sich nicht gegen sie. Die angekündigte freiwillige Entschädigung mag ihnen Erleichterung verschaffen, aber keine Genugtuung. Das Urteil des IGH nährt all die Schlussstrich-Debatten und Interventionen, die die Normalisierung betreiben. Die das Land nicht mehr in der Schuld sehen wollen, sondern statt dessen auf gleicher Augenhöhe mit allen übrigen Staaten.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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