Es ist der Traum aller akademischen Absolventen. Da hängt sich eine Nachwuchsjuristin in die Seile mit einer Dissertation, die unter Gleichaltrigen wahrscheinlich eher Gähnen auslöst: Missstände in Pflegeheimen und die damit verbundene Grundrechtsverletzung. Dann jedoch nimmt ein großer Sozialverband die Idee auf und will sie bis nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht tragen. Dass es sich dabei auch noch um ein generationsübergreifendes weibliches Projekt handelt – auf der einen Seite die Doktorandin Susanne Moritz, auf der anderen die schon etwas ältere Chefin des VdK, Ulrike Mascher, hat Charme und ist plausibel: Es sind Frauen, die alt werden und vor allem Frauen, die pflegen.
Noch charmanter ist die politische Idee: In diesem Fall wird nicht gegen ein bestehendes Gesetz geklagt und auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft, sondern es geht umgekehrt, wenn man so will, um unterlassene Hilfeleistung des Staates. Hilfe nämlich für die 1,4 Millionen Demenzkranken, die nun schon von vier Gesundheitsministern konsequent übersehen, plattgeredet oder auf die lange Bank, besser: auf den Pflegekorridor geschoben wurden.
Genau das, so befürchtet die streitbare Verbandsvertreterin, könnte wieder passieren, wenn Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) der längst überfälligen großen Pflegereform, die auch Demenzkranke angemessen berücksichtigen soll, wieder eine „Erprobungsphase“ vorschieben will. Bis sie im nächsten Wahlkampf versandet.
Karlsruhe soll nun prüfen, ob das „gesetzgeberische Unterlassen“ zu „grundrechtswidrigen Zuständen“ führt, wie Mascher sagt, und der Staat damit seine Schutzpflicht verletzt. Im Klartext: Die Zögerlichkeit Gröhes und aller Vorgänger gefährdet Leib und Leben von Pflegebedürftigen. Gibt es ein Grundrecht auf menschenwürdige Pflege? Und kann der Staat höchstrichterlich angehalten werden, dem gesetzgeberisch Rechnung zu tragen?
Dazu ließen sich durchaus Parallelen entwickeln: Die Nicht-Umsetzung von Frauen- oder Minderheitenquoten etwa. Das politisch ausgesessene Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, zum Schaden von Kindern. Und wie steht es mit Flüchtlingen vor den Toren der EU, die einem ungewissen Schicksal entgegensehen, weil sich europäische Minister nicht auf eine humane Flüchtlingspolitik einigen können? Wohin man blickt: Überall gesetzgeberische Unterlassungssünden.
Ob die Klage Aussicht auf Erfolg hat, ist unter Juristen allerdings umstritten. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hält sie für „überspannt“, das Justizministerium für grundsätzlich möglich, während der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nicht glaubt, dass sich die Richter davon beeindrucken lassen. Und Mascher hofft, dass Karlsruhe die Politik an ihre „Verpflichtung zur Wahrung der Menschenwürde erinnert und zum sofortigen Handeln auffordert“.
Unterstützt wird sie von 150.000 Bürgern und Bürgerinnen, die eine entsprechende Petition unterschrieben haben. Senkt Karlsruhe den Daumen, müssten sie sich andere Wege suchen, um den Staat zu „aktivieren“, so wie er das mit Erwerbslosen tut. In diesem Fall wäre ein plebiszitäres Initiativrecht, das Gesetze auf den Weg bringen kann, nicht die schlechteste Idee.
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