Politischer Fieberwahn

Populismus Vor der Europawahl versuchten die Unionsparteien mit Sticheleien gegen Zuwanderer auf Stimmenfang zu gehen. Damit schaden sie nicht nur sich, sondern auch dem Land
Die Strategie ging nicht auf: CSU-Parteichef Seehofer konnte mit seiner Partei nur knapp die 40 Prozent halten
Die Strategie ging nicht auf: CSU-Parteichef Seehofer konnte mit seiner Partei nur knapp die 40 Prozent halten

Foto: John McDougall/ AFP/ Getty Images

Mit einer Sache haben die rechten Brüllaffen zweifelsohne recht: Wir sind tatsächlich nicht das Weltsozialamt. Gerade einmal 6,7 Milliarden Euro an Hartz IV-Leistungen zahlte Deutschland im vergangenen Jahr an Ausländer – eine Summe, die angesichts eines Bundeshaushalts von über 300 Milliarden Euro nun wirklich kaum ins Gewicht fällt. Trotzdem wird die Diskussion so geführt, als stünde das deutsche Sozialsystem angesichts eines vermeintlichen Ansturms der Massen kurz vor dem Kollaps. Und so wird nicht nur am Stammtisch geredet.

Seit im Januar die letzten Freizügigkeitsbeschränkungen für EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien gefallen sind, befinden sich auch Teile der deutschen Politik im kollektiven Ausnahmezustand. Das zeigte gerade die vergangene Woche wieder einmal überdeutlich. Selbst die Kanzlerin schien das Fieber gepackt zu haben. „Die EU ist keine Sozialunion“, sagte Angela Merkel in einem Interview, während ihre Bundesregierung gleichzeitig an einem Gesetzesentwurf arbeitete, der vermeintlichen Sozialhilfebetrügern aus EU-Staaten die Wiedereinreise nach Deutschland zeitweise verbieten will. Der CSU, die die Debatte im Januar mit der unsäglichen Formulierung „Wer betrügt, der fliegt“ ausgelöst hatte, geht das selbstverständlich noch nicht weit genug. Die bayerische Staatsregierung brachte deshalb eine Bundesratsinitiative auf den Weg, die es EU-Bürgern noch deutlich schwerer machen soll, nach Deutschland zu kommen. „Freizügigkeit bedeutet nicht Wahlfreiheit hinsichtlich des besten Sozialleistungssystems“, erklärt die bayerische Staatsministerin Christine Handerthauer.

Gescheiterte Strategie

Pünktlich zur Europawahl blinkte die Union also für alle gut sichtbar rechts – wohl aus der Angst heraus, von der wenig zimperlichen AfD-Konkurrenz auf dieser Seite überholt zu werden. Für die viel beschworene Willkommenskultur – diesen Klassiker der politischen Sonntagsrede – blieb da kein Platz mehr, obwohl sogar Bundespräsident Joachim Gauck gerade erst für eine selbstverständlichere Aufnahme von Zuwanderern und ein neues Miteinander geworben hatte. Dass dies von Kanzlerin und bayerischer Landesregierung nun ausgerechnet im Europa-Wahlkampf konterkariert wurde, macht das Ganze nur noch geschmackloser. Erfreulich ist, dass die Strategie offensichtlich nicht verfing. Die Union für ihr schlechtestes Europawahlergebnis aller Zeiten ein, die CSU konnte gar nur knapp die 40 Prozent halten - für die selbstbewusste Regionalpartei ist das fast schon ein Wahldebakel.

Zuwanderung wird für Deutschland eine immer größer werdende Rolle spielen. Angesichts des demografischen Wandels und einer niedrigen Geburtenrate werden Einwanderer für unsere Gesellschaft wichtiger werden. Es ist deshalb eine gute Nachricht, dass die Industriestaaten-Vereinigung OECD in der vergangenen Woche bekannt gab, dass Deutschland für Einwanderer attraktiver wird. Nur noch die Vereinigten Staaten von Amerika ziehen mehr Menschen an. Das ist ein großer Erfolg.

Wenn die Politik aber so weitermacht wie bisher und sich beim ersten Anzeichen von Widerstand wieder gegen die neuen Mitbürger stellt, ist es unwahrscheinlich, dass Deutschland seine derzeitige Attraktivität behält. Wenn Ressentiments und Vorurteile ausgespielt werden, wie es in der Diskussion um angebliche „Armutsmigration“ zweifelsohne der Fall ist, dann muss die Politik sich dem entgegenstellen und darf nicht in der Hoffnung auf Applaus aus einer gewissen Ecke stillhalten oder sogar munter mitzündeln.

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Geschrieben von

Julian Heißler

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