Post aus Kiew

Auch in der Ukraine gibt es eine Direkte Aktion – es ist der Name einer syndikalistischen Studierendengruppe, die sich vor allem an den Hochschulen Kiews organisiert und auch an den Maidanprotesten teilnahm. Von ihnen schickte uns Andrew aus Kiew diese Schilderungen der Verhältnisse im Vorfeld der Revolte.

Unsere Gruppe hat bis zu den Maidanprotesten tatsächlich nicht allzu viel Repression kennengelernt. Wenn mal Leute bei Aktionen festgenommen wurden, wurden sie sofort wieder freigelassen, und einmal kam es vor, dass der SBU, der ukrainische Geheimdienst, einen Genossen persönlich angerufen hat, um ihn davor zu warnen, weiterhin aktiv zu sein. Größere Probleme hatten wir bis zu den Maidanprotesten eher mit der Univerwaltung – die hassen uns wirklich, weil wir den Studierenden zeigen, wie sie sich gegen die Bürokratie wehren können – und mit rechten Gruppen, von denen es schon öfter gewalttätige Übergriffe auf uns gab.

Die Maidanrevolte wird nur selten in einen Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise ab 2008 gestellt. Die Kanalisierung der sozialen Kämpfe in ethnische Konflikte war dabei jedoch von Anfang eine Strategie der ukrainischen Oligarchen. (Datenquelle: IWF)

Mich hat dann sowohl politisch als aber auch ganz materiell die große Wirtschaftskrise ab 2008 sehr geprägt, die vor allem im ersten Jahr zu großen Verwerfungen in der Ukraine geführt hat. Diese Situation war für den ukrainischen Staat durchaus gefährlich, schließlich ist die Ukraine ein recht armes Land und konnte nicht so leicht solch milliardenschwere „Rettungspakete“ für Industrie und Finanzwirtschaft bereitstellen, wie es in der EU und auch Russland passierte. Ein dramatischer Einbruch des Wirtschaftswachstums war die Folge, und aufgrund schwindender Steuereinnahmen war die Ukraine in kürzester Zeit genauso hoch verschuldet wie die Staaten, die zuvor „immerhin“ (aus systemischer Sicht gesprochen) Industrie und Finanzsystem mit Steuereinnahmen einigermaßen stabilisieren konnten. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis der Staat die Kontrolle verlieren würde. Es sei daran erinnert, dass die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit immer wieder Aufstände und große Bewegungen erlebt hat, und die sogenannte „orangene Revolution“ war beim Ausbruch der Krise gerade mal vier Jahre her. Yanukowytsch war nach seinem Wahlsieg 2010 gezwungen, einen anderen Weg als die EU zu gehen: Um Massenproteste und Unruhen im direkten Kontext der Krise zu vermeiden, womit ja tatsächlich die herrschende politische Ökonomie zur Disposition gestanden hätte, wurde auf die Massenentlassungen und die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse nicht mit einem Abbau, sondern mit einem teilweisen Ausbau des Sozialstaates reagiert.

Opportunistisches Spiel auf Zeit

Die Regierung Yanukowytsch versuchte aber auch, die verschiedenen Gruppen gegeneinander auszuspielen, zum Beispiel ArbeiterInnen gegen RentnerInnen. Vor allem aber gab es massive Angriffe auf das Streikrecht. Trotz der strukturellen Schwäche der Linken (von der ich ausdrücklich die KPU als Lobbygruppe russischsprachiger OligarchInnen ausschließen will) würde ich sagen, dass nennenswerter Widerstand gegen die Anhebung des Renteneintrittalters und die Einschränkung des Streikrechtes in dieser Zeit ausschließlich von der Linken geleistet wurde. Tatsächlich konnten die gröbsten Einschnitte in die Rechte der ArbeiterInnen, sich zu organisieren, oder aber auch in die Teilhabe an Bildung durch vielfältige Aktionen und auch Streiks verhindert werden: Bis zu den Maidanprotesten versuchte die Regierung, größerem Widerstand aus dem Weg zu gehen, um angesichts der Situation konfrontative Massenproteste zu vermeiden. Aber insgesamt waren die Regierungen seit 2008 getrieben durch die wirtschaftliche und soziale Lage, der sie mit einem autoritären Populismus Herr werden wollten. Die Auswirkungen dieser opportunistischen Politik waren dann auf eine von der Regierung so natürlich nicht geplante Weise auch auf dem Maidan zu spüren – sie hatte durchaus erfolgreich das Aufspalten der betroffenen Menschen in unterschiedliche Interessengruppen, die sich gegenseitig um die begrenzten staatlichen Mittel stritten, betrieben. Auf dem Maidan fanden diese Gruppen zwar in ihrem Hass auf die Regierung – aber eben nicht auf Grundlage einer gemeinsamen Position – zusammen, sodass die Rivalitäten auch auf dem Maidan weiter ausgetragen wurden. Neben den Kämpfen gegen die Arbeits- und Rentenreform, an denen sich die Linke in den Jahren zuvor beteiligt hatte, hatte es auch Kampagnen gegen die höhere Besteuerung von Selbstständigen und die Kürzung von Zuwendungen für VeteranInnen gegeben, die von ganz anderen Gruppen getragen wurden. Auf dem Maidan ließ es sich dann zwar leicht gemeinsam gegen die wirklich unerträgliche Korruption im gesamten Staatsapparat und die Vetternwirtschaft in der Regierung protestieren, aber der Partikularismus war tief in der Praxis der verschiedenen Gruppen verankert. Und die Linke ist in der ukrainischen Gesellschaft seit langem der Rechten sowohl personell als auch organisatorisch weit unterlegen. Allerdings sehe ich nur einige plakative Unterschiede zwischen Svoboda und fast allen anderen erwähnenswerten Parteien, die allesamt durch unterschiedliche Spielarten des Autoritarismus und der Xenophobie geprägt sind. Letztlich grenzen sich die verschiedenen Lager im Parlament fast ausschließlich nur mittels der jeweiligen Sprachpolitik voneinander ab, also ob sie Politik für die ukrainisch- oder russischsprachige Ukraine machen wollen; wenn wir aber nach Teilhabe und Freiheit für alle Menschen in der Ukraine fragen, gibt es im Parlament keine Antworten. Die derzeitige Eskalation zwischen den beiden Sprachlagern ist durch diesen jahrelangen Populismus, der letztlich nur dazu diente, die Belanglosigkeiten der parlamentarischen Debatten zu kaschieren, maßgeblich mit verursacht worden.

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