Ausgabe April 2012

Ratlos am Hindukusch

Die Hiobsbotschaften aus Afghanistan reißen nicht ab: Mitte März ermordete ein Angehöriger der US-Special Forces in der Provinz Kandahar im Süden des Landes wahllos 16 Zivilisten, unter ihnen zahlreiche Frauen und Kinder. Bereits drei Wochen vorher hatte die Verbrennung zuvor von Gefangenen genutzter religiöser Bücher, darunter mehrerer Koran-Exemplare, in Bagram, dem wichtigsten US-Stützpunkt in Afghanistan, den Volkszorn entfacht.

Dabei hätte zumindest dieser folgenschwere Vorfall vermieden werden können. Nach mehr als elf Jahren Afghanistaneinsatz sollte man eigentlich annehmen, dass den dorthin entsandten Soldaten wenigstens einige Grundkenntnisse über ihr Gastgeberland und seine Bevölkerung vermittelt werden. Offenbar wird kulturelle Aufklärung aber immer noch als bloße Pflichtübung betrachtet und hinterlässt zumindest bei einigen überhaupt keine erkennbaren Spuren. Warum sonst musste General John Allen, in Personalunion Oberbefehlshaber der internationalen ISAF-Truppen und aller US-Streitkräfte in Afghanistan, anschließend ein „Schnelltraining“ dafür ankündigen, wie man „islamische religiöse Bücher richtig behandelt“?[1]

Von Beginn an dominierte im Afghanistaneinsatz, ursprünglich ein Unternehmen des institutionellen Wiederaufbaus, die militärische Logik. Was im Nato-Jargon „force protection“ und im Deutschen deutlicher „Eigensicherung“ heißt, bestimmt das allgemeine Verhalten. Im vereinfachenden Umkehrschluss sehen viele Soldaten Afghanistan inzwischen pauschal als Feindesland und in jedem Afghanen einen potentiellen Angreifer. Auch das fördert nicht gerade die Achtung vor der Kultur der anderen.

Während viele westliche Medien die Koran-Verbrennung bagatellisierten, wahlweise als unabsichtlich oder als Vernichtung von radikalem Material (Taliban-Gefangene hätten darin geheime Botschaften ausgetauscht), ist für die allermeisten Afghanen so etwas unter jedweden Umständen inakzeptabel. Für orthodoxe (nicht radikale!) Muslime – und das sind die meisten, denn Afghanistan hat noch nicht einmal ansatzweise eine Säkularisierung wie Tunesien durchlaufen –, ist der Koran das unverfälschte Wort Gottes. Viele vermeiden es sogar, alte Zeitungen als Einwickelpapier zu verwenden, aus Sorge, das Wort „Allah“ könnte irgendwo abgedruckt sein und besudelt werden. Dass die Verbrennung des Korans große Wut hervorruft und auch zu Gewalt führen kann, war also absehbar.

Zumal das nicht der erste Fall kultureller Insensibilität war, der zum Aufruhr führte. Immer wieder gab es Proteste nach Berichten, wonach auf US-Stützpunkten Ausgaben des Korans entweiht worden seien, in einem anderen Fall dadurch, dass er in eine Toilette geworfen worden sei. Auch wenn es sich manchmal bloß um Gerüchte handelte: Als im vergangenen April ein evangelikaler Pfarrer im US-Bundesstaat Florida allen Ernstes ankündigte, öffentlich einen Koran zu verbrennen, kochte die Wut zum ersten Mal über. In Mazar-e Scharif in Nord-Afghanistan stürmte eine aufgebrachte Menge ein UN-Büro und lynchte mehrere Mitarbeiter.

Es folgten sehr reale Internet-Fotos eines selbsternannten „Kill Teams“, bestehend aus US-Soldaten, das willkürlich afghanische Zivilisten umbrachte und dann als gegnerische Kämpfer ausgab, sowie Videos, in denen amerikanische Soldaten auf Leichen angeblicher Taliban urinierten und britische Soldaten afghanische Kinder zwangen, sich gegenseitig abzutasten. Immer wieder sorgt auch für Empörung, wenn die ISAF Spürhunde gegen Menschen und an heiligen Orten einsetzt, um Sprengstofflager zu finden. (Allerdings verstecken Aufständische tatsächlich Waffen oder Bombenmaterial in Moscheen oder privaten Frauengemächern.)

Man darf bei alledem dennoch nicht vergessen, dass insgesamt nur ein paar tausend Menschen auf die Straße gingen und die meisten Proteste friedlich blieben, selbst nach den Freitagsgebeten. Viele der zornigen Afghanen folgten nicht den Aufrufen von Scharfmachern, denen zum Teil selbst noch das Blut aus den Bürger- und Fraktionskriegen der 1980er Jahre an den Händen klebt. Doch gleichzeitig sind die Unruhen Ausdruck eines weit verbreiteten politischen Unmuts über das Gesamtverhalten der westlichen Interventen. Das betrifft auch solche Afghanen, die ursprünglich das internationale Eingreifen zum Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 begrüßt hatten.

Von der Zustimmung zum Scheitern

Erstmals in der Geschichte Afghanistans waren damals, nach den Anschlägen vom 11. September 2001, einer deutlichen Mehrheit in der Bevölkerung nicht nur ausländische Entwicklungshelfer, sondern auch Soldaten willkommen – motiviert auch durch die Erfahrungen mit dem sowjetisch gestützten Linksregime (1978-92) und der darauf folgenden Schreckensherrschaft der islamistischen Mudschaheddin (1992-96). Viele Afghanen glaubten zudem Bushs Rhetorik, der gerade seine Demokratie-„Initiative für den weiteren Mittleren Osten“ verkündet und Afghanistan dabei zum „Leuchtturm“ erkoren hatte.

Doch so wie die anfängliche Euphorie der westlichen Regierungen nach dem schnellen Sturz der Taliban verflog, deren „Überreste“ (Donald Rumsfeld) nur noch beseitigt werden müssten, setzte auch unter den Afghanen bald Enttäuschung darüber ein, dass viele Hilfsgelder in korrupten Kanälen endeten und der Westen die alten Warlords wieder zu Macht verhalf. Diese Entwicklung schuf das moralische Vakuum, in das die Taliban hineinstießen. Zudem ließ die Weigerung der Bush-Regierung, eine UN-Blauhelmtruppe aufzustellen oder die ISAF schneller in den Provinzen zu stationieren, den Taliban den erforderlichen Raum, sich zu reorganisieren. Ihnen schlossen sich viele Afghanen an, die in einer von zunehmender Polarisierung geprägten Umgebung keine andere politische Alternative zu Karsai fanden. Eine neue Spirale der Gewalt kam in Gang, die sich bis heute immer weiter dreht.

Die zunehmende Empörung vieler Afghanen speist sich vor allem aus dem konkreten Vorgehen der Nato-Soldaten – wenn etwa US-Spezialeinheiten bei ihren sogenannten Night Raids, nächtliche Durchsuchungen von Häusern, in denen Aufständische vermutet werden, pauschal alle männlichen Anwesenden festnehmen, Unschuldige erst nach und nach aussortieren und Angehörige oft wochenlang über deren Verbleib im Unklaren lassen; wenn sie bei ihren gezielten Kill-or-Capture-Operationen gegen Taliban-Kommandeure auch Unschuldige töten, im militärischen Sprachgebrauch „Kollateralschäden“ genannt; wenn sie dabei mit einheimischen Milizen kooperieren, die eigentlich schon vor Jahren demobilisiert wurden, außerhalb der afghanischen Gesetze agieren und selbst bei schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht belangt werden; oder wenn Karsai Kommandeure solcher Milizen in offizielle Positionen beruft, wie die berüchtigten Abdul Raseq in Kandahar und Matjullah in Urusgan – beide inzwischen Polizeichefs ihrer Provinzen – und sich ISAF-Größen wie der jetzige CIA-Chef David Petraeus mit ihnen ablichten lassen. All das delegitimiert das ausländische Militär, ganz abgesehen davon, dass die Legalisierung der Milizen das UN-geführte und auch mit deutschen Steuergeldern finanzierte Entwaffnungsprogramm der Jahre 2002 bis 2006 längst wieder rückgängig gemacht hat.

Von der Politik verlassen

Das ist natürlich nicht die Schuld allein des Militärs. In unseren Ländern wird die Politik ja von zivilen Regierungen gemacht, jedenfalls in der Theorie. Eine Untersuchung der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin kommt jedoch zum Schluss, dass weder die Nato noch „die nationale Ebene“ in Deutschland eine einheitliche Strategie für Afghanistan haben: „Dieses Defizit [führt] im Fall der ISAF dazu, dass strategische Entscheidungen innerhalb der Nato-Kommandostrukturen immer weiter nach unten delegiert werden“.[2] Das heißt: Die Regierungen haben die Afghanistan-Politik faktisch dem Militär überlassen.

Die entscheidenden politischen Weichen für das künftige Afghanistan wurden nach dem Sturz der Taliban 2001 in Washington gestellt, nicht von Afghanen und mitunter gar gegen deren Willen. Das betraf vor allem die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Auswahl Karsais als künftiges Staatsoberhaupt.

James Dobbins, Leiter der US-Delegation bei der Bonner Afghanistan-Konferenz behauptet zwar, die türkische Regierung habe Karsai vorgeschlagen, aber das ist wohl eine Nebelkerze. Der eigentliche Macher der USA in Sachen Afghanistan – der spätere Sondergesandte Salmai Khalilsad, selbst afghanischer Herkunft und jetzt sogar mit Ambitionen auf die Karsai-Nachfolge 2014 – kannte Karsai aus gemeinsamer Vergangenheit als Berater beim Ölkonzern Unocal, der 2005 mit Chevron verschmolz, und protegierte ihn daher. Dabei half sicher auch, dass die Gegner der Taliban, die früheren Mudschahedin der afghanischen Nordallianz, für Karsai optierten, von dem sie wussten, dass er keine große Machtbasis in Afghanistan besaß.[3]

Kurz nach dem 11. September 2001 wurde Karsai noch schnell nach Afghanistan geschickt, um sich als Anti-Taliban-Guerrillaführer zu profilieren, dann per Telefonleitung zur Bonner Afghanistan-Konferenz zugeschaltet, um sich für das Amt zu bewerben. In Bonn bearbeiteten US- und UN-Gesandte vor allem Karsais eigene Fraktion so lange, bis sie sich – in einer wiederholten Abstimmung – der Vorauswahl Washingtons beugte.

Ein Ausbruch „kumulativen Zorns“

Heute können die Afghanen einfach nicht mehr erkennen, dass ihnen die ausländische Intervention – wie ursprünglich gedacht – mehr Sicherheit und ein besseres Leben gebracht hat. Der Krieg wurde gerade unter US-Präsident Barack Obama noch forciert, obwohl sich mit diesem vor allem nach seiner an die „islamische Welt“ gerichteten Kairoer Rede auch in Afghanistan viele Hoffnungen verbanden. Eine kleine Oberschicht aus alten Warlords und Exilheimkehrern bereichert sich straflos, die soziale Kluft vergrößert sich rapide. Zwar wurden zahlreiche Gebäude gebaut, aber die neue Infrastruktur liegt oft brach. Vielen Eltern ist der Weg zu den Schulen und Kliniken für ihre Kinder einfach zu gefährlich. Am Rand der Straßen lauern Minen oder Taliban-Kommandos. Und in den neuen Institutionen hocken die alten Warlords, die sich nun „Dschihad-Führer“ nennen und sich als höchste religiöse Instanz gerieren. In einer Allianz mit früheren Kommunisten haben sie sich für die Kriegsverbrechen der Vergangenheit selbst amnestiert.

Man kann die Koran-Unruhen also als einen Ausbruch „kumulativen Zorns“[4] sehen. Entschuldigungen, selbst auf höchster Ebene, können da nicht mehr viel bewirken. Die Afghanen haben schon zu oft das amerikanische „sorry“ gehört, ohne dass sich hinterher etwas grundsätzlich änderte.

Dies wird wohl auch nicht mehr passieren: Gerade stocken die Verhandlungen zwischen der Karsai- und der US-Regierung über ein strategisches Abkommen für die Zeit nach dem (Teil-)Abzug Ende 2014. Dann sollen alle ausländischen Kampftruppen abziehen – oder zu Ausbildern umgewidmet werden, ähnlich wie schon in Irak geschehen; die ISAF wird aufgelöst. Allerdings werden US-Sonder- und noch geheimere CIA-Einheiten im Land bleiben.

Nach den jüngsten Vorfällen forderte der afghanische Präsident die USA auf, den geplanten Abzug um ein Jahr auf 2013 vorzuverlegen, was die Obama-Regierung umgehend zurückwies. Bislang ist sie nicht einmal bereit, Karsai die Kontrolle über die Gefängnisse sowie das Kommando über alle Militäraktionen zu geben, einschließlich der besonders verhassten Night Raids. Und dennoch kommen viele Regierungen inzwischen zu der gleichen Einschätzung wie William Pfaff, der bereits vor eineinhalb Jahren feststellte: „Tatsächlich bringt es absolut nichts, in Afghanistan zu bleiben.“[5]

Wenn 2014 die meisten Soldaten abziehen, werden jedoch auch die Hilfsgelder und die öffentliche Aufmerksamkeit für Afghanistan drastisch vermindert werden. Zurücklassen werden sie „eine große Zahl von Männern mit Waffen, aber schwache Institutionen“, wie die norwegische Afghanistan-Kennerin Astri Suhrke resümiert.[6] Solche Aussichten treiben vielen Afghanen Angstschweiß auf die Stirn. Und sie erklären, warum viele von ihnen sich trotz aller Desillusionierung immer noch wünschen, die Nato-Truppen mögen sie mit ihren Warlords nicht wieder allein lassen – allen Koran-Verbrennungen und Night Raids zum Trotz.

 

[1] „Wall Street Journal“, 26 Februar 2012. Die Special Operations Forces (SOF) der drei US- Teilstreitkräfte unterstehen General Allen zwar auch, aber nicht der ISAF. Außerdem gibt es noch geheime CIA-Einheiten, deren Tun nicht einmal Allen bekannt sein dürfte.

[2] Philipp Münch, Strategielos in Afghanistan, SWP-Studie, Berlin, November 2011.

[3] James Dobbins, After the Taliban: Nation-Building in Afghanistan, Washington D.C. 2008, S. 55. 

[4] Den Begriff verdanke ich meiner Kollegin Martine van Bijlert. 

[5] William Pfaff, Des Pentagons verlorener Krieg, „Blätter“, 9/2010, Seite 32-34.

[6] Astri Suhrke, When More Is Less: The International Project in Afghanistan, New York 2011, S. 231.

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