Ausgabe Januar 2012

Reich statt sexy

„Reich und sexy“ werde Berlin werden, hatte der Berliner Landesverweser Klaus Wowereit pünktlich zur Vereidigung der neuen rot-schwarzen Koalition prophezeit. Doch noch sind keine vier Wochen regiert, da ist der Sex-Appeal schon weg. Denn reich geworden ist vor allem einer: der neu ernannte und prompt zurückgetretene Justiz- und Verbrauchersenator Michael Braun. Dieser hatte als Notar den Verkauf von Schrottimmobilien beurkundet, was zahlreiche ahnungslose Berliner um ihre Ersparnisse brachte.

Damit steckt die Berliner Union wieder in genau jenem Sumpf der Bau- und Immobilienkorruption, der ihr seit 30 Jahren anhaftet – seit der legendären „Antes-Affäre“ von 1984. Der damalige Charlottenburger CDU-Vorsitzende gleichen Namens hatte 2000 Senatswohnungen zum Schnäppchenpreis von je 4 000 DM an einen Wuppertaler Gebrauchtwagenhändler verkloppen wollen. Und die Diepgens, Landowskys oder Lummers hatten allzu gerne in der gleichen Brühe gebadet.

Doch unter der Ägide des neuen Berliner Dreamteams, Klaus Wowereit und Frank Henkel, sollte nun alles anders werden. Porentief rein eben, selbst in der CDU. „Neese“ sagt da nur der Berliner. Kaum kommt die Union wieder dran, ist der blubbernde Westberliner Morast wieder da.

Einen allerdings wird es insgeheim freuen: Klaus Wowereit höchstselbst, den ersten Experten des Landes für anspruchsloses Regieren. In den letzten zehn Jahren hat er erfolgreich demonstriert, wie man ohne jede Vision, aber mit ständigem Sitz in sämtlichen Talkshows eine handzahme Linkspartei klein regiert. Nun wird es der Berliner Union nicht anders ergehen. Eine parlamentarische Opposition braucht der Regierende Partymeister ohnehin nicht zu fürchten. Die einst so siegessicheren Künast-Grünen – als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet. Heute demonstrieren sie, wie man sich erfolgreich selbst zerlegt, um anschließend in der moderierten Selbsthilfegruppe die eigenen Wunden zu lecken – genau wie die arg ramponierte Linkspartei.

Und da auch die Occupy-Bewegung in Berlin außer ein paar in der Winternässe vor sich hin müffelnden Zelten nichts zu bieten hat, bleibt der SPD, um die neue Legislatur wenigstens etwas spannend zu machen, gar nichts anderes übrig, als die Rolle der Opposition gleich mitzuübernehmen. Auf den Schleudersitz des Bildungssenators setzte Wowereit daher ein absolutes Bildungs-Greenhorn, nämlich die 41jährige Sandra Scheeres aus Pankow, allerdings erst nachdem ihm etliche Expertinnen schnöde abgesagt hatten. Gleichzeitig wurde die gesamte außeruniversitäre Forschung dem Wirtschaftssenat zugeschlagenund damit der CDU. Der neuen Wirtschaftssenatorin,Sybille von Obernitz, stieg das offenbar zu Kopf. Jedenfalls forderte sie im Überschwang der neuen Macht einen „Mentalitätskick“, den sie „gerne anstoßen möchte“.

Doch da hat sie die Rechnung ohne den Chef gemacht. Kicks und Anstöße, Eröffnungen und Vernissagen – all das ist in Berlin Chefsache. Und auf Mentalität hat Wowereit ohnehin das Copyright: „Berlin braucht einen tief greifenden Mentalitätswechsel“, hatte er bei seiner ersten Regierungserklärung im Jahre 2001 vollmundig gefordert. Aber das ist lange vorbei. Heute klingeln bei dergleichen in der Senatskanzlei nur noch die Alarmglocken: Mentalität? Is’ nich‘. Und Wechselschon gar nicht. Da sei der Ewige Wowi vor. Doch wo bleiben bei alledem, da viel beschworen, „Mitte und Maß“? Berlin macht daraus lange schon: nur Mittelmaß. 

 

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema Parteien

Im Nebel des Wahlkampfs: Friedenskanzler Schröder-Scholz?

von Albrecht von Lucke

Nur noch zwei Monate bis zur Europawahl und gerade einmal fünf bis zu den so wichtigen drei Landtagswahlen in Ostdeutschland: Der Wahlkampf nähert sich seiner heißen Phase. Insofern kann es nicht wirklich verwundern, dass jetzt auch das für Europa wichtigste Thema dieses Schicksalsjahres zur Wahlkampfmunition geworden ist, nämlich der Krieg in der Ukraine.

Wahnvorstellungen bei der FDP

von Jan Kursko

Der Wahn (oder eine bestimmte Wahnvorstellung) ist laut Wikipedia „eine die Lebensführung behindernde Überzeugung, an welcher der Patient trotz der Unvereinbarkeit mit den empirisch prüfbaren und in der Gesellschaft mehrheitlich akzeptierten Fakten festhält.“ Ganz offensichtlich treten Wahnvorstellungen derzeit gehäuft bei der FDP auf.

Das Ende der grünen Hegemonie?

von Reinhard Olschanski

Stehen wir vor einem politisch-kulturellen Paradigmenwechsel in der Bundesrepublik, geht eine „grüne Hegemonie“ zu Ende und damit zugleich die Postmoderne? Das jedenfalls ist die kernige These des Historikers und Leiters der rechtskonservativen Denkfabrik R21, Andreas Rödder.

Die Ampel in der Haushaltskrise: Wie weiter mit der Schuldenbremse?

von Achim Truger

Es war ein Paukenschlag: Am 15. November 2023 urteilte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass die von der Ampelkoalition vorgenommene nachträgliche Verschiebung von Kreditermächtigungen zum Zwecke der Abschwächung der Pandemiefolgen in den „Klima und Transformationsfonds“ (KTF) nicht „nur“ verfassungswidrig gewesen ist, sondern sogar von Anfang an nichtig.