Jahre bevor sich seine Brillanz in nationalistischer Halluzination auflöste, nannte der große ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch sein Land „das letzte Territorium“. Der literarische Maidan-Aktivist würde sich heute dagegen verwahren, doch passt das geflügelte Wort so gut wie nie: Im 24. Jahr ihrer Staatlichkeit ist die Ukraine zu reinen Verfügungsmasse ausländischer Mächte geworden und daran dürfte sich in absehbarer Zeit kaum etwas ändern.
Die Frage, wer in der Ukraine und vor allem auf der Krim legitime Macht ausübt, mutet dabei fast akademisch an. Die national-ukrainischen Selbstverteidigungstrupps, die am 21. und 22. Februar dem Kiewer Aufstand zum Sieg mitverholfen haben, beaufsichtigen und speisen einen desorie
en desorientierten Geheimdienst- und Militärapparat. Auf der Krim dasselbe in Weiß-Blau-Rot. Mehr denn je ist die Halbinsel in diese Farben getaucht, seit sich beim Referendum am vergangenen Wochenende 96 Prozent der Wähler für einen Anschluss an Russland entschieden haben. Ein Votum, in dem sich die Stimmung auf der Halbinsel spiegelt. Russlands Präsident Wladimir Putin hat das Abstimmungsergebnis als letzte Aufforderung verstanden, vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Vereinigung der Halbinsel und der dortigen Hafenstadt Sewastopol mit der Russischen Föderation ist vollzogen, der entsprechende Vertrag bereits unterzeichnet.Verhängnisvoller FehlerSowohl das Parlament in Kiew als auch das auf der Krim wurden einst demokratisch gewählt, nun haben beide unter dem Druck der Selbstverteidiger gehandelt. Die gesamtukrainische Rada – zu Jahresbeginn noch eine treue Stütze des geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowytsch – feuerte ganze Batterien von „Revolutionsgesetzen“ mit Zwei-Drittel-Mehrheiten ab. Das Krim-Parlament – gerade noch äußerst zerstritten – hat in den zurückliegenden Wochen wie ein Mann einen forcierten Beitritt zur Russischen Föderation unterstützt. In Kiew halfen die Hausbesuche von Maidan-Aktivisten bei widerspenstigen Abgeordneten – in Simferopol der vehemente Rossija-Furor vor dem Parlament. Dabei legitimierten sich beide Seiten über das Ausland. Der Westen erkannte Julija Tymoschenkos treuen Knappen Olexandr Turtschynow ohne Umschweife als Übergangspräsidenten an, Russland den Übergangspremier der Krim, Sergei Aksjonow. Um sich Anweisungen zu holen, flogen die einen zu Angela Merkel und Barack Obama, die anderen zu Putin.Eigentlich hatte die Flucht von Wiktor Janukowytsch die Chance auf eine gewisse Reinigung der ukrainischen Politik eröffnet. Die Bilder vom neobyzantinisch anmutenden Anwesen des gestürzten Staatschefs schockierten ja weniger die Aufständischen – diese hatten ihn immer schon gehasst –, sondern seine Wähler aus dem russischsprachigen Süden und Osten. Janukowytschs Partei der Regionen hatinzwischen den „Verrat“ und die „Engherzigkeit“ ihres ehemaligen Chefs verurteilt.Die Hoffnung auf eine Katharsis währte jedoch nur kurz, da das Revolutionskabinett unter Premier Arsenij Jazenjuk, das etwa zur Hälfte dem kleinen Milieu westukrainischer Nationalisten entstammt, nach Janukowytschs Flucht aus Kiew kein Maß kannte. Der verhängnisvollste Fehler war die Aufhebung des Sprachengesetzes von 2012, der vielleicht einzigen vernünftigen Maßnahme aus den vier Janukowytsch-Jahren. An europäischen Standards orientiert, erlaubte das Dekret den offiziellen Gebrauch von Minderheitensprachen auf regionaler Ebene. Dass es sofort nach dem 22. Februar kassiert wurde, erniedrigte die Bürger russischer Muttersprache und leistete einer – wie sich zeigen sollte – unaufhaltsamen Krim-Sezession Vorschub. Je nach Zählweise stellen Russen ein bis zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung. Interimspräsident Turtschynow versprach zwar, sein Veto gegen die Aufhebung des Janu-kowytsch-Dekrets einzulegen, aber da war das Kind schon in den Brunnen gefallen.Die Verfolgung ging weiter. MychajloDobkin, Kandidat der Partei der Regionen für die Präsidentenwahl Ende Mai, wurde unter Hausarrest gesetzt. Nur noch leicht überzogen wirkte in dieser hitzigen Atmosphäre die Forderung, die Partei überhaupt und dabei auch gleich die Kommunisten zu verbieten. Sie kam vom siegreichen Rechten Sektor, dessen Chef Dmitrij Jarosch sich von einem Wehrsport-Hansel zu einer Ausnahmefigur der ukrainischen Politik gemausert hat: Als wenig aussichtsreicher Präsidentschaftsbewerber vertritt Jarosch als einziger das Konzept einer souveränen Ukraine. Der Führer einer Bewegung, die als Protest für die EU-Assoziierung begann, lehnt einen EU-Beitritt der Ukraine inzwischen ab. Begründung: „Die Ukraine muss Subjekt, nicht Objekt von Geopolitik sein.“ Einstweilen allerdings beschleunigt die Krim-Politik des russischen Präsidenten die Aufteilung des Objekts.Schwindelerregender PreisDer Sommer 2012, als Putin auf Staatsbesuch zu Janukowytsch nach Jalta kam, erscheint nun in einem merkwürdigen Licht. Putin demütigte seinen damaligen Gastgeber, indem er ihn geschlagene vier Stunden in jener Residenz warten ließ, in der Anfang Februar 1945 das kriegsversehrte Europa zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion aufgeteilt wurde. Russlands Präsident hatte sich auf dem Weg mit Motorradfahrern und deren harten Bräuten verplaudert.Dass nunmehr die Krim von Russland übernommen wird, sieht sinister und imperialistisch aus, bedeutet aber in Wirklichkeit die Abkehr von Imperialismus. Putin gibt offenkundig die Ambition auf, den gesamten postsowjetischen Raum zu inte-grieren oder gar als konservative Führungsfigur bis nach Europa auszustrahlen. Er reduziert Russland auf ein Kerngebiet von Regionen, in denen die Menschen russisch sprechen und fühlen. Muss er gleichzeitig Integrationsprojekten wie einer Eurasischen Zollunion entsagen, wenn dafür als Partner nur Weißrussland und Kasachstan in Betracht kommen, nicht aber die Ukraine?Russland nimmt sich einen Mindestanteil – vier Prozent von Territorium und Bevölkerung der Ukraine. Der Westen bekommt den ganzen Rest, den Markt, die Schwerindustrie und den Bergbau in der Ostukraine, dazu die Schwarzerde-Böden, deren Ernte über den Weltmarktpreis für Weizen entscheiden kann. Russland zahlt für die vier Prozent einen schwindelerregenden Preis. Es riskiert internationale Ächtung, das Leben seiner Soldaten und möglicherweise den Ruin der Ferieninsel.Der Westen geht für seine 96 Prozent so gut wie kein Risiko ein. Menschenleben setzt er nicht aufs Spiel und im Unterschied zu früher sehnt sich dieser Staat ohne funktionierende Armee nun sogar nach der NATO. Von den angekündigten Finanzhilfen aus dem Westen – ohnehin bescheiden und bei weitem nicht ausreichend – ist noch nichts geflossen. Als Anzahlung ist eine Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Ukraine unterwegs, um zunächst einmal den Reformbedarf zu ermitteln.