Wie das Leben in Sankt Petersburg ist? „Früher war es stabil“, meint Sergej. „Meinen Sie bei Breschnew?“ frage ich. „Auch später bei Andropow“, antwortet der 52-Jährige. Damals, in den frühen achtziger Jahren, habe es Stabilität gegeben. Heute sei Russland davon weit entfernt. Natürlich gab es damals keine Freiheit, aber man wusste, was morgen kommt. „Als dann Gorbatschow kam, haben die Kommunjaki unser Land verspielt. Wer eine Fabrik klauen konnte, der hat sie geklaut. Der Rest konnte zusehen, wo er bleibt.“
Bei den Russen über 50, erst recht aber bei denen über 60, hört man häufig solch bittere Worte. Dabei besitzt Sergej eine Wohnung im Zentrum der Newa-Stadt, und sogar eine Datscha in deren
a in deren Umgebung. Trotzdem ist er unzufrieden. Wenn er 2019 mit 60 in Pension geht, wird er nur 6.000 Rubel (etwa 146 Euro) Rente im Monat erhalten. Damit komme er kaum über die Runden, klagt der grauhaarige Mann. Für welche Partei Sergej bei den Duma-Wahlen am 4. Dezember stimmt, will ich noch wissen. „Die Kommunisten?“ – „Nein“, meint Sergej. „Die Kommunisten und Schirinowskis Liberaldemokraten, die spielen doch nur Opposition, ohne es zu sein. Ich wähle Jabloko.“ Gemeint ist die sozialliberale Partei von Grigori Jawlinski, die auf Deutsch Apfel heißt. Sie war bis 2003 mit einer kleinen Fraktion in der Duma vertreten. Nun könnte die Partei mit ihrem Programm für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und den Schutz des Privateigentums in den Großstädten Proteststimmen einsammeln, käme sie denn im Fernsehen mehr zu Wort.Unter den Jugendlichen in St. Petersburg kursieren die ersten Witze über Putin und seine Partei Einiges Russland. Das Internet ist voller hämischer Video-Clips. Parteichef Putin wird angekreidet, dass er die Folgen der Finanzkrise nicht besser abfedern konnte. Bisher mussten Minister und Spitzenbeamte diesen Unmut auffangen, doch trifft der inzwischen auch den Premier. Bei einem Auftritt in der Moskauer Olimpiski-Arena, die unter dem Motto Kampf ohne Regeln steht, wird Putin Ende November erstmals in seinem politischen Leben ausgepfiffen. Noch liegt die Zustimmung für den designierten Staatschef laut Meinungsforschungsinstitut Lewada mit 66 Prozent relativ hoch – vor einem Jahr allerdings kam er auf 77 Prozent. Auch die Sympathien für Einiges Russland, das im Internet zuweilen mit dem Spitznamen „Partei der Diebe und Gauner“ bezeichnet wird, geht zurück. Putins Ansinnen, Einiges Russland durch eine „Volksfront“ wieder mehr Leben einzuhauchen, ist wohl gescheitert.Unverblümter Stimmenkauf Die Kommunisten von Gennadij Sjuganow und Wladimir Schirinowskis Liberaldemokraten versuchen unverdrossen, sich als Oppositionsparteien in Szene zu setzen. Sie haben zu viel versprochen und zu wenig erreicht, was ihnen – von den Stammwählern abgesehen – keinen leichten Stand beschert.Ein sicheres Ticket für die Duma verspricht das Bekenntnis, etwas „für die Russen“ und für mehr soziale Gerechtigkeit zu tun. Entlang der Fernverkehrsstraße M7 zwischen Moskau und Nischni-Nowgorod stehen riesige Plakate des Ultranationalisten Schirinowski mit dem Slogan: Für die Russen! Daneben das grimmige Gesicht des staatlich geförderten Nationalisten, der den Rechtsradikalen, die „Russische Märsche“ gegen kaukasische Gastarbeiter organisieren, das Wasser abgraben soll. Dazu gibt Schirinowski den Rächer der sozial Erniedrigten und Beleidigten. Am Litejnyj-Prospekt von St. Petersburg hängen überall Poster mit der Aufschrift Man hat Ihnen alles genommen, außer der Stimme. Neben diesem Slogan steht Schirinowski mit ausgestrecktem Arm und weist in Richtung Wahlkabine.Nicht nur das nationalistische Raunen der Liberaldemokraten, auch das Versprechen der KP, die Rohstoff-Unternehmen wieder zu verstaatlichen, verheißt Wählerstimmen. Ganze Häuserfronten in Moskau bedecken Wahlplakate mit der Aufschrift: Wir holen das Geraubte zurück! Im Hintergrund schwebt schemenhaft die Silhouette eines sowjetischen Stahlwerkes.Unzufriedenheit mit der Partei der Macht hat inzwischen die Duma erreicht. Dort holt der Abgeordnete Gennadij Gudkow – Mitglied der Fraktion von Gerechtes Russland – zum Rundumschlag gegen Einiges Russland aus. „Das sollen Wahlen sein?“ höhnt der stellvertretende Vorsitzender des Duma-Sicherheitsausschusses und Oberst a.D. des Inlandsgeheimdienst FSB. Es gibt mürrische bis empörte Zwischenrufe aus den Reihen von Einiges Russland, die Gudkow nicht darin beirren, seinem Ärger freien Lauf zu lassen. Sicher habe die Kreml-Partei ein Wählerpotenzial von 30 Prozent, „aber nicht von 70“. Das für sie „richtige Wahlergebnis“ wolle die Partei Einiges Russland nach der Karussell-Methode erreichen, bei der Leute mit so genannten „Wahlberechtigungsscheinen“ in Autobussen von Wahllokal zu Wahllokal gefahren werden und mehrfach ihre Stimme abgeben.Gudkow berichtet, dass die Zentrale Wahlkommission für die Wähler, die am Wahltag nicht an ihrem Heimatort abstimmen können, 2,6 Millionen derartiger Scheine gedruckt habe. Diese Bürger würden teilweise aufgefordert, ihren Wahlzettel am Arbeitsplatz unter den Augen der Chefs auszufüllen. Außerdem habe man Mitgliedern örtlicher Wahlkommissionen 2.000 bis 3.000 Dollar versprochen, wenn sie das „richtige Ergebnis“ abliefern. Derartige Vorwürfe sind nicht neu und sorgen im Plenarsaal für Unruhe. Schon bei früheren Duma-Wahlen haben die Oppositionsparteien derartige Praktiken beklagt.„City-Manager“ Agaschin Gudkow schließt seinen Angriff auf die Partei der Macht mit der Prognose, dass „selbst ein Hase, den man in die Ecke drängt, zum wilden Tier“ wird. Eine Warnung, es mit der Wahlmanipulation nicht zu übertreiben. Sonst, so glaubt Gennadij Gudkow, werde man „das Volk auf die Straße holen“. Mit öffentlichen Protesten droht nicht nur Gudkow. Auch Liberale, Links- und Rechtsradikale haben für den Abend des Wahltages bereits zu Märschen durch die Moskauer Innenstadt aufgerufen. Dass solche Kundgebungen genehmigt werden, ist unwahrscheinlich. Erfahrungsgemäß wird die Sondereinheit Omon wichtige Plätze besetzen. Zudem hat die Kreml-nahe Jugendorganisation Naschi (Die Unseren) angekündigt, ihrerseits 30.000 Anhänger aus dem Umland in die Hauptstadt zu holen.Im Internet findet man Belege für die Anklagen des Abgeordneten Gudkow, zum Beispiel durch den Skandal um Denis Agaschin, seines Zeichens „City-Manager“ im zentralrussischen Ischewsk. Auf einem Meeting mit Kriegsveteranen im Leninski-Bezirk hat Agaschin ganz offen erklärt, die Höhe der Zuwendungen für sie hänge davon ab, wie am 4. Dezember Einiges Russland abschneide. Ein Rayon, in dem „unter 50 Prozent der Wähler“ für die Präsidenten-Partei stimmen, könne nun einmal nicht mit soviel finanziellem Beistand rechnen wie einer, dessen Rate bei 60 Prozent liege. Als einige Veteranen riefen: „Das ist gegen die Verfassung!“ – entgegnete Agaschin. Keineswegs, immerhin sitze er im Zentralen Rat der Partei Einiges Russland. Was vermutlich so viel heißen sollte wie: Wo die Partei ist, wohnt auch das Recht.Der Video-Mitschnitt mit dem Auftritt des „City-Managers“ wurde mit 339.000 Klicks schnell zum Internet-Hit. Die KP und Jabloko erklärten, dessen Aussagen müssten rechtliche Konsequenzen haben, Einiges Russland teilte lakonisch mit, man habe mit der Sache nichts zu tun und Agaschin aus eigenem Antrieb gehandelt.Sieben Parteien haben sich für den Urnengang registrieren lassen, doch dürfte die Sieben-Prozent-Hürde dafür sorgen, dass nur die Gruppierungen in die künftige Duma einziehen, die auch in der zurückliegenden Legislaturperiode dort saßen. Nach den Umfragen des Lewada-Instituts kann Einiges Russland mit 57 bis 59 Prozent der Stimmen rechnen, gefolgt von den Kommunisten mit 18, den Liberaldemokraten mit neun und den Sozialdemokraten von Gerechtes Russland mit sechs Prozent. Ohne Sitze in der Duma bleiben vermutlich die Sozialliberalen von Jabloko, denen die Meinungsforscher ein Prozent der Stimmen zuordnen, die Linksnationalen von den Patrioten Russlands (ein Prozent) und die vom Kreml geschaffene liberale Partei Rechte Sache, die Auffangbecken für die kritische, außerparlamentarische Mittelschicht sein soll (Prognose: 3,0 Prozent).
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.