Ausgabe April 2012

Solidarisches Sanieren

Mit Umverteilung gegen Staatsverschuldung

Die Debatte über die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist fast so alt wie die Bundesrepublik selbst. Und doch hat man die Frage danach, auf welchem Weg ein ausgeglichener Staatshaushalt geschaffen werden soll, jahrzehntelang immer gleich beantwortet. Auf fast jeden Haushaltsengpass, jede Rezession und jede Finanz- oder Staatskrise wurde mit der Aufnahme neuer Schulden reagiert. Das Ergebnis ist in der Tat bemerkenswert: Die Bundesrepublik Deutschland stand zum Jahresende 2011 mit dem sagenhaften Betrag von rund 2,03 Billionen Euro bei ihren Gläubigern in der Kreide.[1] Unsere Kinder und Kindeskinder, so der Vorwurf, müssten noch auf Jahrzehnte für den dekadenten Lebensstil der vorherigen Generationen zahlen. Gar „über unsere Verhältnisse“ hätten wir gelebt. Aus diesem Grund sei es nur richtig und vor allem fair, dass endlich Schluss ist mit dem prallen Leben auf Pump. Um von dem immensen Schuldenberg wieder herunterzukommen, helfe nur ein strikter Sparzwang. Gelingen soll dies mithilfe einer verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse. Zur Erinnerung: Anfang 2009 hat eine Föderalismuskommission aus Vertretern von Bundestag und Bundesrat verbindliche Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits gemacht, um die Staatsverschuldung Deutschlands zu begrenzen.[2] Nach dieser Regelung soll ab dem Jahr 2016 die jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes (bei Ausnahmeregelungen) maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen. Für die Länder wird die Nettokreditaufnahme ab 2020 ganz verboten.

Wenn Sparen aber nur so einfach wäre. Die meisten seriösen Prognosen sagen vorher, dass besonders im Gesundheits- und Pflegebereich, aber auch im Schulwesen, der Jugendarbeit und Alterssicherung in den kommenden Jahren immense Mehrausgaben nötig sein werden, will man auch nur halbwegs den gegenwärtigen Standard halten. Von einer Verbesserung der Situation (dringend benötigt zum Beispiel in der Pflege) ganz zu schweigen. Steigende Ausgaben bei sinkenden Einnahmen zu begleichen, das klingt nach der berühmten Quadratur des Kreises. Sicherlich: In unserem Sozialsystem gibt es noch Einsparpotential (etwa im Gesundheitsbereich). Sparen, so richtig es auch grundsätzlich sein mag, kann aber nur die halbe Wahrheit sein. Wer Neuverschuldung verhindern will, muss auch den Mut haben, nach anderen Einnahmequellen zu suchen. Und wer glaubt, er könne der öffentlichen Verschuldung lediglich durch eine restriktivere Ausgabenpolitik begegnen oder gar vermeintliche Effizienzreserven ausbeuten, der nimmt in Kauf, dass das ohnehin schon fragile und erodierte Sozialgefüge unserer Gesellschaft endgültig zerbricht.

Steigende Schulden, steigende Vermögen

Doch bleiben wir zunächst bei den leidigen Fakten. Der Schuldenberg der Bundesrepublik beträgt inzwischen über 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also über vier Fünftel des Gesamtwerts aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in Deutschland produziert wurden. Dieser Berg ist nicht über Nacht entstanden, sondern über die letzten Jahre und Jahrzehnte hinweg erheblich angewachsen. Hatte die Bundesrepublik im Jahr 2001 noch eine Verschuldung von 1,2 Billionen Euro, so ist diese in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen und erreicht unter anderem aufgrund der Verwerfungen auf den Finanz- und Kapitalmärkten (und den damit einhergehenden Bankenrettungsplänen und Konjunkturpaketen) in den Jahren 2008/09 das heutige Allzeithoch – das entspricht einem Anstieg von über 70 Prozent allein in den letzten zehn Jahren.[3] Unzweifelhaft sind das besorgniserregende Tendenzen.

Handelt es sich also um eine ausweglose Situation, ist die Merkelsche Austeritätspolitik namens Schuldenbremse gar „alternativlos“? Mitnichten. Den Kassandrarufen derjenigen zum Trotz, die den Haushalt mittels Kahlschlag sanieren wollen, gibt es nämlich auch gute Nachrichten. Stellt man dem Verschuldungsbetrag das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland gegenüber, so relativiert sich die Summe beträchtlich. Laut Berechnungen der Bundesbank betrug das Geldvermögen der Deutschen im Jahre 2011 rund 4,7 Billionen Euro.[4] Geld- und Immobilienvermögen der Deutschen summieren sich gar auf zehn Billionen Euro. Zum Vergleich: Das wäre genug Vermögen, um die Verbindlichkeiten aller EU-Länder auf einmal zu übernehmen.[5] Interessant dabei ist auch, dass diese Zahl deutlich schneller wächst, als die öffentliche Verschuldung. Selbst der kurze (und sanfte) Rückgang des privaten Geldvermögens während der Finanzkrise 2008 ist längst überwunden. Sicherlich auch, weil der vermögende Teil der Deutschen wieder vermehrt aufs Sparen setzte. So konnte die Sparquote, die angibt, wie viel Prozent ihres Einkommens private Haushalte im Durchschnitt auf die hohe Kante legen, im Jahr 2008 auf das höchste Niveau seit 1993 (11,7 Prozent) klettern, im Jahr 2011 betrug sie immerhin noch 11 Prozent.[6]

Privates Geldvermögen mag im Einzelfall sehr angenehm sein. Das Problem ist, dass es ungeheuer ungleich innerhalb der Gesellschaft verteilt ist. So suggeriert auch die Sparquote, dass die Deutschen ihr Geld brav zur Bank bringen: Im Schnitt verfügte eine Person über 17 Jahren 2007 laut des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung(DIW) in Berlin über ein individuelles Nettogesamtvermögen von rund 88 000 Euro.[7] Dass dies jedoch auf den allergrößten Teil der Bevölkerung nicht zutrifft, dürfte offensichtlich sein. Durchschnittswerte sind daher von begrenzter Aussagekraft. Teilt man aber die Gesellschaft in zehn Einkommensklassen ein, in sogenannte Dezile, so zeigt sich, dass die drei obersten Dezile im Jahr 2007 über 91 Prozent des Gesamtvermögens unserer Gesellschaft auf sich vereinen.[8] Dem Rest der Bevölkerung bleiben knappe 9 Prozent, um es unter sich aufzuteilen. Blickt man noch genauer hin, wird deutlich, dass allein die obersten zehn Prozent im Jahr 2007 über 61 Prozent des Vermögens unter sich aufgeteilt haben. Das unterste Zehntel, zum Vergleich, hat sogar im Schnitt rund 1000 Euro Schulden.

Besonders die Tendenz ist besorgniserregend. Vergleicht man etwa die Jahre 2002 und 2007, kann man eine immer ausgeprägtere Konzentration des Vermögens auf die einkommensstarken Bevölkerungsschichten ablesen. Während fast alle Einkommensdezile von 2002 bis 2007 relativ an Reichtum abgeben mussten, konnten die reichsten zehn Prozent ihre Vermögensposition nicht nur festigen, sondern auch noch deutlich ausbauen.

Zusammengefasst sind also drei Faktoren von zentraler Bedeutung für die zukünftige Haushaltspolitik: erstens eine immense öffentliche Verschuldung von rund zwei Billionen Euro, der zweitens ein privates Geldvermögen von fast fünf Billionen Euro gegenübersteht. Der dritte Faktor ist die Verteilung des Vermögens auf die Bevölkerung. Diese ist zumindest bedenkenswert, darüber hinaus ist sie ein deutlicher Ausdruck dafür, dass im Sozialgefüge etwas nicht stimmen kann. Dass eine solch einseitige Konzentration der Vermögensverhältnisse auch dazu beitragen kann, ein demokratisches System in eine reale Krise zu stürzen, zeigte sich bei den Protesten der jüngeren Vergangenheit in Ländern wie England, Griechenland oder auch in Frankreich.

Die Ursachen der Schuldenproblematik

Ein solches Ungleichgewicht in der Vermögensverteilung hat komplexe und langfristig entstandene Ursachen. Zum einen sind die Löhne und Gehälter maßgeblich ausschlaggebend dafür, wie viel in einer Volkswirtschaft konsumiert und gespart werden kann. In einer Studie der International Labour Organization, die die Entwicklung der Löhne und Gehälter von 2000 bis 2009 im internationalen Vergleich darstellt, steht Deutschland weit abgeschlagen an letzter Stelle.[9] Demnach haben die Löhne und Gehälter im genannten Zeitraum inflationsbereinigt sogar um 4,5 Prozent abgenommen. Interessanterweise ist die Arbeitsproduktivität im gleichen Zeitraum in der Summe massiv gestiegen.[10] Die Angestellten und Arbeiter müssen also heute deutlich mehr Leistung pro Person und Stunde erbringen und bekommen gleichzeitig deutlich weniger Geld als noch vor zehn Jahren.

Genau diese Lohndrückerei wird den Deutschen von den europäischen Nachbarstaaten auch regelmäßig vorgeworfen: Durch Nullrunden und Zurückhaltung bei der Lohnentwicklung konnten in der Bundesrepublik Waren äußerst konkurrenzfähig für den Export produziert und auf dem Weltmarkt abgesetzt werden. Währenddessen müssen die Nachbarstaaten Kredite aufnehmen, um die Importe finanzieren zu können. Zudem wirkt sich die Lohnzurückhaltung gerade bei den kleinen und mittleren Einkommen direkt auf die Vermögensbildung aus. Die hohen und sehr hohen Einkommensschichten leiden hingegen kaum unter Lohnzurückhaltung, im Gegenteil: Dort ist meistens sogar so viel Geld vorhanden, dass ein beträchtlicher Teil des Gehalts auf die Bank gebracht oder investiert werden kann (sofern überhaupt noch ein Einkommen durch ein Gehalt bezogen wird). Dementsprechend ist die Sparquote in diesen Haushalten hoch und das Vermögen der Wohlhabenden wächst weiter an.

Wir haben noch nie geteilt

Die andere Seite der Medaille ist die Einnahmenpolitik. Wenn zu wenig Geld in der Kasse ist, hat dies womöglich auch mit einer verfehlten Steuerpolitik zu tun. In einer Simulationsanalyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung wurde berechnet, welches Steueraufkommen wir in Deutschland hätten, wenn noch die Steuergesetze des Jahres 1998 gelten würden.[11] Demnach wären allein im Jahr 2010 über 50 Mrd. Euro mehr an Steuereinnahmen in der Staatskasse. Nimmt man die sich aus diesem Vergleich ergebenden Steuerausfälle seit dem Jahr 2000 zusammen, kommt man auf eine Summe von über 335 Mrd. Euro.

Was also ist passiert?Unter anderem wurde der Höchstsatz der Einkommensteuer in relativ kurzer Zeit von über 50 auf 42 Prozent gesenkt, die Kapitalertragssteuer wurde ebenfalls noch einmal deutlich auf 25 Prozent gesenkt.Erheblich abgesenkt hat man auch die Körperschaftssteuer, nämlich von 25 auf 15 Prozent. Die Liste könnte unter anderem um Steuererleichterungen für die Hotelbranche und bei Veräußerungsgewinnen auf Kapitalerträge fortgeführt werden. Das Ungleichgewicht im Staatshaushalt ist also hausgemacht.[12]

Ursächlich für die gegenwärtige Schuldenproblematik ist schließlich die Art und Weise, wie in der bundesrepublikanischen Vergangenheit mit ähnlichen Krisen umgegangen wurde. Dazu lohnt sich ein Blick auf den Verlauf der Staatsschuldenquote, also dem Verhältnis der Staatsschulden zur Wirtschaftskraft (Bruttoinlandsprodukt). Diese relative Zahl ist für eine Volkswirtschaft erheblich aussagekräftiger als die Gesamtsumme der Schuldenlast. Um das Problem zu verdeutlichen, hilft ein Blick nach Italien: Das Land hat in der Summe wesentlich weniger Schulden als die Bundesrepublik, aber dort beträgt die Staatsschuldenquote rund 120 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Daraus ergeben sich weitreichende negative Konsequenzen für die italienische Volkswirtschaft.

In Deutschland lag die Staatschuldenquote zu Beginn der 1970er Jahre noch auf einem harmlosen Niveau von knapp 20 Prozent. In der Folgezeit ist sie kontinuierlich gestiegen und hat besonders in Krisenzeiten deutlich zugenommen. Beispiel Ölkrise: Anfang der 70er Jahre kam es durch die Öl-Zurückhaltung der Mitgliedstaaten der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) zu einer enormen und so nicht erwarteten Preiserhöhung auf Kraftstoffe. Dies schlug sofort auf die allgemeine Preisentwicklung durch, das Resultat war eine grassierende Inflation. Parallel dazu kam es erstmalig wieder zu einem nennenswerten Anstieg der Arbeitslosigkeit, die man eigentlich schon überwunden geglaubt hatte. Um diesen Tendenzen gegensteuern zu können, wurden erhebliche Konjunkturprogramme gestartet, die mit Krediten finanziert wurden. Doch anders als bei Privatkrediten wurden diese Schulden nie zurückgezahlt, stattdessen verharrte man auf dem erhöhten Staatsschuldensockel bis zur nächsten Krise. Die anschließenden Phasen enormer Kreditaufnahmen waren die zweite Ölkrise Ende der 70er Jahre, die mit einer stagnierenden industriellen Produktion und einem spektakulären Anstieg der Arbeitslosenzahlen einherging. Einen weiteren großen Sprung machte die Staatsverschuldung dann Anfang der 90er Jahre im Zuge der Deutschen Einheit. Diese wurde praktisch komplett durch die Plünderung der Sozialversicherungen und auf Pump finanziert, zum einen also durch die finanzielle Überforderung der sozialen Sicherungssysteme und zum anderen durch ein Finanzierungspaket namens „Fonds Deutsche Einheit“, der bis Ende 1994 umgerechnet rund 82 Mrd. Euro ausgeschüttet hatte.[13] Der letzte und massivste Anstieg der Staatsschuldenquote ergab sich durch die Bankenkrise und die damit verbundenen Konjunkturprogramme und Bankenrettungspläne.

Im Grunde sagt die stetig steigende Entwicklung der Staatsschuldenquote zweierlei aus: Erstens bekämpften die jeweiligen Bundesregierungen Wirtschafts- und Haushaltskrisen immer, indem sie sich auf dem internationalen Markt Geld liehen. Und zweitens stellt sich die Erkenntnis ein, dass egal welche Herausforderung unserer Gesellschaft in den letzten 40 Jahren bevorstand – und seien es historisch einmalige Ereignisse wie die Wiedervereinigung – diese nie dazu geführt haben, dass der existierende Wohlstand geteilt wurde. Wenn in Deutschland vom Teilen gesprochen wurde, dann meinte man damit ausschließlich, die Zugewinne aufteilen zu wollen. Aber nie wagte man ernsthaft, die Substanz, sprich das unmittelbar vorhandene Vermögen, anzutasten. Solidarität hat in der Bundesrepublik also bisher nur wenig mit Abgeben oder gar Teilen zu tun, damit ist, wenn überhaupt, nur eine Verteilung der Mehreinnahmen gemeint – einmal abgesehen von der geringen Vermögensteuer bis 1997 und wohltätigen Spenden. Eine Unterstützung der Schwachen durch die Starken, eine Solidarität also, die ihren Namen verdient und nicht zur Phrase verkommt, wird in unserem Land seit langem schon nicht mehr eingefordert.

Solidarität bedeutet Vermögensumverteilung

Angesichts des inzwischen auf ein ernstzunehmendes Maß angewachsenen Schuldenbergs und ausgehend von der Erkenntnis, dass dieser durch Sparen allein nicht ohne bleibende Flurschäden im Sozialgefüge unserer Gesellschaft abgebaut werden kann, müssen wir uns mit Alternativen befassen. Wir müssen uns also wieder die volkswirtschaftliche Gretchenfrage stellen: „Nun sag, wie hältst du es mit dem Vermögen?“

Zunächst gilt es jedoch, mit einigen Märchen aufzuräumen, zum Beispiel mit dem Gerücht, eine höhere Vermögensbesteuerung würde zu einem Exodus der wohlhabenden Bevölkerungsschichten führen. Im internationalen Vergleich ist Deutschland keinesfalls ein Hochsteuerland. Länder wie die USA, Großbritannien oder Frankreich – aber gerade auch vermeintliche Steueroasen wie Luxemburg und die Schweiz – haben prozentual zu ihrem Bruttoinlandsprodukt ein deutlich höheres Aufkommen vermögensbezogener Steuern als die Bundesrepublik. Bereits eine Anhebung auf das durchschnittliche Belastungsniveau der Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der 15 bereits vor ihrer Osterweiterung 2004 zur EU gehörigen Staaten (EU-15) könnte ein Steuermehraufkommen von 25 Mrd. Euro im Jahr generieren.[14]

Welche Steuerarten haben außerdem Potential für Mehreinnahmen? Zunächst einmal ist da die Erbschaftsteuer. Nach Studien des Deutschen Instituts für Altersvorsorge werden in der Bundesrepublik in den nächsten zehn Jahren 2,6 Billionen Euro vererbt.[15] Diese gigantische Summe wird jedoch ebenfalls extrem ungleich über die Gesellschaft verteilt werden. Der Soziologe Jens Beckert konstatiert: „Zwar hat bereits über die Hälfte aller deutschen Haushalte eine Erbschaft erhalten oder erwartet eine solche. Doch nur bei 2,5 Prozent wird ein Vermögen von über einer halben Mio. Euro hinterlassen. Über zwei Drittel aller Erbschaften liegen unter 50 000 Euro.“[16]

Auch aus demographischer Sicht ist eine stärkere Umverteilung der Erbschaften heute und in Zukunft immer wichtiger. Der ursprüngliche Sinn des Erbrechts war es, gewachsene Vermögensbestände im Todesfall wieder aufzulösen und sie nicht weiter auf eine Person zu konzentrieren. In der Bundesrepublik, in der im statistischen Schnitt zwei Personen auf 1,4 Personen vererben, konzentriert sich das Vermögen auf einen immer kleiner werdenden Personenkreis. Wenn diese Personen dann auch noch aus gesellschaftlich ähnlichen Verhältnissen stammen, verstärkt sich dieser Effekt noch. Bei der Frage, wer wie viel erbt, spielen neben der gesellschaftlichen Schicht auch Bildungsabschluss und regionale Herkunft eine bedeutende Rolle.[17] Dennoch wird die Erbschaftsteuer zurzeit kaum als Umverteilungselement genutzt: Die aus ihr generierten Staatseinnahmen sind zum jetzigen Zeitpunkt mit rund fünf Mrd. Euro (2009) marginal.[18] Da der Spitzensatz der Erbschaftssteuer für enge Verwandte unter dem Höchstsatz der Einkommenssteuer liegt, reduziert die Erbschaftssteuer überdies die Progressivität des Steuersystems. Hätten wir ein reales Erbschaftsteueraufkommen von wenigstens zehn Prozent, dann hätten wir in den nächsten zehn Jahren Finanzmittel im Wert von 260 Mrd. Euro mehr im Haushalt. Trotz allem wird eine Erhöhung der Erbschaftsteuer seit langem hart bekämpft. Wir müssen als Gesellschaft aber entscheiden, ob uns eine gerechte Besteuerung auf letztlich anstrengungslosen Wohlstand angemessen erscheint oder nicht.

Der zweite Punkt betrifft die Vermögensteuer. Diese existierte in Deutschland auf geringem Niveau bis zum Jahr 1997, dann wurde sie von der Regierung ausgesetzt. Der Grund war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im selben Jahr, das die Besserstellung von Immobilien im Vergleich zu anderen Vermögen für verfassungswidrig erklärte. Doch anstatt Immobilien höher zu bewerten bzw. deren Wert neu bestimmen zu lassen, entschied sich die damalige Bundesregierung, die Vermögenssteuer auszusetzen. Andere Länder, zum Beispiel Frankreich, haben durchaus noch eine solche Steuer, um Verteilungspositionen zu korrigieren und sie fahren sehr gut damit. Da es sich um eine Substanzsteuer handelt, hat die Vermögenssteuer jedoch viele Kritiker, denn sie besteuert keine Mehreinnahmen sondern real vorhandenes Vermögen. Geldvermögen ist rechtlich jedoch nicht per se von Besteuerung ausgenommen. Zwar lautet Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet (…).“ Doch der folgende Absatz 2 stellt klar: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Gegner der Vermögensteuer halten dagegen, eine solche Steuer würde allein bis zu 20 Prozent der Einnahmen dafür verschlingen, den Wert der Vermögensgegenstände festzustellen.[19] Doch selbst wenn dem so wäre, wovon längst nicht jede Studie ausgeht,[20] bliebe immer noch eine steuerliche „Rendite“ von 80 Prozent. Und von den „Ausfällen“ würden zumindest zu einem Teil Arbeitsplätze geschaffen, deren Aufgabe es wäre, den Wert der Vermögensgegenstände festzulegen.

Will man also die oben beschriebenen Verteilungsungerechtigkeiten korrigieren und das Vermögen dem Wohle der Allgemeinheit zukommen lassen, so bleibt einem kaum eine andere Wahl, als direkt das Substanzvermögen der Reichen und Superreichen zu besteuern. Selbst bei geringer prozentualer Besteuerung und hohen Freibeträgen würde die Steuer nach Berechnungen des DIW Mehreinnahmen in Höhe von zehn Mrd. Euro einbringen[21] – genug Geld für eine sachgerechte und menschenwürdige Reform der Pflegeversicherung und eine Bekämpfung der Altersarmut auf einen Streich.

Schließlich könnte auch die Finanztransaktionssteuer Geld in die staatlichen Kassen spülen: Laut Berechnung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland würde selbst eine Minibesteuerung von 0,01 Prozent ebenfalls zu Mehreinnahmen von über zehn Mrd. Euro führen. [22]

Allein durch die drei hier genannten Steuerarten könnten die negativen Effekte einer Schuldenbremse ausgeglichen werden. Dabei geht es keinesfalls nur um die Umverteilung hin zu den sozial Schwachen. Durch Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, der öffentlichen Infrastruktur und der allgemeinen Versorgung hätte der Großteil unserer Gesellschaft zu leiden. Nur diejenigen, deren Vermögen ausreicht, um in weiten Teilen nicht auf die öffentliche Infrastruktur angewiesen zu sein – also der geringe Prozentsatz derjenigen Bürgerinnen und Bürger, der weder auf staatliche Schulen noch auf eine allgemeine Gesundheitsversorgung angewiesen ist –, könnten solche Einschnitte kompensieren. Der große Rest wird dagegen das grundgesetzlich verankerte Spargebot und den daraus resultierenden Verteilungskampf am eigenen Leibe spüren. Politik und Zivilgesellschaft müssen sich daher wieder stärker für die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zum Wohle aller einsetzen. Andernfalls droht die soziale Spaltung. Die Oppositionsparteien haben sich in der Vergangenheit teilweise vehement für mehr soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Im Falle ihres Wahlsieges werden sie sich an der Einhaltung ihrer Versprechen messen lassen müssen.

 

[1] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 485, 27.12.2011. 

[2] Vgl. Aktueller Begriff – Die Schuldenbremse des Grundgesetzes, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Nr. 79/09, 5.10.2009. 

[3] Vgl. Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern – Schulden der öffentlichen Haushalte, Wiesbaden 2011. 

[5] Vgl. Deutsche können Schulden der Euro-Zone tilgen, www.spiegel.de, 15.2.2012. 

[6] Vgl. Zeitreihe JJA327: VGR-D-Ges, Konto der privaten Haushalte, Sparquote, www.bundesbank.de. Zum Vergleich: Die Sparquote in den USA betrug mit 3,7 Prozent nur knapp ein Drittel. 

[7] Joachim Frick und Markus Grabka, Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland, „Wochenbericht des DIW Berlin“, 4/2009, S. 54 ff., hier S. 57. 

[8] Vgl. Ebd., S. 59. 

[9] Vgl. International Labour Organisation, Global Wage Report 2010/11 (Datenblatt Deutschland), S. 3. 

[10] Ebd., S. 6. 

[11] Vgl. Hypothek aus Steuersenkungen, in: „Böckler Impuls“, 11/2010. 

[12] Vgl. Ulrich Schneider, Armes Deutschland – Neue Perspektiven für einen anderen Wohlstand, Frankfurt a.M. 2010, S. 82 ff. 

[13] Vgl. Die Bundesregierung, 20 Jahre Deutsche Einheit, S. 56. 

[14] Vgl. Stefan Bach, Vermögensbesteuerung in Deutschland: Eine Ausweitung trifft nicht nur Reiche, in: „Wochenbericht des DIW Berlin“, 30/2009, S. 478. 

[15] Vgl. Deutsches Institut für Altersvorsorge (Hg.), Erben in Deutschland bis 2020, 15.6.2011. 

[16] Jens Beckert, Das ungleiche Erbe, in: „Böll Thema“, 1/2005, S. 28-29.

[17] Ebd.

[18] Vgl. Tabelle: Erbschaftsteueraufkommen seit 1990, in: „Handelsblatt Online“, 10.11.2008.

[19] Vgl. Hermann Rappen, Vollzugskosten der Steuererhebung und Gewährung öffentlicher Transfers, in: „RWI- Mitteilungen“, 40/1989, S. 221-246.

[20] Vgl. Margit Schratzenstaller, Vermögensbesteuerung – Chancen, Risiken und Gestaltungsmöglichkeiten, in: „Wiso Diskurs“, 4/2011, S. 20 ff.

[21] Stefan Bach et al., Modelle für die Vermögensbesteuerung von natürlichen Personen und Kapitalgesellschaften – Konzepte, Aufkommen, wirtschaftliche Wirkungen, Endbericht Forschungsprojekt im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Berlin 2004, S. 105.

[22] Vgl. Andreas Mayert und Gerhard Wegner, Begründung und Ausgestaltung einer Finanztransaktionssteuer, www.ekd.de.

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