Spiegel der Gesellschaft

Wie sich in bestimmten Sportarten auch die kulturelle Identität von Menschen äußert

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Das, was wir heute Sport nennen, gibt es streng genommen erst seit ungefähr 120 Jahren. Zwar wurden bereits im alten Griechenland olympische Wettkämpfe veranstaltet. Doch die fanden mit dem Aufstieg des körperfeindlichen Christentums in der Spätantike ein jähes Ende. Danach dauerte es fast anderthalb Jahrtausende, ehe Menschen erneut Wettkampfsport betrieben, der von Anfang an auch nationalistisch geprägt war. Dazu ein Beispiel aus dem Vorfeld des Ersten Weltkriegs: Als der französische Boxer Georges Carpentier 1913 den in seiner Heimat gefeierten Briten Billy Wells im Schwergewicht nach vier Runden K.o. schlug, wäre daran beinahe das Bündnis zwischen Frankreich und Großbritannien zerbrochen.

Auch späterhin wurden Rekorde und Siege im Sport gern als Zeichen nationaler Überlegenheit gedeutet. Der US-Schriftsteller Paul Auster hält internationale Sportwettkämpfe sogar für eine Art Ersatzkriege, insbesondere im Fußball: »Heute tragen die Länder ihre Schlachten mit Stellvertreterarmeen in kurzen Hosen auf dem Spielfeld aus.« Und obwohl alles nur ein Sportereignis sei, so Auster weiter, schwinge bei solchen Wettkämpfen oftmals die Erinnerung an vergangene Feindschaften mit, höre man bei jedem Tor das Echo alter Siege und Niederlagen: Spanien gegen die Niederlande, England gegen Frankreich, Deutschland gegen Russland.

Auffällig ist überdies, dass bestimmte Sportarten in manchen Ländern Teil des kulturellen Erbes sind, während sie anderswo nur ein Schattendasein fristen. Wie ist das zu erklären? In der Sportpsychologie wird gelegentlich die Vermutung geäußert, dass solche Präferenzen auch in der jeweils herrschenden nationalen Mentalität begründet liegen.

Beispiel USA. Hier pflegt man bekanntlich härtere, sprich maskuline Sportarten, unter denen American Football seit 1972 auf Platz eins der Beliebtheitsliste steht. Dagegen gilt der europäische Fußball, Soccer genannt, weithin als verweichlicht, als Spiel für Frauen, die wiederum beim American Football nur als Zuschauerinnen erwünscht sind. Oder als wild herum hüpfende Cheerleaderinnen. Im Gegensatz dazu wird auf dem Footballfeld männliche Potenz demonstriert, prallen gestählte, scheinbar schmerzfreie (und natürlich offiziell heterosexuelle) Männer aufeinander, die sich gleichsam den amerikanischen Traum erfüllen, durch kompromisslose Härte zum Erfolg zu gelangen.

Eines freilich muss man dem American Football zugutehalten: Während des Spiels wird streng auf Fairness geachtet. Das ist nicht bei allen Kampfsportarten so. Nehmen wir etwa das Wrestling (engl.: Ringen), das gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA erfunden wurde und dort seither große Popularität genießt. Die in einer Art Boxring stattfindenden Kämpfe zwischen zwei (oder mehreren) Athleten enden wie beim klassischen Ringen gewöhnlich damit, dass ein Kontrahent die Schulter des anderen drei Sekunden lang auf den Boden drückt. Auf welche Weise der Sieger dahin kommt, ist nicht festgelegt. Zwar gibt es auch beim Wrestling Regeln; allerdings werden Verstöße dagegen, wenn überhaupt, nur sehr salopp geahndet.

Schon vor dem Kampf ist es üblich, dass sich die Kontrahenten aufs Gröbste beschimpfen. Dann geht es auch im Ring heftig zu Sache. Dabei zeigen die durchtrainierten Profi-Wrestler dem Publikum eine grandiose athletische Darbietung, die aber stets eingebettet bleibt in eine Serie von unfairen Aktionen. Manche Wrestler würgen ihren Gegner fast bis zur Besinnungslosigkeit oder stechen ihm die Finger in die Augen. Andere benutzen herumliegende Gegenstände, etwa Stühle oder Holzlatten, und prügeln damit auf ihre Kontrahenten ein. Im Fall einer drohenden Niederlage kann es auch schon mal vorkommen, dass der Manager des Unterlegenen dessen Gegner von hinten angreift oder festhält. Gleichwohl ist eine Disqualifikation der unfairen Partei nicht zwingend. Denn in den turbulenten Ringschlachten geht oft auch der Kampfrichter K.o. und liegt zuweilen noch reglos am Boden, während der Sieger bereits jubelnd seinen Gürtel schwingt.

Kenner der Szene wissen zwar, dass all dies nur eine perfekt inszenierte Show ist. Außenstehenden fällt es jedoch häufig schwer, dies zu erkennen. Zumal die Kämpfe auch im hiesigen Sportfernsehen so kommentiert werden, als fände im Ring eine echte Auseinandersetzung um Sieg und Niederlage statt. Dazu passend sind die Reaktionen der Zuschauer in der Arena: Lautstark feuern diese ihre Idole an, das vermeintlich offene Match siegreich zu gestalten. Vor allem Kinder heben oder senken nach dem Kampf den Daumen, so als wollten sie jenen römischen Herrschern nacheifern, die mit einer solchen Geste über Leben und Tod eines besiegten Gladiators entschieden.

Die Botschaften des Wrestlings sind unmissverständlich: Sei hart, verschlagen und skrupellos, dann wirst du Erfolg haben. Und wer Erfolg hat, bestimmt, was erlaubt ist. Denn Sieger müssen sich für ihr Tun im Nachhinein nicht rechtfertigen. Es ist vielleicht etwas forsch gefolgert. Aber die Art und Weise, in der viele US-Amerikaner agieren, namentlich als Politiker oder Militärs, erinnert vielfach an ein Wrestling-Duell, bei dem große Teile der Bevölkerung ihren »Helden« zujubeln - wie am 1. Mai 2003, als George W. Bush den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak in voller Kampfmontur für siegreich beendet erklärte. 2004 wurde Bush als US-Präsident wiedergewählt.

Der österreichische Kabarettist und Boxkommentator Werner Schneyder ist überzeugt: »Wrestling wird den Verfassern der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein ganz entscheidendes Thema sein müssen.« Und das gilt vermutlich auch für das 21. Jahrhundert. Allerdings hat das Ringspektakel inzwischen Konkurrenz bekommen: »Ultimate Fighting«. Dieser ebenfalls aus den USA stammende Extremsport findet in einem achteckigen Drahtkäfig auf hartem Untergrund statt. Obwohl die Kämpfer nur dünne, an den Fingern offene Handschuhe tragen, sind gezielte Faustschläge ins Gesicht gestattet. Aber auch sonst dürfen sich die Kontrahenten hemmungslos und bis aufs Blut traktieren. Selbst wenn jemand am Boden liegt, geht der Kampf weiter, gewöhnlich so lange, bis der Unterlegene aufgibt oder kampfunfähig ist. Schneyder sieht im Ultimate Fighting deshalb einen Zivilisationsbruch. Und auch der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer spart nicht mit Kritik: »Wir haben hier eine Situation, in der spielerisch, aber mit letztem Ernst, die Veräußerung von Rechten vorgeführt wird.«

Mehr als andere Kampfsportarten ist Ultimate Fighting ein Spiegel des zügellosen Konkurrenzkampfes in unserer Gesellschaft, bei dem vornehmlich Härte und Rücksichtslosigkeit den Erfolg und damit den sozialen Aufstieg garantieren. Insbesondere bei jungen Menschen löst das Gewaltpotenzial solcher Kämpfe eine große Faszination aus, die auch hierzulande spürbar ist.

Während Wrestling bereits zum festen Programm einiger TV-Sender gehört, werden die Liebhaber des Ultimate Fighting im Netz fündig. Für die meisten Konsumenten derartiger Beiträge ist all das nur sportliche Unterhaltung. Nicht so für Kritiker wie Schneyder. Sie befürchten, dass damit auch Verhaltensmuster in unsere Gesellschaft einsickern, die bislang sozial geächtet waren. In meiner Jugendzeit zum Beispiel wurde jemand, der hilflos am Boden lag, nicht weiter attackiert. Heute wird in solchen Situationen häufig solange weiter geprügelt, bis der Unterlegene sich nicht mehr rührt. Für diese Verrohung der Sitten gibt es im Einzelfall gewiss viele Ursachen. Da Kinder und Jugendliche jedoch am Modell lernen (und überdies oft sportbegeistert sind), wäre es für unsere Gesellschaft fatal, würde man ausgerechnet im Kampfsport die traditionellen Regeln der Fairness lockern.

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