Stumme Revolution

Bei der Klub-WM der Fußballer wurde erstmals die Torlinientechnik eingesetzt, ein Härtetest war es nicht

  • Felix Lill, Yokohama
  • Lesedauer: 4 Min.
Bei der Klub-WM wurde erstmals mit Torlinientechnologie gespielt - ein umstrittenes Tor fehlte in Japan.

Einmal war es fast so weit. Nach einem langen Ball und einem Schuss von Gary Cahill in der ersten Halbzeit des Finales am Sonntag wurde wild vor dem Tor von Cassio gestochert. Unter dessen Körper lag der Ball begraben, entweder knapp vor oder hinter der Linie. Dies musste der Zeitpunkt sein, wenn die deutsche Technologie GoalRef endlich ihr Können demonstrieren könnte: Tor oder nicht? Aber niemand protestierte. Einen Moment später stand der Brasilianer Cassio auf und leitete einen neuen Angriff seiner Corinthians Sao Paulo ein. Am Ende war doch nichts passiert, ganze elf Tage und acht Spiele lang.

»Es funktioniert«, sagte Joseph Blatter, nachdem erstmals in der Geschichte des Fußballs bei der Klub-WM in Japan, die am Sonntag mit dem 1:0-Sieg der Corinthians Sao Paulo über den FC Chelsea endete, mit Torlinientechnologie gespielt wurde. Die Schiedsrichter seien glücklich, dass die Technik umgesetzt worden sei, so der Präsident des Weltverbandes FIFA. In strittigen Situationen entscheiden fortan also moderne Geräte darüber, ob ein Ball hinter der Linie war oder nicht. Das heißt auch, dass Schiedsrichter keine Fehler mehr in solchen Situationen machen können, von denen es viele zu den größten Legenden des Sports gebracht haben.

Der bekannteste Fall ist wohl das »Wembley-Tor«. Im WM-Finale 1966 prallte ein Schuss von Geoff Hurst in der Verlängerung von der Unterlatte für Schiedsrichter und Fernsehkameras nicht sichtbar entweder leicht vor oder hinter die Linie. Der Schiedsrichter wertete den Schuss als Tor zum 3:2, England besiegte Deutschland schließlich 4:2 und wurde Weltmeister. Heute ist bewiesen, dass der Ball nicht hinter der Linie war.

Nach dem irregulären Treffer von Hurst wurde über technologischen Fortschritt immer wieder gestritten. Soll der Fußball wirklich die Fehlbarkeit des menschlichen Auges tolerieren? Zuletzt war die Diskussion bei der WM 2010 erneut entflammt, als der Engländer Frank Lampard, wieder gegen Deutschland, einen Distanzschuss an die Unterlatte setzte. Der Ball kam klar hinter der Linie auf und hätte beim Stand von 2:1 für Deutschland den Ausgleich bedeutet. Aber das Schiedsrichtergespann sah den Treffer nicht.

Seit dieser erneuten Fehlentscheidung hatte es eine zuvor nie dagewesene Unterstützung für einen Videobeweis gegeben. Bei der Europameisterschaft 2012 folgte der bisher letzte strittige Fall, nachdem der Ukraine ein klares Tor gegen England nicht anerkannt worden war. Kurze Zeit nach dem Turnier genehmigte das FIFA-Regelkomitee schließlich die Einführung hochtechnischer Geräte. Kritiker empfinden dies als Maschinisierung des Spiels, der Weltverband nennt die Neuerung eine »leise Revolution«, die in Japan erstmals Wirklichkeit wurde.

Nach einer weltweiten Ausschreibung hat die FIFA monatelang Entwürfe von zehn Unternehmen und Forschungsinstituten getestet. Bei den Proben ging es um Spielsituationen mit verdeckter Sicht, in denen etwa ein Spieler zwischen Kamera und Ball steht, sowie um Schüsse ans Außennetz oder schwierige Wetterbedingungen wie Nebel und Schnee. Das im Tennis bereits erprobte britische System Hawk-Eye sowie die deutsche Entwicklung GoalRef erzielten die besten Testergebnisse.

Bei der Klub-WM kam im Toyota Stadium im Westen Japans das Hawk-Eye zum Einsatz, während in Yokohama, südlich von Tokio, GoalRef wachte. Hawk-Eye arbeitet mit sechs bis acht Hochgeschwindigkeitskameras, die an entscheidenden Stellen im Stadion angebracht sind und anhand ihres Bildmaterials automatisch entscheiden. GoalRef funktioniert dagegen mit Magnetfeldern auf Höhe der Torlinie. Das System erkennt ein Tor daran, dass der Ball, der einen Funkchip enthält, hinter das Magnetfeld gelangt.

Zu einer Art erheiternden Atempause wie im Tennis, wo nach Reklamationen eines Spielers die auch für Zuschauer sichtbare Videoaufnahme des Hawk-Eye häufig von rhythmischem Beifall begleitet wird, kommt es im Fußball nicht. Damit der Spielfluss nicht unterbrochen wird, soll die Technologie innerhalb von einer Sekunde ein Ergebnis liefern. Dieses wird auf die Armbanduhr des Schiedsrichters gesendet. Über die Videoleinwände werden die Zuschauer davon nichts sehen können.

Anhand von Analysen während des Turniers will die FIFA nun Empfehlungen an die nationalen Profiligen schicken, welches System sie für geeigneter hält. Mehrere Ligen sollen schon mit einem Hersteller verhandeln. Eine solide Einschätzung dürfte dabei schwierig werden, denn ein strittiges Tor fiel im gesamten Turnier nicht. »Unsere Analysen sind sehr genau und wir haben viele Daten gesammelt«, sagte zwar FIFA-Medienkoordinator Wolfgang Resch in Tokio. Ob eine der beiden Technologien aber im entscheidenden Moment versagt, wurde in Japan allerdings nicht ersichtlich. Womöglich muss damit bis 2014 gewartet werden. Sowohl beim Konföderationen-Pokal als auch bei der Weltmeisterschaft in Brasilien wird dann mit neuer Torlinientechnologie gespielt. Vorerst ist die »leise Revolution« in Japan aber komplett stumm geblieben.

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